Ein Jahr nach den Protesten – was hat Russland mit Belarus vor?
Vor einem Jahr begannen die Proteste gegen die Wahlfälschungen in Belarus. Dikator Lukaschenka antwortete mit einer Welle harter staatlicher Gewalt, was dazu führte, dass das Land international weiter isoliert und sanktioniert wurde. Es hängt nun völlig von Russland ab – doch ist fraglich, ob der Kreml abgesehen von symbolpolitischen Aktionen eine echte Integration anstrebt, analysiert Artyom Shraibman.
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Die politische Krise in Belarus war zwar zunächst ein innenpolitisches Phänomen, hatte jedoch tiefgreifende außenpolitische Folgen für Minsk. Nach den brutalen Repressionen Aljaksandr Lukaschenkas innerhalb des Landes und einer Reihe von konfrontativen außenpolitischen Maßnahmen, die in der erzwungenen Landung des Ryannair-Fluges zur Verhaftung eines oppositionellen Bloggers gipfelten, schlug der Westen mit vielschichtigen Sanktionen zurück.
Erwartungsgemäß wandte sich Lukaschenka an Russland und bat um Unterstützung, die er bis zu einem gewissen Grad auch bekam. Nur wenige Wochen nach dem Ausbruch der Proteste in Belarus unterstützte Wladimir Putin Lukaschenka und erklärte sich bereit, „falls erforderlich“ russische Wachpolizisten in Belarus zu stationieren und Minsk ein neues Darlehen in Höhe von 1,5 Mrd. USD zu gewähren. Nachdem die EU im Juni 2021 sektorale Sanktionen gegen Minsk verhängt hatte, versprach Moskau Belarus zusätzliche Unterstützung.
Kommt die Eingliederung in die Russische Föderation?
Beobachter, die bereits 2019, als beide Seiten über eine tiefere Integration diskutierten, eine Eingliederung von Belarus in die Russische Föderation vorhersagten, sind sich nun noch sicherer, dass diese Fusion unvermeidlich ist. Doch trotz des objektiv wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses auf Belarus scheint Moskau weder viele echte Zugeständnisse von Lukaschenka zu erhalten, noch ihm große zusätzliche Unterstützung zu gewähren.
Die Tarife für Öl und Gas aus der Zeit vor 2020 bleiben unverändert, obwohl Minsk beide als ungerecht empfindet. Der Gaspreis von etwa 130 $ pro 1000 m3 ist relativ niedrig, aber Lukaschenka bestand darauf, dass er genauso wenig wie die benachbarten russischen Regionen zahlen sollte. Russland hingegen weigert sich nach wie vor, weitere Rabatte zu gewähren. Was das Öl betrifft, so werden durch das russische „Steuermanöver“, das Mitte der 2010er Jahre begann, die belarussischen Gewinne aus den zollfreien Lieferungen von russischem Rohöl jedes Jahr weiter gekürzt. Minsk fordert seit mehreren Jahren eine Entschädigung, doch Moskau weigert sich und knüpft diese Frage an eine tiefere wirtschaftliche Integration. Die politische Krise in Belarus hat sich also nicht auf den wichtigsten und sensibelsten Bereich der Beziehungen zwischen Minsk und Moskau ausgewirkt – die Energiepolitik.
Etappenziel Unterzeichnungszeremonie
Auch im Bereich der Sicherheit wurden keine ernsthaften Zugeständnisse gemacht. Lukaschenka stimmte zwar einem gemeinsamen belarussisch-russischen Militärausbildungszentrum im Westen Belarus‘ zu, hat aber keine neue dauerhafte Stationierung russischer Truppen im Lande zugelassen. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Moskau derzeit derartige Zugeständnisse von Minsk fordert.
Die Integration im so genannten „Unionsstaat“ bleibt das zentrale Thema des Dialogs zwischen den beiden Regierungen. Nach Angaben von Beamten beider Seiten haben sie das Paket von 28 Integrationsfahrplänen fast fertiggestellt. Berichten zufolge sollen die Dokumente im Herbst unterzeichnet werden, wenn Lukaschenka und Putin einen weiteren bilateralen Gipfel abhalten wollen. Unklar ist, auf welche Kompromisse sie sich in den heikelsten Bereichen wie Steuern, Zölle und Energiemärkte zu einigen bereit sind. Vor zwei Jahren war der Prozess genau wegen dieser Unstimmigkeiten ins Stocken geraten.
Dennoch scheint die Unterzeichnungszeremonie jetzt wahrscheinlicher als noch 2019, als Lukaschenka die Gespräche torpedierte, indem er die russischen Forderungen einfach ablehnte. Im Jahr 2021 kann er es sich nicht mehr leisten, die Tür zuzuschlagen.
Papier ist geduldig
Da wir jedoch die bürokratische Tradition der belarussisch-russischen Integration kennen, bedeutet die Unterzeichnung der Dokumente an sich noch nicht, dass sie auch umgesetzt werden – weder sofort noch überhaupt. Der Vertrag über den Unionsstaat beispielsweise wurde 1999 unterzeichnet und ist nach wie vor weitgehend ein symbolisches Papier.
Mit den derzeit diskutierten Fahrplänen wird Moskau nach der Unterzeichnung der Dokumente auch formal keine neuen Befugnisse gegenüber Belarus erhalten. Die wichtigsten Fahrpläne des Integrationspakets (einheitliches Steuerrecht und Energie) sollen innerhalb von 1–2 Jahren nach ihrer Annahme in Kraft treten. Der Abschluss der Verhandlungen über diese Fahrpläne ist nicht das Ende der Verhandlungen, sondern lediglich der Beginn einer neuen Phase.
Priorität Nord Stream 2
Die Rhetorik der Kreml-Vertreter in dieser Frage seit Anfang des Jahres deutet ebenfalls darauf hin, dass es Moskau nicht eilig hat. Wahrscheinlich ist sich die russische Führung darüber im Klaren, dass Lukaschenka seine innenpolitische Krise noch nicht überwunden hat, während seine internationale Toxizität weiterhin zunimmt. Ihn zur Unterzeichnung und sofortigen Umsetzung ehrgeiziger Integrationsvereinbarungen zu zwingen, kann zu einem internationalen Aufschrei und zu Sanktionen gegen Russland sowie zu einer innenpolitischen Destabilisierung in Belarus führen, da die Mehrheit der Belarussen allen verfügbaren Umfragen zufolge die Idee einer tieferen politischen Union mit Russland ablehnt.
Diese Probleme künstlich anzuheizen, kann der Kreml jetzt nicht gebrauchen. Innenpolitisch sind alle Augen darauf gerichtet, politische Risiken im Vorfeld der Dumawahlen auszuschalten. Auf internationaler Ebene könnte eine weitere Eskalation des Konflikts mit dem Westen über Belarus die Aussichten auf einen Dialog mit den USA nach Genf zunichte machen und möglicherweise Probleme für den Start von Nord Stream 2 schaffen.
Außerdem ist nicht klar, welchen innenpolitischen Nutzen Putin daraus ziehen kann, Minsk die russische Vision von Integration (d.h. Eingliederung) aufzuzwingen. Die belarussische Frage ist bei weitem nicht die wichtigste für die russische Öffentlichkeit. Alle in den letzten Jahren in Russland durchgeführten Umfragen zeigen, dass die Russen ebenso wie die Belarussen mit dem Status quo der Integration zufrieden sind. Nur weniger als 20 % von ihnen wünschen sich eine Verschmelzung der beiden Länder, und etwa die gleiche Anzahl der Befragten wünscht sich eine Vertiefung der Integration. [1][2]
Lukaschenka alternativlos für Putin
Wenn Russland Belarus zu seiner Provinz machen wollte, müsste es einen Plan für den Fall haben, dass Lukaschenka sich weigert, Zugeständnisse zu machen. Moskau hat viele wirtschaftliche, politische und militärische Hebel in der Hand, aber es zögert, sie einzusetzen. Russland verfügt nicht über die wichtigste Zutat für eine solche Zwangsmaßnahme – es hat keine Alternative zu Lukaschenka. Es gibt in Belarus keine offensichtliche Kraft, auf die Moskau setzen könnte, und geheime Gespräche mit hochrangigen belarussischen Beamten sind ein sehr riskantes Unterfangen.
Außerdem ist niemand besser als Lukaschenka in der Lage, Belarus vom Westen zu entfremden. In dieser Hinsicht ist es in den Augen Putins riskant, extremen Druck auf ihn auszuüben. Er kann es sich nicht leisten, Belarus eigenhändig zu destabilisieren, weil er befürchtet, dass jede Revolte antirussische Kräfte an die Spitze bringen könnte, während Lukaschenka ein mehr oder weniger berechenbarer Partner ist. Es gibt nicht einmal offensichtliche russische Bemühungen, eine parallele politische Infrastruktur in Belarus aufzubauen.
Aufgrund all dieser Sachzwänge verfügt Russland derzeit über keine proaktive Strategie gegenüber Belarus. Moskau unternimmt weder allzu große Anstrengungen, um die Integration zu beschleunigen, noch ist es bereit, Lukaschenka üppige Subventionen zu gewähren. Die russische Politik gegenüber Belarus ist reaktiv – bis aus Minsk neues Kopfzerbrechen kommt, schwimmt Moskau mit dem Strom und gibt Lukaschenka gerade genug Kredite, um ihn nicht bankrott gehen zu lassen.
Das Einzige, was Moskau offenbar hinter den Kulissen tut, ist, Lukaschenka zu einer kontrollierten politischen Reform zu drängen. Da sich Minsk so schnell vom Westen isoliert, glaubt die russische Führung, dass sie am besten in der Lage sein wird, den Ausgang des Machtwechsels zu kontrollieren, wenn Lukaschenka endlich bereit ist zu gehen. Was aber, wenn er sich entscheidet zu bleiben? Es gibt keine Hinweise darauf, dass Moskau dafür einen Plan hat.
[1] https://www.levada.ru/2020/09/17/pochti-chetvert-grazhdan-podderzhivayut-ideyu-obedineniya-s-belorussiej/
[2] https://wciom.ru/analytical-reviews/analiticheskii-obzor/belorussiya-rossiya-coyuznoe-gosudarstvo
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