Wem gehört der Fluss? Basis­de­mo­kratie und Umwelt­schutz in Georgien

Foto: (c) Davit Kiziria

Ein umwelt­po­li­ti­scher Konflikt um den Bau zweier Wasser­kraft­werke illus­triert, wie die meist machtlose georgische Zivil­ge­sell­schaft sich gegen politische Entschei­dungen aus der fernen Haupt­stadt organisiert.

Am 26. Mai 2021 feierte Georgien den 30. Jahrestag seiner Unabhän­gigkeit. Ein anderes Ereignis stellte die staat­liche Feier jedoch in den Schatten. Am selben Tag demons­trierten im Zentrum der Haupt­stadt Tbilissi Tausende Menschen aus dem ganzen Land gegen den Bau eines Großkraft­werks in Westge­orgien. Diese Demons­tration war insofern symbo­lisch, als der Kampf für die Unabhän­gigkeit Georgiens Ende der 1980er Jahre mit dem Protest gegen den Bau eines sowje­ti­schen Großkraft­werks begann. Nach 30 Jahren Eigen­staat­lichkeit steht Georgien erneut vor Problemen, in denen Defizite der Demokratie mit der katastro­phalen Umwelt­po­litik verbunden sind.

2019 schloss die georgische Regierung einen Bau‑, Entwick­lungs- und Betriebs­vertrag mit dem türki­schen Unter­nehmen ENKA und der norwe­gi­schen Clean Energy Group. In den westge­or­gi­schen Provinzen Imereti und Letsch­chumi sollten zwei Wasser­kraft­werke mit einer Gesamt­leistung von 433 MW, „Unter­na­machwani“ und „Oberna­machwani“ am Fluss Rioni (von den antiken Griechen Phasis genannt) gebaut werden. Die georgische Regierung feierte den Vertrag als einen „großen Beitrag zur Energie­un­ab­hän­gigkeit und Energie­si­cherheit“ – so die Wirtschafts­mi­nis­terin Turnava. Inves­ti­tionen in Höhe von bis zu 800 Mio. US-Dollar sollten ins Land fließen, die Energie­er­zeugung Georgiens um 25 % steigen.

Bevöl­kerung wenig begeistert

Die feier­liche Stimmung der georgi­schen Regierung wurde von der vor Ort unmit­telbar betrof­fenen Bevöl­kerung nicht geteilt. Die Sorge galt primär der Bausi­cherheit im Erdbeben- und Bergrutsch­gebiet. Eine Gruppe örtlicher Aktivisten versuchte gegen den Bau des Kraft­werks zunächst gerichtlich vorzu­gehen. Da die Verhandlung immer wieder hinaus­ge­zögert wurde, griffen die mittler­weile als Verein organi­sierten „Hüter des Rionitals“ zum Protest und versuchten seit Ende Oktober 2020 durch fried­liche Demons­tra­tionen den Kraft­werkbau zu verhindern. Nach einem halben Jahr nahm der Protest ein zunächst regio­nales, später natio­nales Ausmaß an. Die „Hüter“ werden von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen und Aktivisten im ganzen Land unter­stützt und durch Crowd­funding auch von Georgiern im In- und Ausland finanziert.

Die zuneh­mende Unter­stützung der Protest­be­wegung lässt sich durch die wachsende Unzufrie­denheit nicht nur mit der Regie­rungs­po­litik, sondern mit der bishe­rigen Partei­po­litik erklären. In den vergan­genen 30 Jahren wurde die Politik in der Haupt­stadt des extrem zentra­li­sierten Südkauk­aus­staates gemacht. Die Gemeinden selbst haben kaum finan­zielle und politische Entschei­dungs­gewalt. Die Gemein­de­ver­wal­tungen werden nicht gewählt, sie sind Zweig­stellen der Zentral­re­gierung und agieren in deren Interesse. Keine der georgi­schen Regie­rungen war bisher bereit, einen Teil der Macht an die Regionen und Gemeinden abzutreten. Sie haben keinerlei Mitspra­che­recht bei den Großpro­jekten wie dem Namachwani-Wasser­kraftwerk. Entschei­dungen werden über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen. Heute melden sich diese Menschen zu Wort, organi­sieren sich selbst und fordern Mitspracherecht.

Inves­toren- vor Bürgerinteressen

Die Baugegner werfen der Regierung vor, der Vertrag begünstige den Investor zulasten des georgi­schen Steuer­zahlers. Vor wenigen Tagen sickerte ein Gutachten aus dem Justiz­mi­nis­terium durch, welches just diese Punkte des Vertrags kriti­sierte. Die Beanstan­dungen des Justiz­mi­nis­te­riums wurden beim Vertrags­ab­schluss nicht wesentlich berück­sichtigt. Marita Musse­liani, eine der „Hüterinnen“, brachte die Kritik auf den Punkt: Vor die Wahl gestellt zwischen den Inter­essen des Investors und den verfas­sungs­mä­ßigen Rechten der Bürger habe sich die georgische Regierung für die ersteren entschieden, die sie nun mit polizei­licher Gewalt durchsetze.

Der Vertrag, den die „Hüter“ als „Knebel­vertrag“ bezeichnen, ist nicht der einzige Gegen­stand der Kritik. Die Hüter und Fachex­perten befürchten irrepa­rable Umwelt­schäden. Der Baugrund – Letschumi und Oberi­mereti – gehört zu den schönsten Landschaften Georgiens und ist Heimat einzig­ar­tiger Rebsorten. Irakli Macha­rashvili, der Direktor des Biodi­ver­si­täts­pro­gramms der Umwelt­schutz­or­ga­ni­sation „Grüne Alter­native“ wirft der Regierung vor, die Umwelt­studien für das Wasser­kraftwerk Oberna­machwani erst nach dem Abschluss des Vertrags in Auftrag gegeben zu haben. Grund­sätzlich teilen viele Kritiker des Projekts, wie Prof. Dr. Tea Godoladze, Direk­torin des seismi­schen Monito­ring­zen­trums an der staat­lichen Ilia-Univer­sität, die Einschätzung, der Vertrag und die Bauge­neh­migung seien ohne ausrei­chende wissen­schaft­liche Begut­achtung geschlossen und erteilt wurden. Godoladze und Macha­rashvili monieren, dass die geneh­migte Erdbe­ben­si­cherheit des Kraft­werks geringer ist als die tatsächlich bereits gemessene Erdbe­ben­stärke in dem Baugebiet.

Zusam­men­fassend lautet die Kritik: Die Regierung versucht, Inves­ti­tionen ins Land zu locken, ohne dabei auf die Gesundheit und Sicherheit der Menschen und den Umwelt­schutz zu achten. 

Keine politische Opposition in Sicht

Der Bau der Namach­wa­nik­raft­werke hat zahlreiche Befür­worter nicht nur in der Regierung. Die opposi­tio­nellen Parteien, die üblicher­weise kein gutes Haar an der Regierung lassen, solida­ri­sieren sich mit ihren politi­schen Gegnern in diesem Einzelfall. Auch die großen, meist partei­po­li­tisch organi­sierten Medien befür­worten den Bau und kriti­sieren seine Gegner. Die Argumente der Baube­für­worter sind entwick­lungs- und sicher­heits­po­li­ti­scher Natur: Ohne auf die konkrete Kritik am Namach­wa­nik­raftwerk einzu­gehen, behauptet der Opposi­ti­ons­po­li­tiker und ehemalige Natio­nal­bank­prä­sident Roman Gotsi­ridze, die georgische Wirtschaft brauche für ihre Entwicklung Wasser­kraft­werke. Ähnlich pauschal äußert sich Prof. Dr. Gia Nodia, ehema­liger Bildungs­mi­nister in der Regierung Saakashvili. Viele Baube­für­worter pochen auf die Energie­si­cherheit des Landes, dessen Energie­ver­sorgung vor allem von Russland abhänge. Giorgi Abramishvili, Geschäfts­führer der Georgi­schen Assoziation für die Entwicklung erneu­er­barer Energie fasst die Vorteile des Kraft­werks zusammen: Flexi­bi­lität des Energie­systems, günstige erneu­erbare Energie, die obendrein Georgien ermög­liche, seine CO2 Emissionen zu verringern, Steuer­ein­nahmen für die Region und 12% geringere Stromimporte.

Die Bürger­be­wegung um das Namach­wa­nik­raftwerk lässt diese Argumente nicht gelten: Die georgische Regierung habe nicht mal ein Konzept der Energie­ent­wicklung für die kommenden Jahre. Das Fehlen des Entwick­lungs­kon­zeptes lege nahe, dass die Regierung eher an kurzfris­tigem Profit inter­es­siert sei, als im Interesse einer langfris­tigen Entwicklung zu agieren. Das Land verbrauche in der Tat von Jahr zu Jahr mehr Strom. Doch der wachsende Strom­bedarf wird nicht etwa mit boomender Industrie oder steigendem Haushalts­ver­brauch, sondern mit dem energie­in­ten­siven Schürfen von Krypto­wäh­rungen in Verbindung gebracht.

Fortschritts­feinde oder Umweltfreunde?

In der Kritik werden die „Hüter des Rionitals“ oft, auch von georgi­schen Medien, als generelle Kraft­werks­gegner darge­stellt. Doch es geht ihnen nicht um eine pauschale Ablehnung der Wasser­kraft­werke, sondern um unter­schied­liche Wirtschafts- und Politik­auf­fas­sungen, die den Argumenten der Baube­für­worter und Baugegner zugrunde liegen. Die „Hüter des Rionitals“ wollen erstens die wirtschaft­liche Entwicklung und Energie­si­cherheit gegen den Umwelt­schutz und zweitens das verspro­chene schnelle Wirtschafts­wachstum gegen die Gesundheit und Lebens­qua­lität der Menschen abwägen. Dabei wollen sie Mitsprache in den Projekten, die bisher über ihre Köpfe hinweg entschieden werden. Die alte politische Kultur des heutigen partei­po­li­ti­schen Estab­lish­ments ist in den letzten 20–30 Jahren davon ausge­gangen, dass möglichst günstige Bedingung für Auslands­in­ves­ti­tionen oberste Priorität haben. Diese Inves­ti­tionen würden zu Wirtschafts­wachstum und im Endeffekt zu Wohlstand in der breiten Bevöl­kerung führen. Georgien ist zwar ein inves­ti­ti­ons­freund­liches Land geworden, doch oft zum großen Nachteil des Arbeits‑, Verbraucher- und Umwelt­schutzes. Die Entwicklung war zwar messbar, doch sie sah viel zu oft über die Menschen, ihre politi­schen und wirtschaft­lichen Rechte und ihre Umwelt hinweg.

Funktio­niert hat dieses Wirtschafts­modell äußerst bedingt: Eine hauch­dünne Mittel- und Oberschicht entstand, die Mehrheit der Georgier lebt unter äußerst prekären Wirtschafts­be­din­gungen und hat kaum politische Gestal­tungs­mög­lich­keiten. In der Bürger­be­wegung gegen das Namach­wa­nik­raftwerk werden Konturen eines neuen Politik- und Wirtschafts­ver­ständ­nisses sichtbar, das sich von dem des partei­po­li­ti­schen Estab­lish­ments radikal unter­scheidet. Die „Hüter des Rioni­talis“ sowie ihre Unter­stützer wollen Mitspra­che­recht, vor allem in der lokalen und regio­nalen Politik und fordern Entwick­lungs­kon­zepte, die die Inter­essen der Menschen, ihrer Umwelt und ihrer Lebens­qua­lität berücksichtigen.

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