Solange Tel Aviv feiert, ist Israel am Leben

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Und irgendwo ist ständig Party: Tel Aviv im Sommer, das ist Sonne, Strand und ausge­las­sener Spaß. Es ist ein Leichtes, hier zu vergessen, dass in Jerusalem der Funda­men­ta­lismus grassiert. Doch das Feiern hat etwas Existen­zi­elles: Die ewige Party ist der Pulsschlag des liberalen Israel.

Der Sommer ist da. Das merkt man nicht nur an den Tempe­ra­turen und dem Wissen, dass es frühestens irgendwann Ende Oktober oder Anfang November regnen wird. Das merkt man nicht nur an den vielen Touristen, die die Stadt überfluten. Sondern vor allem an den Tel Avivern selbst. Alles ist easy, relaxed, die Männer in kurzen Hosen, Männlein und Weiblein in „Kafkafim“, Flipflops. Man geht an den Strand oder sitzt bis weit nach Mitter­nacht in den Stras­sen­cafés – und irgendwie ist ständig Party in der Stadt. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Während die ortho­doxen Parteien bei den zuletzt geschei­terten Koali­ti­ons­ver­hand­lungen von Benjamin Netanyahu schon zugesi­chert bekamen, dass in Zukunft bei offizi­ellen Veran­stal­tungen Männer und Frauen getrennt zu sitzen haben, feierte Tel Aviv die größte Pride Parade seiner Geschichte, mit über 250.000 Teilnehmern.

Die Stadt ist der liberale Leuchtturm nicht nur für Israel, sondern für die ganze Region. Nur wenige Kilometer von dieser Stadt entfernt, sei es in Ramallah oder Gaza, in Beirut, Damaskus oder Amman, würden Menschen der LGBTQ-Gemein­schaft geächtet, verfolgt und vielleicht sogar getötet werden. Und viele andere, die einfach einen offenen, plura­lis­ti­schen und westlichen Lebensstil genießen wollen, auch.

Der Funda­men­ta­lismus in Jerusalem wird immer schlimmer? Who cares

Tel Aviv war und ist anders. Eine Stadt voller Charme und Spaß, mit einem Nacht­leben, das reizvoll für alle Genera­tionen ist, einer Kunst- und Kultur­szene, die für die so junge Stadt und Gesell­schaft beachtlich ist. Man darf nicht vergessen: Tel Aviv ist gerade mal 110 Jahre alt. Und in ihr leben Menschen aus der ganzen Welt: aus Afrika und Asien, aus Europa und den USA, aus Latein­amerika und dem Orient. Leben und leben lassen und: Spaß haben, soviel wie möglich – das ist die Devise dieser Stadt.

Und so ist es ein Leichtes, in Tel Aviv zu vergessen, was im Rest des Landes und der Region vor sich geht. Der Funda­men­ta­lismus in Jerusalem wird immer schlimmer? Who cares. Aus Gaza werden Raketen auf die Stadt abgefeuert? So what. Der Iran droht Israel mit Vernichtung? The show must go on. All das scheint weit, weit weg zu sein von dieser Stadt.

Menschen aus Tel Aviv sagen selbst, dass sie in einer Blase, auf Hebräisch: „Bu’a“, leben. Sie wählen überwiegend links, hassen Netanyahu, die Siedler und die Frommen, und sie sind ein ganz wesent­licher Bestandteil derje­nigen, die das BIP des Landes in immer neue Höhen treiben. Denn Tel Aviv, das ist auch das „Silicon Wadi“, wie der zweit­größte Hightech-Hub der Welt (nach dem Silicon Valley) genannt wird. Damit ist die Stadt und natürlich auch der weitere Einzugs­be­reich von Tel Aviv gemeint, wie etwa Herzliah und andere Vororte, wo sich Tausende von Start-Ups und inter­na­tio­nalen R&D‑Centers nieder­ge­lassen haben. Tel Aviv, das ist nicht nur das 21. Jahrhundert, sondern das Tor zum 22. Jahrhundert. Die Dynamik dieser Stadt ist atembe­raubend: man denkt out of the box, anything goes, you don’t take no for an answer. 

Sind wir nicht alle ein bisschen Tel Aviv?

Und doch spürt man – wenn man die Stadt lange und gut kennt, wenn man Teil dieser Stadt geworden ist – das Unbehagen der Menschen, die Angst vor dem, was da kommen könnte. Die Bedro­hungen sind mannig­faltig und im Grunde haben die Tel Aviver mehr Angst vor den eigenen Funda­men­ta­listen im Land, den Feinden der Demokratie als vor den Paläs­ti­nensern, der Hizbollah oder dem Iran. Allen ist klar, dass die große Sause ein Tanz auf dem Vulkan ist, vielleicht vergleichbar mit der Situation im Berlin der Goldenen Zwanziger. Der Untergang war zu spüren, aber Sex, Drogen und Tanz waren der Versuch, das drohende politisch-gesell­schaft­liche Ungemach zu verdrängen in jenem Babylon.

Doch sind inzwi­schen nicht alle westlichen Großstädte in einer ähnlichen Situation wie Tel Aviv? Wird nicht auch im aufstre­benden, moder­nis­ti­schen Berlin sehr genau erspürt, dass Rechts­extre­mismus, Rassismus und Antise­mi­tismus auf dem Vormarsch sind? Erleben die Pariser nicht auch mit den „Gilets Jaunes“ einen begin­nenden Anarchismus, der die Gesell­schaft langfristig verändern und umwälzen könnte? Ganz zu schweigen von London, wo der Brexit droht? Oder New York, dessen derzeit berühm­tester Bürger dem Libera­lismus den Kampf angesagt hat?

Was Tel Aviver vielleicht früher als alle anderen erspürten, ist die Zerbrech­lichkeit der liberalen Idee. Die Feinde des Prinzips sind buchstäblich um die Ecke, das Land ist so klein, da sieht man den politi­schen Gegnern quasi direkt ins Gesicht. Sie sind keine diffuse Masse, die irgendwo weit weg lebt, etwa „im Osten“, wie man in München oder Hamburg gerne sagt, selbst wenn das natürlich nicht stimmt.

Der Tanz auf dem Vulkan. Viele Europäer können nicht begreifen, wie die Menschen in Tel Aviv feiern, wenn an den Grenzen des Landes ein Krieg tobt, Bomben fallen, Menschen sterben, die eigenen Soldaten getötet werden. Doch diese ewige Party ist der Pulsschlag des gesamten Landes. Solange das Herz Tel Avivs schlägt, solange ist Israel am Leben und nicht verloren. An dem Tag, an dem die Tel Aviver nicht mehr ausgehen, feiern, trinken, lachen, tanzen, an dem Tag wird es düster. Das war schon einmal der Fall: 1991, zu Beginn des Golfkrieges, als man fürchten musste, dass Saddam Hussein mit seinen Raketen Giftgas, deutsches Giftgas, über Tel Aviv abfeuern würde. Als aber klar wurde, dass dem nicht so sein würde, ging die Party sofort wieder los. Noch während des Krieges. Und das ist gut so.

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