Noch nicht in Schwung: Europawahlkampf in Frankreich
Der französische Europawahlkampf kommt nur zäh in Gang. Das Land hat mit sich selbst zu tun, da muss Europa hintanstehen. Der pro-europäische Schwung Macrons hat nachgelassen, Marine Le Pen muss ihre anti-europäischen Affekte zügeln, weil selbst ihre Anhänger die EU nicht verlassen wollen.
Eigentlich war für das Frühjahr 2019 Europawahlkampf vorgesehen. Die Europawahl ist nach zwei Jahren die erste Gelegenheit, der amtierenden Regierung die Meinung zu geigen. Und normalerweise nehmen die Franzosen jede der landesweit zeitgleich organisierten „Zwischenwahlen“ – ob auf europäischer, regionaler oder lokaler Ebene – zum Anlass, ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung Ausdruck zu verleihen.
Aber was ist schon normal dieser Tage? Frankreich hat mit sich selbst zu tun, da muss Europa hintanstehen. Die allsamstäglichen, von Rechts- wie Linksextremen unterwanderten Protestmärsche der Gelbwesten nehmen kein Ende. Und parallel dazu mobilisiert die „Große nationale Debatte“, seit Januar im Rekordtempo auf die Beine gestellt, jede Menge politische Energie. Von Nebenschauplätzen wie der vom Senat ausgeschlachteten Affäre um die illegalen Umtriebe des ehemaligen Sicherheitsbeamten des Elysée, Alexandre Benalla, ganz zu schweigen.
Dass sich die Europawahlen noch nicht in den Vordergrund geschoben haben, liegt auch daran, dass sich Emmanuel Macron und die République en Marche bisher zurückgehalten haben. Erst zwei Monate vor dem Wahltermin hat man sich nun darauf festgelegt, wer die Liste überhaupt anführen soll. Die Wahl fiel, ganz anders als im Frühjahr 2017, als allerorten Neulinge aus der Zivilgesellschaft angeworben wurden, auf eine Expertin mit Polit-Kompetenz: die Europaministerin Nathalie Loiseau, ehemalige Direktorin der Ecole Nationale de l’Administration, einer Grande École, an der seit 1947 die Elite der Staatsbeamten ausgebildet wird.
Marine Le Pen setzt auf einen Nobody
Kurioserweise steht diese Personalentscheidung ganz im Gegensatz zu dem, was sich bei den anderen Parteien tut. Dort wird fast ein bisschen krampfhaft die „Erneuerung“ inszeniert, mit der Macrons Bewegung vor zwei Jahren aus dem Nichts aufkreuzte.
So hat Marine Le Pen, die vor fünf Jahren mit einem Viertel der Stimmen und 24 Sitzen im europäischen Parlament als stärkste Kraft aus den Europawahlen hervorging, ihre Liste bereits Anfang Januar einem 23-jährigen Nobody namens Jordan Bardella anvertraut. Die Liste der France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon führt die 29-jährige ehemalige Oxfam-Aktivistin Manon Aubry an, und die Sozialisten haben für die Europawahl gleich ganz mit der neuen Bewegung Place Publique fusioniert, die der Philosoph und Publizist Raphaël Glucksmann vor Kurzem ins Leben gerufen hat. Ein anderer Philosoph, eher katholisch-konservativer Art, wurde den Republikanern von Laurent Wauquiez aufgedrängt: François-Xavier Bellamy, der augenscheinlich den angestrebten Rechtsruck der Parteiführung verkörpern soll.
Was aus der mehrfach angedachten Liste der Gelbwesten wird, steht noch nicht fest. Bisher sind alle Versuche von den radikalen Stimmen der Bewegung aggressiv zurückgepfiffen worden. Sollte dennoch eine Liste antreten, würde sie die drei bis fünf Prozent, die ihr von den Meinungsforschern zugeschrieben werden, eher an den Rändern des politischen Spektrums holen. Die Tatsache, dass eine solche Liste das Lager des ungeliebten Präsidenten eher stärken würde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Stabile Kräfteverhältnisse
Die Europawahl ist in Frankreich insofern von besonderem Interesse, als sie eine Ausnahme zum strengen Mehrheitswahlrecht der Fünften Republik darstellt. Sie ist, zusammen mit dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, die einzige Gelegenheit, bei der die Bürger ohne Hintergedanken ihre ideologische Präferenz bekunden und so die wahren Kräfteverhältnisse innerhalb des Parteienspektrums abbilden.
Diese sind – glaubt man den Umfragen – genau zwei Jahre nach der Wahl Macrons erstaunlich stabil geblieben.
Das vom Präsidenten verkörperte, resolut proeuropäische liberale Zentrum der République en Marche stellt ein Viertel der Wählerschaft dar (das angeschlossene MODEM und die getrennt kandidierende UDI eingerechnet). Das entspricht ziemlich genau dem Stimmenanteil Macrons im ersten Wahlgang 2017. Angesichts der heftigen Abneigung, die Macrons Reformen und vor allem seine Person in weiten Kreisen der Bevölkerung hervorruft, ist mehr auf absehbare Zeit kaum vorstellbar.
Ein anderes Viertel der Stimmen versammelt sich rechtsaußen. Zu den etwa 20 Prozent, mit denen Marine Le Pens Rassemblement National rechnen darf, muss man die knapp fünf Prozent von Debout la France hinzurechnen.
Das Potential der extremen Linken – uneins und aufgespalten in France Insoumise, Parti Communiste sowie ein paar Splittergruppen – liegt derzeit bei maximal 15 Prozent der Wählerschaft. Diese Tendenz bestätigt die Vermutung, dass ausgerechnet die Partei Jean-Luc Mélenchons es nicht geschafft hat, aus den Gelbwesten-Protesten – trotz ideologischer Nähe – Kapital zu schlagen.
Für die ehemaligen Volksparteien der konservativen Gaullisten und der gemäßigten Linken wird der Raum immer enger. Die Stimmanteile der Républicains werden bei zwölf bis 14 Prozent gehandelt, ein Beleg dafür, wie umstritten der Kurs von Laurent Wauquiez beim traditionell europafreundlichen, zentrumsnahen Flügel der Partei ist.
Und die Linke hat es in den vergangenen Monaten vorgezogen, sich in Grabenkämpfen noch schwächer zu machen als sie ohnehin schon ist. Der Appell von Raphaël Glucksmann, eine gemeinsame sozialdemokratische Liste aufzustellen, wurde vom Grünen-Chef Yannick Jadot (Europe Ecologie/Les Verts) und vom ehemaligen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon (Génération.s) geflissentlich überhört. Zusammengenommen stellen sie 16 bis 17 Prozent der Wählerschaft. Die Grünen ziehen sich mit acht Prozent der Wahlabsichten noch am besten aus der Affäre, schaffen es aber nicht, aus dem immer stärker werdenden Klimawandel-Bewusstsein Kapital zu schlagen.
Paradoxe in den beiden größten Blocks
Ein Paradox dieser Europawahl liegt in den Botschaften der beiden größten Blocks. Auf der einen Seite ist Marine Le Pen dazu gezwungen, ihren Europahass rhetorisch zu entschärfen, weil ein Großteil ihrer Wählerschaft einem Ausstieg aus der Währungsunion oder gar der EU abgeneigt ist. Diesen Widerspruch versucht der Listenführer Jordan Bardella mit einem schrägen Mix aus Halbwahrheiten im Stile der britischen UKIP zu entkräften.
Im Lager von Emmanuel Macron droht wegen der „Großen nationalen Debatte“ ein anderes Paradox. Es wird dem Präsidenten kaum möglich sein, die aus der Debatte hervorgegangenen Erwartungshaltungen zu ignorieren. Sollte er sich allerdings entschließen, Teile dieser Erwartungen zu erfüllen, hätte das wohl deutliche budgetäre Konsequenzen.
Ein Szenario, das niemand im Elysée offen zu formulieren wagt, das aber nicht mehr ausgeschlossen werden kann, besteht darin, dass ausgerechnet der Präsident, der sich die Wiedergewinnung des deutschen Respekts fürs französische Wirtschaften auf die Fahne geschrieben hat, für den Rest seines Mandats die Maastricht-Stabilitätskriterien aussetzt. Das Wehklagen in Berlin wäre nicht zu überhören. Indes: Nachdem seine budgetären Anstrengungen der letzten beiden Jahre gerade in Deutschland, sowohl bei der Merkel-Regierung als auch bei der neuen CDU-Chefin, auf taube Ohren gestoßen sind – könnte man es ihm verdenken?
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