Aufruf: Demokra­tische Zivil­ge­sell­schaft Russlands unterstützen!

Foto: Shutterstock, NickolayV
Foto: Shutter­stock, NickolayV

27 Persön­lich­keiten aus Presse, Wissen­schaft und Politik fordern Europa auf, entschie­dener gegen die Repres­sionen des Putin-Regimes vorzu­gehen, darunter auch Ralf Fücks, Reinhard Bütikofer und Denis MacShane, der ehemalige Minister für europäische Angele­gen­heiten des Verei­nigten Königreichs.

Der Aufruf findet sich hier im Original auf Franzö­sisch, Italie­nisch, Spanisch und Polnisch bei Le Grand Continent. Wir dokumen­tieren eine deutsche Übersetzung.

Europa und demokra­tische Regie­rungen müssen die Unter­drü­ckung des russi­schen Volkes beenden

Mehr als 4.500 Verhaf­tungen nach den Demons­tra­tionen vom 23. Januar 2021 in Russland, fast 5.800 nach denen vom 31. Januar und sogar mehr als 1.400 nach der Verur­teilung von Alexej Nawalny am 2. Februar, massive Gewalt durch die Sicher­heits­kräfte, nachge­wiesene Fälle von Folter, gericht­liche Eilver­fahren mit Anord­nungen, die zur Inhaf­tierung einer Reihe von Menschen und für viele zur Entlassung führen werden: die Repression des russi­schen Regimes hat sich weiter verschärft. Die russi­schen Demons­tranten lassen sich jedoch nicht einschüchtern: Sie kamen in großer Zahl – es gibt Berichte über mehr als 100 000 Demons­tranten – und trotzten den Drohungen und verei­telten alle Versuche, der Kreml-Behörden, sie zu blockieren. Die russische Jugend war präsent, aber auch ältere Menschen nahmen an den Demons­tra­tionen teil.

Dabei geht es nicht nur um Alexej Nawalny, den sie nach dem Atten­tats­versuch weiter zum Schweigen bringen wollen. Es geht um die Sache der Freiheit, des Rechts und der Demokratie. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, um die Willkür und Korruption des Regimes anzuprangern, dessen Sicher­heits­kräfte mit dem organi­sierten Verbrechen verbunden sind. Sie sind gekommen, um ein Ende eines zunehmend absolu­tis­ti­schen Systems zu fordern, das ihnen ihr Brot und ihre Freiheit nimmt.

Die Propa­ganda des Regimes, die von den vom Kreml kontrol­lierten audio­vi­su­ellen Medien verbreitet wird, funktio­niert nicht mehr. Die Menschen haben erkannt, dass das unter­drü­cke­rische Regime für immer bestehen bliebe, wenn sie nicht zahlreich demons­trieren würden. 

Zwar sind die Verbrechen des Regimes seit langem bekannt: Hunderte von Opposi­tio­nellen, die seit Putins Macht­über­nahme ermordet wurden, Morde, die selbst auf europäi­schem Boden organi­siert wurden, ganz zu schweigen von den Kriegs­ver­brechen, die der Kreml in Syrien in großem Stil begangen hat, aber auch in Georgien, wie der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte kürzlich entschied, und in der Ukraine. Vergessen wir auch nicht all jene, die lange vor den Demons­tra­tionen in russi­schen Gefäng­nissen inhaf­tiert waren oder unfairen Prozessen ausge­setzt waren, darunter der Histo­riker Juri Dmitriev, der verfolgt wurde, weil er über die Verbrechen des Stali­nismus geforscht hatte.

Der Westen hat begonnen – endlich! – zu verstehen, dass das russische Regime nicht als normaler Staat betrachtet werden konnte, mit dem man Kompro­misse schließen und reden konnte, als wäre es ein klassi­scher Verhandlungspartner.

Jeder Rückzug von der Anwendung der Rechts­staat­lichkeit war für das Regime eine Ermutigung, weiter zu gehen, und das ist verbunden mit Repression in Russland und Aggression im Ausland. 

Bisher haben die sehr maßvollen Sanktionen keine Ergeb­nisse gebracht, weil sie zu schwach auf die Führer des Regimes und ihre finan­zi­ellen Hinter­männer abzielen, die ihr Vermögen auf der vom Regime aufrecht­erhal­tenen Korruption aufgebaut haben.

Natürlich ist die der endgültige Stopp der Nordstream-2-Pipeline, ein Projekt, das niemals hätte gebaut werden dürfen, eine nicht verhan­delbare Notwen­digkeit. Sie bedroht nicht nur die Energie­si­cherheit der Europäi­schen Union und der Ukraine, sondern bietet Gazprom, einem Agenten des russi­schen Regimes, finan­zielle Einnahmen, die es ihm ermög­lichen, neue Auslands­ge­schäfte zu finan­zieren. Aber auch das neue europäische Sankti­ons­regime gegen die Täter oder Komplizen schwerer Menschen­rechts­ver­let­zungen, das sich an den Magnitsky-Gesetzen orien­tiert, muss sofort genutzt werden, insbe­sondere durch das Einfrieren der Vermö­gens­werte der Täter im Ausland, bei denen es sich größten­teils um unrecht­mäßig erworbene Gewinne handelt, und das Verbot, den Boden der Demokratien zu betreten. Wladimir Aschurkow, Direktor der von Nawalny gegrün­deten Anti-Korrup­tions-Stiftung, schickte eine Liste mit etwa 30 Namen an Präsident Joe Biden. Aber es gibt auch all jene – Sicher­heits­kräfte und Gefäng­nis­beamte, Richter und manchmal auch Journa­listen -, die mit der Regierung verbunden sind und die solche Übergriffe begangen haben. Sie müssen wissen, dass es für sie keine Straf­freiheit geben wird. Und natürlich sollte russi­schen Delegierten in der Parla­men­ta­ri­schen Versammlung des Europa­rates, die von EU-Sanktionen oder Korrup­ti­ons­vor­würfen betroffen sind, die Akkre­di­tierung verweigert werden. Diese Delegation blockiert zusammen mit anderen eine ähnliche Resolution wie die des Europäi­schen Parla­ments, in der eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und eine Verur­teilung der Inhaf­tierung von Nawalny und der russi­schen politi­schen Gefan­genen gefordert wird.

Das Schicksal Europas wird sich in der Ukraine entscheiden 

Aber wir müssen in unserer Unter­stützung sowohl der russi­schen als auch der belaru­si­schen Zivil­ge­sell­schaft noch weiter gehen: Nette Worte sind nicht genug. Wir müssen ihnen finan­ziell helfen, ebenso wie den freien Medien, und ihnen Unter­stützung in Form von Schulungen geben. Behandeln wir die Worte des Kremls über die Einmi­schung mit Verachtung: Das ist die Sache der Freiheit, ihre Sache und letztlich auch unsere Sache, denn ein anderes, demokra­ti­sches Regime in Russland wäre das erste Versprechen des Friedens. Kürzlich schrieb Juri Samodurow, ehema­liger Direktor des Sacharow-Zentrums in Moskau, auf der Website Echo von Moskau, dass „wir Russen von nun an unter einem Regime der Besatzung leben“ – der Besatzung durch eine Macht, die ihren Bürgern alles entzieht. Im Jahr 2015 erklärte der ehemalige tsche­chische Außen­mi­nister Karel Schwar­zenberg: „Das Schicksal Europas wird sich in der Ukraine entscheiden“. Ja, und das bleibt auch so. Es wird nun auch in Weißrussland und Russland selbst entschieden. Wird Europa, das sich als aufstre­bende Macht präsen­tiert, den Willen haben, sich daran zu erinnern?

Unter­zeichner:

  • Galia Ackerman, Essay­istin (Frank­reich)
  • Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäi­schen Parla­ments (Deutschland)
  • Mireille Clapot, MP (Frank­reich)
  • Daniel Cohn-Bendit, ehema­liger Abgeord­neter des Europäi­schen Parla­ments (Deutschland)
  • François Croquette, ehema­liger Botschafter für Menschen­rechte (Frank­reich)
  • Sławomir Dębski, Direktor des Polni­schen Instituts für Inter­na­tionale Angele­gen­heiten (Polen)
  • Michel Eltcha­ninoff, Philosoph (Frank­reich)
  • Pavel Fischer, Botschafter a.D., Senator (Tsche­chische Republik)
  • Ralf Fücks, Geschäfts­füh­render Gesell­schafter, Zentrum Liberale Moderne (Deutschland)
  • Geneviève Garrigos, Stadt­rätin von Paris (20. Arron­dis­sement) (Frank­reich)
  • André Gattolin, Senator, Delegierter in der Parla­men­ta­ri­schen Versammlung des Europarats (Frank­reich)
  • Rebecca Harms, ehema­liges Mitglied des Europäi­schen Parla­ments (Deutschland)
  • Marcel H. Van Herpen, Schrift­steller, Think Tanker (Nieder­lande)
  • Linas Linke­vičius, Ehema­liger Minister für Vertei­digung und auswärtige Angele­gen­heiten (Litauen)
  • Edward Lucas, Schrift­steller, Journalist, Think Tanker (Großbri­tannien)
  • Bernard Miyet, ehema­liger Diplomat (Frank­reich)
  • Frédéric Petit, Abgeord­neter für Frank­reich im Ausland (Deutschland, Mittel­europa, Balkan) (Frank­reich)
  • Wojciech Przybylski, Chefre­dakteur Visegrad Insight, Präsident Res Publica Nowa (Polen)
  • Jean-Maurice Ripert, Botschafter von Frank­reich (Frank­reich)
  • Jean-Luc Romero-Michel, Stadtrat von Paris, stell­ver­tre­tender Bürger­meister von Paris, zuständig für Menschen­rechte (Frank­reich)
  • Denis MacShane, ehema­liger Minister für europäische Angele­gen­heiten (Verei­nigtes Königreich)
  • Nicolas Tenzer, Präsident des Centre d’étude et de réflexion pour l’Action politique (CERAP), Lehrer an der Sciences Po (Frank­reich)
  • Françoise Thom, Ehren­do­zentin für Zeitge­schichte an der Univer­sität Paris-Sorbonne (Frank­reich)
  • André Vallini, ehema­liger Minister, Senator (Frank­reich)
  • Michael Žantovský, Botschafter a.D., Direktor der Václav-Havel-Bibliothek (Tsche­chische Republik)
  • François Zimeray, ehema­liger Botschafter für Menschen­rechte (Frank­reich)
  • Emanuelis Zingeris, Vorsit­zender des Ausschusses für auswärtige Angele­gen­heiten, Parlament, Delegierter in der Parla­men­ta­ri­schen Versammlung des Europa­rates (Litauen)

 

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