Erdoğans Netzwerk: Handeln, bevor es zu spät ist
Erdoğans AKP instrumentalisiert Affären wie die um Mesut Özil, um einen Keil zwischen die Türkeistämmigen und die Herkunftsdeutschen zu treiben. Deutschland muss der ethnisch-kulturellen Spaltung entgegenwirken. Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung befördern den türkischen Nationalismus.
Mesut Özils Rücktritt aus der deutschen Fußballnationalmannschaft erhielt von der in der Türkei regierenden AKP viel Beifall. Präsident Erdoğan rief persönlich bei Özil an und gratulierte ihm zu seinem Rücktritt öffentlich mit dem Lob, er habe eine einheimische und nationale Haltung gezeigt. Zugleich feierte die AfD die Entscheidung Özils als einen „guten Tag für Deutschland“ und ein Beispiel für „gescheiterte Integration“.
Die AKP unter Erdoğan wird die Konflikte in Deutschland weiter schüren, indem sie Vorfälle wie den Fall Özil instrumentalisiert. Sie dürfte mit ihrer islamisch-nationalistischen Ideologie die Herzen der Mehrheit der Türkeistämmigen jedoch nicht gewinnen können, wenn Deutschland seine Chancen mutig ergreift.
Es ist offensichtlich, dass die islamisch-nationalistische AKP und die rechtspopulistische bis rechtsextremistische AfD die Özil-Debatte für ihre Polarisierungspolitik instrumentalisieren. Mit dem Sozialphilosophen Zygmunt Bauman könnte man vom Schüren einer „moral panic“ sprechen. Indem AKP und AfD die Stimmung aufheizen, radikalisieren sie das Fühlen und Denken der Menschen.
Erdoğan trägt ethnische und kulturelle Konflikte nach Deutschland
Zunächst ein Blick in die Türkei. Mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 sind die schütteren Reste einer pluralistischen Demokratie niedergemacht worden. Die Mehrheit der türkischen Wähler – auch jene in Deutschland – befürworten die autokratische Wende. Erdoğans Vorgehen entspricht exakt dem, was die US-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem aktuellen Buch „Wie Demokratien sterben“ beschreiben. Die autoritäre Entwicklung in der Türkei ist also keineswegs eine Besonderheit. Sie verläuft im Kontext eines globalen Aufstiegs rechtspopulistischer Bewegungen und ihres Angriffs auf Demokratie und Rechtstaat.
Mit dem Wahlergebnis vom Juni 2018 ist es Erdoğan gelungen, seine Alleinherrschaft zu institutionalisieren. Die neuen Anti-Terrorgesetze haben den Ausnahmezustand, der kürzlich formell aufgehoben wurde, faktisch zum Dauerzustand gemacht. Dies müsste neben den Verwerfungen in der Wirtschafts- und Außenpolitik ein Angriffspunkt für die Opposition sein. Doch sie befindet sich seit ihrer Wahlniederlage in einer Krise und schwächt sich durch interne Machtkämpfe. Während sich in der türkischen Zivilgesellschaft Frustration und Resignation breit macht, setzt das Regime zum nächsten Schritt an: Die ethnischen und kulturellen Konflikte, die Erdoğans Aufstieg erst möglich machten, will es in die westeuropäischen Gesellschaften tragen, insbesondere nach Deutschland.
AKP mit Rockern und Extremisten vernetzt
Die Mehrheit der türkischen Wähler in Deutschland unterstützt Erdoğans Autokratie. Schon die Diffamierung von türkeistämmigen Bundestagsabgeordneten und die antisemitischen Demonstrationen von arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen zeigten, wie erfolgreich Erdoğan den türkischen Nationalismus und sunnitischen Islam in Deutschland kultiviert und gegen die freiheitlichen Grundwerte der Bundesrepublik in Stellung bringt.
Erdoğan in die Karten spielt das weitverzweigte rechtsextrem-nationalistischen Lager der MHP/Grauen Wölfe. Es nährt die Urangst eines Auseinanderbrechens der Türkei durch innere und äußere Mächte. Gerade das Milieu der Türkeistämmigen ist für solche Untergangserzählungen empfänglich, weil das Staats- und Nationenverständnis der Türkei auf ethnischer und religiöser Homogenität gründet. Daraus leitet sich auch das Ideologem einer „Türkisch-Islamischen-Synthese“ (Türk-İslam sentezi) ab, das die starke Verbindung zwischen dem türkischen Nationalismus und dem sunnitischen Islam herstellt. Bis heute gibt es in dieser Staatsideologie keinen Platz für Minderheiten. Die Türkei grenzt Kurden, Aleviten und Nichtmuslime aus. Auch blockiert sie die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern. Über türkische Institutionen und Organisationen wird diese Ideologie in der türkeistämmigen Community verbreitet.
Die meisten türkeistämmigen AKP-Wähler werden in Deutschland durch die Netzwerke der AKP mobilisiert. In der Bundesrepublik sind das Organisationen wie das Amt für Auslandstürken (YTB), die Türkisch-Islamische Union (DITIB), der türkische Nachrichtendienst (MIT) und die Union Internationaler Demokraten (UID, früher UETD). Sie sind über die türkische Botschaft und die Generalkonsulate intensiv vernetzt. Nicht ohne Grund hat das Bundesamt für Verfassungsschutz die UID unter Beobachtung gestellt und charakterisiert sie in seinem Verfassungsschutzbericht als eine „regierungsnahe Vorfeldorganisation der AKP, die im Sinne ihrer Mutterorganisation auf politischer und gesellschaftlicher Ebene Lobbyismus für Interessen der AKP betreibt.“ Hinzu kommen Migrantenparteien wie die Allianz Deutscher Demokraten (ADD) und das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG), die als Apologeten des türkischen Regimes in der deutschen Öffentlichkeit auftreten. Auch ultranationalistische Dachverbände wie die Föderation der Idealistenvereine in Europa, die Europäisch-Türkische Union oder die Türkisch Islamische Union Europa üben Einfluss auf das soziale Leben vieler türkischsprachiger Menschen über Kultur- und Elternvereine, Unternehmerverbände, Fußballclubs und Moscheen aus.
Armee der Trolle
Die AKP hat die türkische Gesellschaft durch staatlich beeinflusste Massenmedien Schritt für Schritt verändert. Im ihrem Umfeld entstanden Medien, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Regierungspartei stehen und über die sich auch die Türkeistämmigen in Deutschland täglich informieren. Die Zeitungen und Fernsehkanäle in der Türkei sind im Besitz nur weniger großer Konzerne. AKP-freundliche Unternehmer wie zum Beispiel Orhan Kemal Kalyoncu haben die Turkuvaz Media Gruppe übernommen, bei der die Zeitung Sabah und der Sender ATV zu Hause sind. Der regierungsfreundliche Konzern Demirören kaufte dieses Jahr die Mediensparte der Doğan Holding auf, zu der unter anderem auch die Zeitung Hürriyet und der Nachrichtensender CNN-Türk gehören.
Das Erdoğan-Regime bedient zur Beeinflussung der türkeistämmigen Community natürlich auch die sozialen Netzwerke. Freedom House spricht in seinem Bericht 2016 von rund 6000 angeworbenen Usern, die Erdoğan-Anhänger rund um den Globus mit kruden Argumenten und Verschwörungstheorien versorgen. Erdoğans „Armee der Trolle“, zu denen insbesondere Twitter-User zählen, wird von engen Beratern Erdoğans geführt und steht mit regimenahen Journalisten, Beamten und Politikern im Austausch. Zu den Troll-Accounts gesellen sich Online-Seiten, deutsch-türkische Blogger und Influencer. Nach Recherchen des Bayrischen Rundfunks und von Correctiv führt die Spur dieser Blogger zur türkischen Botschaft in Berlin.
Türkische Lobbyarbeit in Deutschland gab es schon vor der AKP-Ära. Neu ist ihre Aggressivität und Gewalttätigkeit. Zuletzt etablierten sich türkisch-nationalistische Rocker- und Boxclubs. Sie gleichen Motorradgangs wie den Hells Angels oder den Bandidos, haben eine ähnlich strikte Hierarchie mit entsprechenden Regeln. Der Turkos MC beispielsweise steht der MHP nahe und seine Mitglieder pflegen Verbindungen zu den Grauen Wölfen, weshalb der Rockerclub vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Daneben gibt es die nach eigenen Angaben 2500 Anhänger zählende Osmanen Germania, die der Innenminister Anfang Juli verboten hat. Bekannt ist, dass deren Anhänger Aufmärsche der Grauen Wölfe als Ordner schützen und auch auf Pro-Erdoğan-Demonstrationen in Erscheinung treten. Nach Einschätzung des NRW-Innenministeriums stehen die Osmanen Germania in Verbindung zur türkischen Regierungspartei AKP und zum Umfeld des Präsidenten Erdoğan.
Neben der Agitation des Erdoğan-Regimes sind es allerdings auch institutionelle Diskriminierung und Alltagsrassismus im Schul- und Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche und im Umgang mit Behörden, die Türkeistämmige in die Arme von Erdoğan treiben. Die rechtsextreme Mordserie des NSU löste eine große Verunsicherung bei Türkeistämmigen aus. Viele tragen das Gefühl mit sich herum, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein und leiden an pauschalisierenden öffentlichen Diskussionen wie der Sarrazin-Debatte. Marginalisierungserfahrungen wie diese begünstigen den Rückzug auf die eigene Herkunft. Gerade die Erfahrung, als „Ausländer“ oder „Türke“ diskriminiert zu werden, nehmen viele Jugendlichen zum Anlass, nach einer scheinbar starken Identität und Autoritätsperson zu suchen. Nicht ohne Grund identifizieren sich viele Türkeistämmige in Deutschland mit der Politik von Erdoğan und fühlen sich teilweise mit der Türkei mehr verbunden als mit Deutschland. Auffällig ist, dass die zweite Generation der Türkeistämmigen Erdoğan stärker unterstützt als die erste Generation, wie der Politikwissenschaftler Achim Goerres in einer Studie feststellte. Auf Ausgrenzung folgt Abgrenzung.
Migranten Gehör schenken
Ob der AKP die Spaltung der deutschen Gesellschaft gelingt, ist noch offen. Vieles hängt davon ab, ob hierzulande die Politik und Gesellschaft auch jenen Migranten Gehör schenkt, die sich zuletzt unter dem Hashtag #metwo zu Wort meldeten und ihre Erfahrungen mit dem Alltagsrassismus teilten. Die Debatte fordert Deutschland heraus. Sie bietet aber auch eine Chance, mit geeigneten Konzepten und Maßnahmen der gesellschaftspolitischen Polarisierung entgegenzuwirken.
Die Politik muss gemeinsam mit der Zivilgesellschaft an einem Klima der Anerkennung und Wertschätzung der sprachlich-kulturellen Vielfalt in Deutschland arbeiten und ein pluralistisches Selbstbild bzw. ein demokratisches „Wir-Gefühl“ schaffen, womit sich auch Menschen mit Migrationshintergrund identifizieren können.
Um nur einige Handlungsempfehlungen zu nennen, sind dringend umfangreiche Reformen in der Bildungspolitik, Stärkung der politischen Partizipation und Politischen Bildung und ein entschiedener Kampf gegen Rassismus und Ungleichwertigkeitsideologien angesagt. Auch eine pädagogische Präventions- und Interventionsarbeit ist vonnöten, die Desintegrationsprozesse in Jugendkulturen frühzeitig erkennt und diesen entgegenwirkt, ohne dabei junge Menschen vorschnell zu etikettieren oder auszugrenzen.
Die AKP unter Erdoğan wird die Konflikte in Deutschland weiter schüren, indem sie Vorfälle wie den Fall Özil instrumentalisiert. Sie dürfte mit ihrer islamisch-nationalistischen Ideologie die Herzen der Mehrheit der Türkeistämmigen jedoch nicht gewinnen können, wenn Deutschland seine Chancen mutig ergreift.
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