Die Zukunft Europas in Zeiten des russi­schen Angriffskriegs

Foto: Christoph Becker

Am 16. Oktober 2023 disku­tierten Orysia Luze­witsch, Ralf Fücks, Miroslav Wlachovsky und Jaroslaw Kurfürst die Zukunft Europas in Zeiten des russi­schen Angriffs­kriegs. Die gleich lautende Podi­ums­dis­kus­sion fand im Rahmen der Forum 2000-Konferenz in Prag statt und war eine deutsch-tsche­chi­sche Koope­ra­tion zwischen dem Zentrum Liberale Moderne und der Forum 2000 Stiftung.

Jaroslav Kurfürst, Gene­ral­di­rektor Europa im tsche­chi­schen Außen­mi­nis­te­rium, führte durch die Diskus­sion und bat Ralf Fücks eingangs um Erläu­te­rung, wie sich der viel zitierte Ausspruch von Bundes­kanzler über die „Zeiten­wende“ konkret auf die deutsche Außen- und Sicher­heits­po­litik auswirke. Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne betonte, dass trotz der prokla­mierten „Zeiten­wende“ die deutsche Unter­stüt­zung für die Ukraine von einer gewissen Ambi­guität geprägt sei. Die zeige sich auch im vom Kanzler geprägten Paradigma, nach dem die Ukraine nicht verlieren und Russland nicht gewinnen dürfe. Niemals jedoch habe der Kanzler gesagt, die Ukraine solle diesen Krieg gewinnen, damit sie ihre terri­to­riale Inte­grität wieder voll­ständig herstellen könne. Die Folge sei eine zöger­liche Haltung bei den Waffen­lie­fe­rungen an die Ukraine, die gerade ausrei­chend seien, nicht zu unter­liegen, aber unzu­rei­chend, um erfolg­reich eine Gegen­of­fen­sive zu führen. Bei den Waffen­lie­fe­rungen laute das Resumée: „Too little, too late“. Das gebe jedoch Putin Manö­ver­frei­heit. Denn dessen Strategie sei es, auf Zeit zuspielen in der Hoffnung, dass der Westen eines Tags der Unter­stüt­zung für die Ukraine müde werde.

Orysia Luze­witsch, stell­ver­tre­tende Leiterin des Eurasien-Programms von Chatham House, wies darauf hin, dass Russland nicht nur Krieg gegen die Ukraine führe. Dessen Truppen seien in Syrien und Afrika aktiv. Für Russland gehe es um ein globales Hand­lungs­feld. Der Krieg gegen die Ukraine sei nur ein Teil eines größeren Plans Russlands, den es einzu­dämmen gelte.

Für die Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer gehe es in dem Krieg nicht nur um Terri­to­rium, dass man drohe zu verlieren, so Luze­witsch. Putin habe erklärt, dass er die Ukraine als Ganzes vernichten wolle. Die Ukrainer wüssten also, wofür sie kämpften. Während die Ukraine für die Zukunft kämpfe, kämpfe Russland für die Vergangenheit.

Ralf Fücks ergänzte, dass es in dem Krieg in der Ukraine um einen grund­le­genden Konflikt über die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung gehe, wenn nicht um die Zukunft der inter­na­tio­nalen Ordnung an sich. Der slowa­ki­sche Außen­mi­nister Miroslav Wlachovsky mahnte an, man müsse sich verge­gen­wär­tigen, was der Preis für Nicht­han­deln in diesem Konflikt sei. Ein Problem sei auch, dass man immer noch keine ausrei­chenden Herstel­lungs­ka­pa­zi­täten für Waffen und Munition habe und teilweise auch deshalb die Ukraine nicht im nötigen Maß unter­stützen könne.

Jaroslav Kurfürst fragte die Diskus­si­ons­teil­nehmer, für wie realis­tisch sie die Pläne für einen EU-Beitritt der Ukraine einschätzten. Ralf Fücks betonte, man müsse die Beitritts­ver­hand­lungen mit der Ukraine beschleu­nigen. Die Ukraine sei hierfür bereit. Wir sollten die Ukraine nicht als Bürde, sondern als Gewinn für die EU verstehen, so Fücks. Der Beitritt der Ukraine sei für beide Seiten ein win-win. Das gelte für die eigene Sicher­heit der EU, denn die Ukraine stelle ein Bollwerk gegen die russische Aggres­sion dar. Aber auch wirt­schaft­lich könne die EU von der Ukraine profi­tieren. Insbe­son­dere die lebendige Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine sei ein Gewinn für die EU.

Jaroslav Kurfürst verwies auf die Diskus­sion, ob die EU sich zuerst selbst refor­mieren müsse, bevor sie für die Aufnahme neuer Mitglieder bereit sei. Schließ­lich sei die Union in der bestehenden Größe häufig bereits am Rande ihrer Hand­lungs­fä­hig­keit angelangt. Insbe­son­dere das Vetorecht der Mitglied­staaten stelle mitunter eine erheb­liche Hürde dar, wie sich am Beispiel Ungarns im Umgang mit Sank­ti­ons­be­schlüssen gegen Russland zeige.

Ralf Fücks betonte, man dürfe nicht in die Falle tappen, die Reform der EU gegen die Erwei­te­rung auszu­spielen. Dies würde endloses Warten für die Ukraine zur Folge haben. Gleich­wohl sei die Reform der EU eine enorme Heraus­for­de­rung. Die Frage sei, wie man Einigkeit in Vielfalt in einer größeren EU herstellen können. Orysia Luze­witsch verwies darauf, dass für die Ukraine die Mitglied­schaft in EU und NATO Teil des ange­strebten Sieges sei. Sie zähle zu den Motiven, wofür man unter anderem in dem Krieg kämpfe.

Jaroslav Kurfürst fragte die Podi­ums­teil­nehmer, wie der Westen mit den nuklearen Drohungen Putins umgehen solle. Außen­mi­nister Miroslav Wlachovsky betonte, das Spiel mit der Angst vor einer nuklearen Eska­la­tion sei Teil der russi­schen Strategie. Ralf Fücks pflich­tete ihm bei und wies darauf hin, dass der Westen über ausrei­chend Kapa­zi­täten zur nuklearen Abschre­ckung verfüge. Die USA hätten Putin deutlich zu verstehen gegeben, dass der Einsatz von Nukle­ar­waffen keinerlei Option darstelle. Der Westen dürfe sich von Putins Drohungen nicht einschüch­tern lassen. Politisch sei dies auch unser Krieg, so Fücks. Hier gehe es um Frieden und Demo­kratie in Europa und die regel­ba­sierte inter­na­tio­nale Ordnung.

Aus dem Publikum meldete sich Toomas Hendrik Ilves, der ehemalige Präsident Estlands, zu Wort. Er betonte, man müsse diesen Krieg in seiner Dring­lich­keit verstehen. Schließ­lich hätten wir im nächsten Jahr Präsi­dent­schafts­wahlen in den USA. Als Folge könnte sich Europa sehr schnell in einer Situation wieder­finden, die der fran­zö­si­sche Präsident einmal als „stra­te­gi­sche Autonomie Europas“ umschrieben habe. Jedoch komme dieser Schritt viel­leicht schneller, als beab­sich­tigt, und könne Europa völlig unvor­be­reitet treffen, sollte eine neue Admi­nis­tra­tion in den USA beschließen, nicht länger mit seinem Vertei­di­gungs­budget die Sicher­heit Europas finan­zieren zu wollen. Es gehe für Europa im Krieg Russlands gegen die Ukraine also um Zeit und Dring­lich­keit. Nichtstun sei gefähr­lich. Dass Nichtstun einen Preis habe, können man zwei­fels­frei an der soge­nannten Surowikin-Linie, dem verminten Vertei­di­gungs­wall der russi­schen Armee, sehen. Indem man der Ukraine nicht ausrei­chend Waffen für die Gegen­of­fen­sive im Herbst 2022 geliefert habe, habe Russland Zeit gewonnen die Surowikin-Linie aufzu­bauen. Nun stelle diese Linie ein schwer über­wind­bares Hindernis für die ukrai­ni­sche Gegen­of­fen­sive dar, so Ilves.

Jaroslav Kurfürst fragte Ralf Fücks, ob die „Zeiten­wende“ am nötigen Geld scheitere. Letztlich sei das keine Frage des Geldes, meinte Fücks. Es gehe um poli­ti­schen Willen und Führung. Das Ergebnis des Krieges werde eine entschei­dende Bedeutung für unsere eigene Zukunft haben. Und leider sei die Zeit nicht auf unsere Seite, sondern spiele in Putins Hände. Wir sollten also unsere Bemü­hungen verstärken, so Fücks.

Ebenfalls aus dem Publikum meldete sich der russi­schen Menschen­rechts­ver­tei­diger Juri Dschibladse zu Wort. Er warnte, Russland habe noch eine Menge weiterer Instru­mente in seinem Arsenal, um weitere Regionen zu desta­bi­li­sieren. Dies könne man auf dem West­balkan, im Nahen Osten und in Afrika beobachten.

Wir müssten mutiger und schneller werden, fasste Jaroslav Kurfürst die Ergeb­nisse der Podi­ums­dis­kus­sion zusammen.

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