Warum Macron einen neuen politischen Liberalismus verkörpert
Der Liberalismus war in Frankreich jahrzehntelang als trojanisches Pferd des Laissez-faire-Kapitalismus verschrien. Zuletzt deutete sich ein Bedeutungswandel an – bestimmt er bald den Zeitgeist?
Jahrzehntelang war es in Frankreich die sicherste Methode, eine politische Karriere zu begraben, wenn man sich als „libéral“ bekannte oder gar seine politische Bewegung durch dieses Adjektiv definierte. Alain Madelin, immerhin mehrfach Minister in den 80er und 90er Jahren, versuchte es 1997 mit seiner Partei „Démocratie Libérale“: Bei der Präsidentschaftswahl 2002 bescherte ihm das Bekenntnis dünne 3,91% der Stimmen.
Madelin war es nicht gelungen, die Verengung des Liberalismus auf seine ökonomische Dimension aufzubrechen, die sich im öffentlichen Diskurs Frankreichs damals eingeschliffen hatte. Wer sich auch nur vorsichtig zur politischen Idee des Liberalismus bekannte, wurde umgehend als „néo-libéral“ denunziert, bevor er als „ultra-libéral“ an den Pranger gestellt wurde. In der politischen Kommunikation wurde der Liberalismus zum Kainsmal.
Frankreich wird in den kommenden Jahren zum spannenden und aufschlussreichen Feldversuch über die Verteidigung der liberalen Demokratie.
Der Grund ist, dass die Franzosen den Liberalismus als ein trojanisches Pferd verstanden, das dem Laissez-faire-Kapitalismus angloamerikanischer Prägung Zugang zu Frankreich verschafft; als Totengräber der öffentlichen Dienste, der Steuergerechtigkeit und jeglicher Umverteilungspolitik, als Wegbereiter des endgültigen Triumphs der „Märkte“, als das Ende von Politik.
Gegen dieses Zerrbild Stellung zu beziehen, erforderte von Politikern eine gehörige Portion Mut und klare Überzeugungen; zwei Tugenden, mit denen die „classe politique“ Frankreichs im vergangenen Vierteljahrhundert nicht im Übermaß gesegnet war.
Die radikale Bedeutungsverengung einer politischen Idee ist in der historischen Perspektive umso erstaunlicher, als Frankreich eine ganze Reihe herausragender Vordenker der liberalen Moderne hervorgebracht hat: von Constant über Tocqueville bis zu Bastiat, um nur einige zu nennen. Datieren kann man die Verengung auf das Ende der 80er Jahre, als die vom Neoliberalismus amerikanischer Schule geprägte Politik Ronald Reagans und Margaret Thatchers die Regierungen auf dem europäischen Kontinent zu beeinflussen begann.
Ein Schlüsseldatum ist das Referendum über den Vertrag von Maastricht im September 1992. Ihm war eine lange Debatte vorausgegangen, die sich nicht nur auf die Frage der nationalen Souveränität bezog, sondern auch auf den „liberalen“ Charakter der sich abzeichnenden Europäischen Union, die aus französischer Sicht das von Jacques Delors gegebene Versprechen eines „sozialen Europas“ verriet.
Im Frühjahr 2005, beim Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag, wurde die Auseinandersetzung über die vermeintliche Dichotomie „liberal vs. sozial“ erneut ausgetragen, und nahm diesmal teils hysterische Züge an. Der Streit führte bis zur Infragestellung des Begriffs „soziale Marktwirtschaft“, den Linke als heuchlerisches Oxymoron brandmarkten. Wenngleich das „Non“ der Franzosen zahlreichen Ursachen geschuldet sein mag, ist es doch naheliegend, dass sie das erweiterte Europa vor allem seiner angeblich „ultra-liberalen“ Prägung wegen ablehnten.
In den deutschen Medien werden Bedenken dieser Art in der Regel als ein für Frankreich typischer protektionistischer Reflex achselzuckend abgetan. Das ist, mit Verlaub, ein plumpes Stereotyp, und deutlich zu kurz gegriffen.
Während die wiedervereinigte Bundesrepublik in den 90er Jahren mit sich selbst beschäftigt war, debattierte Frankreich bereits über den Siegeszug der Globalisierung und, damit verknüpft, über die neoliberalistische Ideologie. Die von Denkern wie Pierre Bourdieu und Zeitschriften wie Le Monde diplomatique getragene intellektuelle Kritik des Liberalismus fand starken Widerhall quer durch alle Gesellschaftsschichten, indem sie massiv von Akteuren der Populärkultur aufgegriffen wurde.
Bücher wie L’horreur économique (1996), Viviane Forresters 350 000 Mal verkaufte Abrechnung mit dem Globalisierungskapitalismus; die Hymne gegen die Konsumgesellschaft „Foule sentimentale“ von Alain Souchon (1993), die 2005 zum besten Chanson der letzten Jahrzehnte gewählt wurde; ein Film-Manifest wie „Germinal“ (1994) mit seinen sechs Millionen Kinobesuchern; auch die bissige antikapitalistische Satire im 1992 aus zehnjähriger Versenkung wiederauferstandenen Satiremagazins Charlie Hebdo oder in den TV-Shows der Guignols de l’Info, die über das ganze Jahrzehnt hinweg Woche für Woche den abgrundtiefen Zynismus der sogenannten „World Company“ geißelten – es wäre ein Fehler, die nachhaltige Wirkung solcher Ausdrucksformen auf die politische Semantik des Schlüsselworts „libéral“ zu unterschätzen.
In diesem diskursiven Klima ist es verständlich, dass Politiker jeder Couleur davor zurückschrecken mussten, sich als liberal zu bezeichnen.
Umso mehr ließ Emmanuel Macron gleich zu Beginn seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2017 aufhorchen, als er sich unverblümt und offensiv zum Liberalismus als einem ursprünglichen „Wert der Linken“ bekannte. Noch als der krasse Außenseiter, als der er gestartet war, bemühte sich Macron um ein fortschrittliches Verständnis des Begriffs „libéral“: „Ein echter Liberaler greift die Besitzstände an, die Blockaden in der Wirtschaft; er wirkt auf soziale Mobilität hin, anstatt diejenigen zu bevorteilen, die sowieso schon Erfolg haben!“ (Le Monde, 25.11.2016).
Was vielen Beobachtern halsbrecherisch erschien, erwies sich als erfolgreich, was umso mehr verwundert, weil Macron zugleich ebenso offensiv für die Errungenschaften und das Potential der Europäischen Union eintrat. Offenbar war die Zeit reif für die Rehabilitierung des Liberalismus. Tatsächlich konnte, wer in den vergangenen Jahren genauer hingeschaut hatte, bereits Anzeichen für den erneuten Bedeutungswandel des Liberalismus – zurück zum Verständnis Constants, Tocquevilles und Bastiats – erkennen.
Beispielsweise fanden neue Thinktanks mit liberaler Ausrichtung wie das „Institut Montaigne“ (gegründet 2000), „Terra Nova“ (2008) oder „Génération Libre“ (2013) zunehmend Gehör in den Medien. Auch zeigte im April 2016 das Politbarometer des Instituts ODOXA, dass sich die öffentliche Meinung wandelte: Während eine deutliche Mehrheit der Franzosen den Liberalismus als „wirtschaftlich-philosophisch-politische Ideologie“ nach wie vor ablehnten, befürworten sie doch zugleich liberale Reformvorhaben, etwa die Verminderung der öffentlichen Ausgaben, die Verringerung der Beamtenzahl und eine Reform des Rentensystems. Rückblickend fällt auf, dass als die liberalste Persönlichkeit unter den zehn führenden Politikern des Landes nicht etwa die Präsidentschaftskandidaten der Rechten, Fillon und Juppé, identifiziert wurden, sondern einer, der seine Kandidatur noch nicht bekannt gegeben hatte, und noch Minister einer sozialistischen Regierung war, nämlich Emmanuel Macron.
Ob Macron mit dem Bekenntnis zum Liberalismus Erfolg haben wird, oder scheitert, ist Anfang 2018 noch nicht abzusehen. Was der französische Präsident allerdings schon eindrucksvoll bewiesen hat, ist der Mut, für eine dem Anschein nach unpopuläre Überzeugung in einer Zeit populistischer Stimmungsmache einzustehen. Frankreich wird in den kommenden Jahren zum spannenden und aufschlussreichen Feldversuch über die Verteidigung der liberalen Demokratie.
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