Jetzt rächt sich Europas Passi­vität in Belarus

Proteste in Minsk, Belarus, am 16.08.2020, Foto: Homoatrox /​ CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

Die EU hat sich über Jahre in Belarus passiv verhalten. Zu groß war die Sorge vor einem weiteren Konflikt­herd in der Nach­bar­schaft Putins. Nun steht Brüssel vor einem großen Dilemma.

Der Zusam­men­prall zwischen dem Auto­kraten Lukaschenka und einer uner­wartet kraft­vollen demo­kra­ti­schen Oppo­si­tion hat Belarus wieder auf die euro­päi­sche Landkarte gebracht. Vor fast genau zehn Jahren gab es schon einmal einen Versuch, das verknö­cherte Regime abzu­schüt­teln, das in vielem noch an sowje­ti­sche Verhält­nisse erinnert. Auch damals gab es Massen­pro­teste gegen Wahl­fäl­schungen. Sie wurden mit eiserner Faust niedergeschlagen.

Die EU verhängte Sank­tionen und lockerte sie später wieder. Das Land ist Teil der euro­päi­schen Nach­bar­schafts­po­litik, von einer aktiven Belarus-Politik blieb die EU aber weit entfernt. Das System Lukaschenka wirkte anachro­nis­tisch, schien aber eini­ger­maßen stabil, und nach der Ukraine verspürte man weder in Berlin noch in Brüssel große Neigung auf den nächsten geopo­li­ti­schen Konflikt mit Putin.

Diese Passi­vität rächt sich jetzt. Es zeigt sich, dass ein Großteil der bela­rus­si­schen Gesell­schaft mit dieser Art von Schein­sta­bi­lität nicht mehr leben will. Weit­ge­hend unbemerkt vom Westen entwi­ckelte sich eine zivil­ge­sell­schaft­liche Gegen­kultur, die sich von den Partei­ri­va­li­täten der früheren Oppo­si­tion eman­zi­pierte. Die andau­ernde wirt­schaft­liche Misere des Landes und das groteske Miss­ma­nage­ment der Corona-Krise durch Lukaschenko verstärkten den Überdruss in der Bevölkerung.

Die Präsi­dent­schafts­wahlen wurden zum Ventil für den Wunsch nach Verän­de­rung. Trotz des allge­gen­wär­tigen Über­wa­chungs­ap­pa­rats wurde das Regime von der Breite und dem Schwung dieser Bewegung über­rascht. Es waren drei mutige Frauen, die dem Protest Gesicht und Stimme gaben, an der Spitze die Englisch­leh­rerin Swetlana Tich­anows­kaja. Sie sprang in die Bresche, nachdem ihr Mann, der Blogger Sergej Tich­anowski, inhaf­tiert und von der Kandi­datur ausge­schlossen wurde.

Lukaschenka klammert sich mit aller Gewalt an die Macht. Dennoch ist nicht ausge­macht, ob es ihm noch einmal gelingt, die Proteste zu ersticken. Vieles deutet auf eine revo­lu­tio­näre Situation, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“, um einen bekannten Revo­lu­ti­ons­experten zu zitieren.

Man muss damit rechnen, dass Lukaschenka über Leichen gehen wird, um seine Macht zu retten. Auch Putin wird alles daran­setzen, eine weitere „bunte Revo­lu­tion“ vor seiner Haustür zu verhin­dern. Darin stimmen die Inter­essen des Kreml mit denen Lukaschenkas überein. Putin war denn auch der erste auslän­di­sche Staats­chef, der dem bela­ru­si­schen Auto­kraten zu seiner Wieder­wahl gratu­lierte. Man wird sehen, wie lange er an ihm festhält oder ob er noch einen anderen Joker im Ärmel hat.

In die Arme Chinas

Die EU steht vor einem Dilemma. Verhängt sie erneut empfind­liche Sank­tionen gegen das Regime, treibt sie Lukaschenka womöglich noch stärker in die Arme des Kreml und der chine­si­schen Führung, die Belarus bereits als poten­zi­elle Einfluss­zone entdeckt hat. Es lediglich bei verbalen Mahnungen zu belassen würde sie den letzten Rest an Glaub­wür­dig­keit kosten. Gegen­wärtig bleibt wenig mehr, als alle Möglich­keiten der Begegnung zu fördern: kosten­lose Visa für die jüngere Gene­ra­tion, Kultur­aus­tausch, Wissen­schafts­ko­ope­ra­tion und Unter­stüt­zung für die demo­kra­ti­sche Opposition.

Lang­fristig braucht Belarus wie die anderen Länder der „östlichen Part­ner­schaft“ eine glaub­wür­dige Perspek­tive euro­päi­scher Inte­gra­tion. Den größten Beistand kann die EU leisten, wenn sie dem Kreml die klare Botschaft über­mit­telt, dass jede mili­tä­ri­sche Inter­ven­tion in Belarus gravie­rende Folgen für die beider­sei­tigen Bezie­hungen hätte. Zumindest das sind wir all jenen schuldig, die jetzt Kopf und Kragen für Werte Europas riskieren.


Dieser Text erschien zuerst am 11. August 2020 auf in der Welt.

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