Europäische Union: Die Nation taugt nur noch als Filterblase

© European Union 2019 – Source : EP /​ Flickr [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)]

Die Europäische Union muss durch Öffent­lichkeit und Parteien neu erstritten werden. Unser Autor Markus Schubert meint: dafür braucht es dringend einen europäi­schen Rundfunk und trans­na­tionale Wahllisten.

Wenn die neue Kommission nun endlich, Monate nach der Europawahl, ihre Arbeit aufnimmt, kann sie sich auf eine breite pro-europäische Mitte im Parlament stützen. Die vereinten Natio­na­listen sind zwar gestärkt, bleiben aber ein Randphä­nomen. Außer der Ablehnung einer weiteren Vertiefung der supra­na­tio­nalen Koope­ration in der EU hält sie wenig zusammen. Die Kommission, der EuGH und das Parlament sind dezidiert proeu­ro­päisch. Aber die EU-Insti­tu­tionen können die europäische Idee nicht  aus sich heraus beleben. Der Blick auf das Entstehen der politi­schen Nationen in Europa, die jetzt auf eine neue, der Globa­li­sierung angemessene Handlungs­ebene gehoben werden müssen, legt nahe: Es braucht Orte für eine europäische Willens­bildung, also trans­na­tionale Parteien und einen länder­über­grei­fenden Nachrichten- und Unterhaltungskanal.

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Um trans­na­tionale Parteien zu schaffen, müssen die proeu­ro­päi­schen Kräfte in der EU das Wahlrecht so ändern, dass die Europawahl nicht mehr eine Addition der Sitze aus 28 bzw. 27 natio­nalen Wahlgängen, sondern eine echte europa­weite Wahl ist und im Wahlkampf auch entspre­chend bespielt wird. Die „Spitzenkandidaten“-Lösung mit dem Anspruch auf die Kommissionspräsident­schaft war dabei nur ein Demokra­tie­sur­rogat und der durch­sichtige Versuch, das frühere Duopol der beiden großen Fraktionen von Christ­de­mo­kraten und Sozial­de­mo­kraten über ihre abseh­baren Verluste hinweg in die Zukunft zu verlängern.

Eine Lösung für die kommende Wahl kann darin bestehen, nur europa­weite (oder in einer Mindest­anzahl von Ländern präsente) Listen antreten zu lassen, die man dann überall wählen kann. Davon profi­tieren wiederum pro-europäische Partei­en­fa­milien, die sich leichter zusam­men­finden, während Natio­na­listen entweder alleine antreten oder sich in fragilen, eher takti­schen als politi­schen Allianzen arran­gieren müssen.

Trans­na­tionale Listen erzwingen klare Haltung gegen „Schmud­del­kinder“

Das wiederum würde die Wahlkämpfe – aber auch schon die Perso­nal­re­kru­tierung und die Programm­er­stellung – deutlich trans­na­tio­naler werden lassen. Mit dem Unfug, nationale Symbol­themen (Grund­rente, Natio­nal­hymne oder Kopftuch­verbote) zur Mobili­sierung und Polari­sierung heran­zu­ziehen, wäre dann Schluss. Die Grünen sind auch dafür belohnt worden, dass sie ein echt konti­nen­tales Thema (Klima) in den Vorder­grund gestellt haben. Die Aufstellung von europa­weiten Listen für Sozial­de­mo­kraten, Christ­de­mo­kraten, Grüne, Linke, Liberale, Natio­na­listen und Konser­vative führt zur Aushe­belung der klassi­schen Perso­nal­findung im Hinter­zimmer und mindert den Einfluss von Seilschaften: es wird ein fröhliches Hauen und Stechen, bei dem sich dieje­nigen Kandi­daten durch­setzen, die über ihre nationale Grenzen hinaus überzeugend auftreten und zumindest innerhalb ihrer Partei­en­fa­milie Profil gewinnen. Es verlangt Empathie und Zurück­haltung von den „Großen“, weil sie zwar leicht Listen dominieren können, aber ja zugleich der Sorge der Parteien aus kleineren EU-Staaten, hierbei überrollt zu werden, durch Überkom­pen­sierung und Förderung entge­gen­wirken müssen, um einen europa­weiten Wahlerfolg zu sichern. Und es verlangt deutlich früher als jetzt eine klare Haltung gegenüber den Schmud­del­kindern wie Fidesz (Ungarn) bei Christ­de­mo­kraten, die mit Rechts­extremen koalie­rende Keske­rakond (Estland) bei den Liberalen oder PSD (Rumänien) bei den Sozialdemokraten.

Diese Europäi­sierung des Partei­en­wesens muss einher­gehen mit einer Stärkung europäi­scher Medien. Darüber habe ich  in einem Sammelband*, der vom zeitwei­ligen ÖVP-Chef Michael Spinde­legger heraus­ge­ge­benen wurde, vor zehn Jahren geschrieben: “Noch betrügen Politik und Medien Hand in Hand die Europäer um ihre Öffent­lichkeit. Für Medien und Politik hat das gleicher­maßen fatale Folgen: Dem Kontinent der Kreati­vität droht die geistige Austrocknung.“ An dem Befund hat sich wenig geändert. Noch immer sitzen in den Haupt­stadt­büros/-studios in Berlin tenden­ziell zu viele Korre­spon­denten und in Brüssel zu wenige. Noch immer laufen letztere unter „Auslands­kor­re­spon­denten“. Noch immer ist der Blick auf den EU-Rat ein natio­naler („Was hat unsere Kanzlerin, unser Landwirt­schafts­mi­nister erreicht?“) Noch immer sind die Kommissare und das EP und seine Fraktionen und die Willens­bildung dort unter­be­lichtet. Noch immer wird auch bei zentralen natio­nalen politi­schen Fragen (Digitales, Energie­po­litik, Integration, Bildungs­wesen) zu wenig auf funktio­nie­rende (oder auf bereits anderswo geschei­terte) Beispiele aus den übrigen EU-Staaten geblickt. Das gilt für Parteien wie Medien.

Den Blick­winkel weiten

Die wenigen personal- und kosten­in­tensiv sendenden Infor­ma­ti­ons­kanäle (wie BBC World News Europe oder France24) sind national aufge­stellt. Euronews wirkt dagegen immer noch wie ein Garagen­sender. Natürlich gibt es Platt­formen für Europa-Nerds wie POLITICO Europe, Euractiv, Eurotopics, oder eine Reihe von natio­nalen Zeitungen mit Weitblick und inter­na­tio­nalen Editionen, aber wo ist DER europäische Infor­ma­tions- und Kultur­kanal, der als Online-Plattform und Mediathek inklusive Livestream bis zum abend­lichen Mix aus 20 Uhr-Nachrich­ten­ma­gazin, Repor­tagen, Talksen­dungen, europäi­schen Serien, Filmen und Konzerten den Kontinent wirklich tiefen­scharf ausleuchtet und seine Stärken zum Vorschein bringt? Mit dem Input etlicher großer und vieler kleiner öffentlich-recht­licher Sender in Verbindung mit einem Netzwerk europäi­scher Quali­täts­zei­tungen und einem EU-finan­zierten Überset­zungs- bzw. Unter­ti­telungs­service ließe sich ein publi­zis­ti­sches Feuerwerk zünden. Es geht dabei nicht um Pro-EU-Propa­ganda; es geht um die Weitung und den steten Wechsel des Blick­winkels und um ein Durch­stoßen der natio­nalen Filter­blase. Europa ist ja Realität, sie wird nur unzurei­chend sichtbar und verstehbar gemacht (außer in löblichen aber nischen­haften Nachmit­tags­for­maten wie ZDF „heute in Europa“.)

Eine – immer wieder auffla­ckernde – Debatte um einen ARD-ZDF-Infokanal geht in die verkehrte Richtung. „Ein natio­naler Sender würde die natio­nalen Medien­blasen in Europa manifes­tieren und wäre ein Anachro­nismus im Integra­ti­ons­prozess Europas“, so der Politik- und Kommu­ni­ka­ti­ons­be­rater Johannes Hillje im Frühjahr im Gespräch mit dem Evange­li­schen Presse­dienst. „Ohne eine europäische Öffent­lichkeit wird es eine lebendige europäische Demokratie niemals geben.“

Dabei wäre kein Hindernis, wenn Rechts­po­pu­listen in Ländern wie Italien, Polen oder Ungarn einen Beitritt des natio­nalen öffentlich-recht­lichen Rundfunks zu dieser paneu­ro­päi­schen Medien­plattform vorerst blockierten. Vielmehr würde dieser Verbund – wie einst Radio Free Europe von West nach Ost – von außen in diese gefähr­deten Demokratien einstrahlen und als Bypass die demokra­tische Öffent­lichkeit stabilisieren.

Plädoyer für einen europäi­schen Senderverbund

Die oben skizzierte, und zunächst verwirrend wirkende Europäi­sierung des Partei­en­wesens wäre auf eine solche Medien­plattform angewiesen. Man kann sie sich zudem als Austausch­plattform für Blogger, aber auch Musik- oder Modeszenen und und und … vorstellen. Nicht um zu unifor­mieren, sondern um Vielfalt zur Geltung zu verhelfen. In Europa und natürlich weltweit ausstrahlend. Klar sollte sein, dass öffentlich geför­derte europäische Filme, Serien, Dokumen­ta­tionen, Spiele hier einen (je nach Förderung primären oder sekun­dären) Ausspielweg vorfinden.

Schließlich kann sich Europa damit – zum Beispiel auch mit einer Suchma­schi­nen­funktion – vor einer Fremd­be­stimmung durch US-ameri­ka­nische oder chine­sische Algorithmen wappnen. „Wie müsste eine soziale Plattform beschaffen sein, auf der man sich gerne aktiv mit Fremden austauscht?“, fragte die Süddeutsche Zeitung im März und gab auch die Antwort: „Sie müsste erstens öffentlich-rechtlich sein; und zweitens trotzdem Spaß machen. […] Sie könnte zugleich etwas schaffen, das der EU bitterlich fehlt: eine europäische Öffent­lichkeit, in der endlich alle mitein­ander, statt immer nur überein­ander reden.“  An dieser Stelle fügt sich auch die Initiative von Robert Habeck und Malte Spitz für europäische social media-Netzwerke ein.

Auch der BR-Intendant Ulrich Wilhelm hat eine solche Plattform Oktober vergan­genen Jahres im Vorfeld der Münchener Medientage angemahnt und gibt eine Ahnung von den notwen­digen Inves­ti­ti­ons­summen: „Was mir vorschwebt, ist keine staat­liche Lenkung von Inhalten. Da gilt, was immer gilt: Medien müssen unabhängig und staatsfern sein. Die Rolle des Staates ist indus­trie­po­li­tisch notwendig, damit überhaupt eine solche Infra­struktur entstehen kann, und um die unter­schied­lichen Akteure in Europa zu versammeln.“

Keine Demokratie ist durch die schiere Gunst abtre­tender Autokraten entstanden, die ihre Zeit für abgelaufen hielten. Sie wurden durch eine Öffent­lichkeit und Parteien erstritten, begünstigt von immer progres­si­verem Wahlrecht.

Ein europäi­scher Sender­verbund würde besser in der Lage sein, Politik – ob in Brüssel oder in Haupt­städten in Nord- oder Süd- oder Osteuropa – zu kontrol­lieren und eine breite Öffent­lichkeit herzu­stellen, wo sich Natio­nal­po­pu­listen am liebsten mit aufge­kauften oder einge­schüch­terten Medien in einer natio­nalen Filter­blase einrichten – es ist Zeit, diese aufzustechen!

 

*) Markus Schubert: Wo ist die Europäische Öffent­lichkeit? In: Thomas Köhler, Christian Mertens, Christoph Neumayer, Michael Spinde­legger (Hg.): Strom­ab­wärts. In Mäandern zur Mündung – Christ­de­mo­kratie als kreatives Projekt. Wien 2008.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.