Europäische Union: Die Nation taugt nur noch als Filterblase
Die Europäische Union muss durch Öffentlichkeit und Parteien neu erstritten werden. Unser Autor Markus Schubert meint: dafür braucht es dringend einen europäischen Rundfunk und transnationale Wahllisten.
Wenn die neue Kommission nun endlich, Monate nach der Europawahl, ihre Arbeit aufnimmt, kann sie sich auf eine breite pro-europäische Mitte im Parlament stützen. Die vereinten Nationalisten sind zwar gestärkt, bleiben aber ein Randphänomen. Außer der Ablehnung einer weiteren Vertiefung der supranationalen Kooperation in der EU hält sie wenig zusammen. Die Kommission, der EuGH und das Parlament sind dezidiert proeuropäisch. Aber die EU-Institutionen können die europäische Idee nicht aus sich heraus beleben. Der Blick auf das Entstehen der politischen Nationen in Europa, die jetzt auf eine neue, der Globalisierung angemessene Handlungsebene gehoben werden müssen, legt nahe: Es braucht Orte für eine europäische Willensbildung, also transnationale Parteien und einen länderübergreifenden Nachrichten- und Unterhaltungskanal.
Um transnationale Parteien zu schaffen, müssen die proeuropäischen Kräfte in der EU das Wahlrecht so ändern, dass die Europawahl nicht mehr eine Addition der Sitze aus 28 bzw. 27 nationalen Wahlgängen, sondern eine echte europaweite Wahl ist und im Wahlkampf auch entsprechend bespielt wird. Die „Spitzenkandidaten“-Lösung mit dem Anspruch auf die Kommissionspräsidentschaft war dabei nur ein Demokratiesurrogat und der durchsichtige Versuch, das frühere Duopol der beiden großen Fraktionen von Christdemokraten und Sozialdemokraten über ihre absehbaren Verluste hinweg in die Zukunft zu verlängern.
Eine Lösung für die kommende Wahl kann darin bestehen, nur europaweite (oder in einer Mindestanzahl von Ländern präsente) Listen antreten zu lassen, die man dann überall wählen kann. Davon profitieren wiederum pro-europäische Parteienfamilien, die sich leichter zusammenfinden, während Nationalisten entweder alleine antreten oder sich in fragilen, eher taktischen als politischen Allianzen arrangieren müssen.
Transnationale Listen erzwingen klare Haltung gegen „Schmuddelkinder“
Das wiederum würde die Wahlkämpfe – aber auch schon die Personalrekrutierung und die Programmerstellung – deutlich transnationaler werden lassen. Mit dem Unfug, nationale Symbolthemen (Grundrente, Nationalhymne oder Kopftuchverbote) zur Mobilisierung und Polarisierung heranzuziehen, wäre dann Schluss. Die Grünen sind auch dafür belohnt worden, dass sie ein echt kontinentales Thema (Klima) in den Vordergrund gestellt haben. Die Aufstellung von europaweiten Listen für Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grüne, Linke, Liberale, Nationalisten und Konservative führt zur Aushebelung der klassischen Personalfindung im Hinterzimmer und mindert den Einfluss von Seilschaften: es wird ein fröhliches Hauen und Stechen, bei dem sich diejenigen Kandidaten durchsetzen, die über ihre nationale Grenzen hinaus überzeugend auftreten und zumindest innerhalb ihrer Parteienfamilie Profil gewinnen. Es verlangt Empathie und Zurückhaltung von den „Großen“, weil sie zwar leicht Listen dominieren können, aber ja zugleich der Sorge der Parteien aus kleineren EU-Staaten, hierbei überrollt zu werden, durch Überkompensierung und Förderung entgegenwirken müssen, um einen europaweiten Wahlerfolg zu sichern. Und es verlangt deutlich früher als jetzt eine klare Haltung gegenüber den Schmuddelkindern wie Fidesz (Ungarn) bei Christdemokraten, die mit Rechtsextremen koalierende Keskerakond (Estland) bei den Liberalen oder PSD (Rumänien) bei den Sozialdemokraten.
Diese Europäisierung des Parteienwesens muss einhergehen mit einer Stärkung europäischer Medien. Darüber habe ich in einem Sammelband*, der vom zeitweiligen ÖVP-Chef Michael Spindelegger herausgegebenen wurde, vor zehn Jahren geschrieben: “Noch betrügen Politik und Medien Hand in Hand die Europäer um ihre Öffentlichkeit. Für Medien und Politik hat das gleichermaßen fatale Folgen: Dem Kontinent der Kreativität droht die geistige Austrocknung.“ An dem Befund hat sich wenig geändert. Noch immer sitzen in den Hauptstadtbüros/-studios in Berlin tendenziell zu viele Korrespondenten und in Brüssel zu wenige. Noch immer laufen letztere unter „Auslandskorrespondenten“. Noch immer ist der Blick auf den EU-Rat ein nationaler („Was hat unsere Kanzlerin, unser Landwirtschaftsminister erreicht?“) Noch immer sind die Kommissare und das EP und seine Fraktionen und die Willensbildung dort unterbelichtet. Noch immer wird auch bei zentralen nationalen politischen Fragen (Digitales, Energiepolitik, Integration, Bildungswesen) zu wenig auf funktionierende (oder auf bereits anderswo gescheiterte) Beispiele aus den übrigen EU-Staaten geblickt. Das gilt für Parteien wie Medien.
Den Blickwinkel weiten
Die wenigen personal- und kostenintensiv sendenden Informationskanäle (wie BBC World News Europe oder France24) sind national aufgestellt. Euronews wirkt dagegen immer noch wie ein Garagensender. Natürlich gibt es Plattformen für Europa-Nerds wie POLITICO Europe, Euractiv, Eurotopics, oder eine Reihe von nationalen Zeitungen mit Weitblick und internationalen Editionen, aber wo ist DER europäische Informations- und Kulturkanal, der als Online-Plattform und Mediathek inklusive Livestream bis zum abendlichen Mix aus 20 Uhr-Nachrichtenmagazin, Reportagen, Talksendungen, europäischen Serien, Filmen und Konzerten den Kontinent wirklich tiefenscharf ausleuchtet und seine Stärken zum Vorschein bringt? Mit dem Input etlicher großer und vieler kleiner öffentlich-rechtlicher Sender in Verbindung mit einem Netzwerk europäischer Qualitätszeitungen und einem EU-finanzierten Übersetzungs- bzw. Untertitelungsservice ließe sich ein publizistisches Feuerwerk zünden. Es geht dabei nicht um Pro-EU-Propaganda; es geht um die Weitung und den steten Wechsel des Blickwinkels und um ein Durchstoßen der nationalen Filterblase. Europa ist ja Realität, sie wird nur unzureichend sichtbar und verstehbar gemacht (außer in löblichen aber nischenhaften Nachmittagsformaten wie ZDF „heute in Europa“.)
Eine – immer wieder aufflackernde – Debatte um einen ARD-ZDF-Infokanal geht in die verkehrte Richtung. „Ein nationaler Sender würde die nationalen Medienblasen in Europa manifestieren und wäre ein Anachronismus im Integrationsprozess Europas“, so der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje im Frühjahr im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. „Ohne eine europäische Öffentlichkeit wird es eine lebendige europäische Demokratie niemals geben.“
Dabei wäre kein Hindernis, wenn Rechtspopulisten in Ländern wie Italien, Polen oder Ungarn einen Beitritt des nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu dieser paneuropäischen Medienplattform vorerst blockierten. Vielmehr würde dieser Verbund – wie einst Radio Free Europe von West nach Ost – von außen in diese gefährdeten Demokratien einstrahlen und als Bypass die demokratische Öffentlichkeit stabilisieren.
Plädoyer für einen europäischen Senderverbund
Die oben skizzierte, und zunächst verwirrend wirkende Europäisierung des Parteienwesens wäre auf eine solche Medienplattform angewiesen. Man kann sie sich zudem als Austauschplattform für Blogger, aber auch Musik- oder Modeszenen und und und … vorstellen. Nicht um zu uniformieren, sondern um Vielfalt zur Geltung zu verhelfen. In Europa und natürlich weltweit ausstrahlend. Klar sollte sein, dass öffentlich geförderte europäische Filme, Serien, Dokumentationen, Spiele hier einen (je nach Förderung primären oder sekundären) Ausspielweg vorfinden.
Schließlich kann sich Europa damit – zum Beispiel auch mit einer Suchmaschinenfunktion – vor einer Fremdbestimmung durch US-amerikanische oder chinesische Algorithmen wappnen. „Wie müsste eine soziale Plattform beschaffen sein, auf der man sich gerne aktiv mit Fremden austauscht?“, fragte die Süddeutsche Zeitung im März und gab auch die Antwort: „Sie müsste erstens öffentlich-rechtlich sein; und zweitens trotzdem Spaß machen. […] Sie könnte zugleich etwas schaffen, das der EU bitterlich fehlt: eine europäische Öffentlichkeit, in der endlich alle miteinander, statt immer nur übereinander reden.“ An dieser Stelle fügt sich auch die Initiative von Robert Habeck und Malte Spitz für europäische social media-Netzwerke ein.
Auch der BR-Intendant Ulrich Wilhelm hat eine solche Plattform Oktober vergangenen Jahres im Vorfeld der Münchener Medientage angemahnt und gibt eine Ahnung von den notwendigen Investitionssummen: „Was mir vorschwebt, ist keine staatliche Lenkung von Inhalten. Da gilt, was immer gilt: Medien müssen unabhängig und staatsfern sein. Die Rolle des Staates ist industriepolitisch notwendig, damit überhaupt eine solche Infrastruktur entstehen kann, und um die unterschiedlichen Akteure in Europa zu versammeln.“
Keine Demokratie ist durch die schiere Gunst abtretender Autokraten entstanden, die ihre Zeit für abgelaufen hielten. Sie wurden durch eine Öffentlichkeit und Parteien erstritten, begünstigt von immer progressiverem Wahlrecht.
Ein europäischer Senderverbund würde besser in der Lage sein, Politik – ob in Brüssel oder in Hauptstädten in Nord- oder Süd- oder Osteuropa – zu kontrollieren und eine breite Öffentlichkeit herzustellen, wo sich Nationalpopulisten am liebsten mit aufgekauften oder eingeschüchterten Medien in einer nationalen Filterblase einrichten – es ist Zeit, diese aufzustechen!
*) Markus Schubert: Wo ist die Europäische Öffentlichkeit? In: Thomas Köhler, Christian Mertens, Christoph Neumayer, Michael Spindelegger (Hg.): Stromabwärts. In Mäandern zur Mündung – Christdemokratie als kreatives Projekt. Wien 2008.
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