Ein Leuchtturm erlischt

© Shutter­stock

Es geht um Faschismus, nicht um Populismus: Estland galt politisch und wirtschaftlich als Europas Muster­schüler. Warum um alles in der Welt holt Premier Jüri Ratas Rechts­extreme in die neue Regierungskoalition?

Toomas Hendrik Ilves versteht die Welt nicht mehr. Und das will etwas heißen bei einem Mann, der sein Leben lang ein brillanter Welterklärer war. Jetzt forscht der frühere estnische Staats­prä­sident in den USA am Zentrum für Inter­na­tionale Sicherheit und Zusam­men­arbeit (CISAC) der Univer­sität Stanford und sagt: „Ich kann einfach nicht glauben, dass all das in Estland möglich ist.“ Das sagt ein liberaler Sozial­de­mokrat, der erst als Exil-Este in den USA und später als Außen­mi­nister und Präsident erlebt hat, wie Völker­recht aber auch der eigene Freiheits­drang die Esten auf die Landkarte gebracht haben und wie die kleine Nation bewiesen hat, dass man im Multi­la­te­ra­lismus von EU, NATO und UNO eine überpro­por­tional einfluss­reiche Rolle spielen und seine Existenz sichern kann. 

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Im Gegenzug schenkten die Esten der Welt (und während ihrer Präsi­dent­schaft 2017 auch der EU) die Früchte ihrer Digital­kultur: Skype und andere Start-ups, digitale Verwaltung, zuletzt die „e‑residency“, mit der sich junge Unter­nehmer aus Afrika, Asien und zunehmend Großbri­tannien Zugang zum EU-Binnen­markt verschaffen. Gleich­zeitig wurde Estland zu einem – trotz Regie­rungs­wechseln – stabilen politi­schen System mit offener Gesell­schaft. Das Land ist mehrfacher PISA-Champion, mit pro-europäi­scher Einstellung und auch mit einem zunehmend entkrampften Verhältnis zwischen ethni­schen Esten und russisch­spra­chigen Bevöl­ke­rungs­gruppen. Im vor wenigen Tagen veröf­fent­lichten jährlichen Ranking der Organi­sation “Reporter ohne Grenzen“ zur Presse­freiheit liegt Estland auf Rang elf, vor allen anderen mittel- und osteu­ro­päi­schen Staaten. Wie kann also Ex-Präsident Ilves, der auf Twitter seit Jahren unermüdlich die Klingen mit Populisten kreuzt, zu dem fatalis­tisch klingenden Appell gelangen: „Wir dürfen uns nicht in noch einen osteu­ro­päi­schen ‚failed state‘ verwandeln“? Eine düstere Vision, die auch aus der taz-Schlag­zeile „Jetzt nicht auch noch Estland“ hallte. Erlischt ein liberaler Leuchtturm?

Mit EKRE wird eine der wider­lichsten Parteien Europas auf den Regie­rungs­bänken in Tallinn Platz nehmen. Es lohnt nicht, ihr Programm näher auszu­leuchten. Die Partei ist die handels­üb­liche Lokal­ausgabe einer rechts­po­pu­lis­ti­schen Inter­na­tionale: migra­tions- und EU-feindlich, rassis­tisch, homophob, chauvi­nis­tisch – die ganze Palette. Hinzu kommen aber, wie der in Tallinn lehrende deutsche Rechts­extre­mis­mus­for­scher Florian Hartleb umreißt, Verbin­dungen zur Identi­tären Bewegung, zu Neonazi-Netzwerken und zu den finni­schen Rechts­ra­di­kalen von „Soldiers of Odin“. Parteichef Mart Helme kündigte zuletzt an, dass es Straßen­un­ruhen geben werde, wenn EKRE nicht in die Regierung gelange. Auch der „tiefe Staat“ und die EU-Kommission könnten das nicht verhindern. Das sei wie ein Streichholz in einem Pulverfass. Elf frühere Innen­mi­nister verur­teilten die Äußerungen, aber sie stand im Raum.

„Welcome to Estonia’s new neo-Nazi government“

Der estnische Litera­tur­wis­sen­schaftler Andrei Tuch fasste es im März gleich zu Beginn der Koali­ti­ons­ver­hand­lungen auf der renom­mierten Online-Plattform „Estonian World“ mit dem Ausruf zusammen: „Welcome to Estonia’s new neo-Nazi government“. Dass diese Überschrift zuletzt in „far-right government“ abgemildert wurde, darf man wohl als Echo auf die handfesten Drohungen von EKRE gegen Journa­listen – speziell des öffentlich-recht­lichen Rundfunks ERR – werten, die zu den Angriffen auf Gynäko­logen (wegen Abtrei­bungen) und Migranten („Estland den Esten!“) gekommen sind.

Mit einem Wort: Wir reden hier nicht mehr von Populismus, sondern von klassi­schem Faschismus. Dass das alles in einem Land mit 1, 3 Millionen Einwohner vonstat­tengeht, mag der Zäsur etwas Operet­ten­haftes verleihen. Aber längst ordnet sich EKRE in einen größeren Zusam­menhang ein. Die Partei ist dem europa­weiten rechten Bündnis von Matteo Salvini – mit AfD, Rassem­blement National und FPÖ – beigetreten und sagt: „Wir werden wie Trump der Rhetorik die politische Praxis folgen lassen und dadurch noch populärer werden.“ Minister von EKRE werden schon bald im Rat der EU uns alle mitre­gieren. Die neue estnische Regierung sei eine „Gefahr für die EU“, kommen­tierte die FAZ.

Nun mag sich jeder, für den die estnische politische Landschaft verzeih­li­cher­weise terra incognita ist, fragen: Wie wurde aus dem liberalen Klassen­primus Europas – Präsi­dentin Kersti Kaljulaid erteilt im Interview im aktuellen SPIEGEL noch einmal gönnerhaft Nachhil­fe­un­ter­richt für den digitalen Sitzen­bleiber Deutschland (Paywall) – ein Schul­ab­brecher im europäi­schen Internat?

Es braucht wachs­weiche Demokraten, um der Rechten zur Geltung zu verhelfen

Nun, EKRE hat bei den Wahlen im März natürlich keine Mehrheit erzielt. Mit 17,8 Prozent liegt sie eher im europäi­schen und auch im skandi­na­vi­schen Durch­schnitt, und ihr Zuwachs liegt in einem globalen Megatrend. Wie immer braucht es wachs­weiche Demokraten, um der mal eher populis­ti­schen, mal eher extre­mis­ti­schen Rechten zur Geltung zu verhelfen. Und hier reibt sich nun nicht nur die taz die Augen: Ausge­rechnet Jüri Ratas, dessen Zentrums­partei als die am weitesten links­ste­hende im Parlament gilt, hatte keine Bedenken, eine Regierung mit EKRE zu bilden.“ Schon in der Wahlnacht brach der amtie­rende Premier das bis dahin unter den Demokraten geltende Tabu. Er zog die hastige Aufnahme von Koali­ti­ons­ver­hand­lungen mit der Rechten und einer kleineren natio­nal­kon­ser­va­tiven Partei einer Art „Großer Koalition“ vor, also der Einordnung als kleiner Koali­ti­ons­partner in ein Bündnis mit der erneut stärksten Partei, der wirtschafts­li­be­ralen Reform­partei. „Große Koali­tionen“ hat es in der jüngeren politi­schen Geschichte Estlands durchaus schon gegeben.

Dazu lohnt ein kurzer Blick auf Ratas‘ Karriere. Als Politi­kersohn löste er 2016 den in Korrup­ti­ons­skandale verstrickten Partei­vor­sit­zenden der Zentrums­partei ab, die bis dato als nicht bündnis­fähig erschien. Nur wenige Wochen danach wurde er Premier­mi­nister, nachdem Sozial­de­mo­kraten und die damals schon willfährige natio­nal­kon­ser­vative Vater­lands­partei Premier Rõivas von der Reform­partei per Misstrau­ens­votum stürzten und statt­dessen in eine Regierung von Premier Ratas eintraten.

Diese Koalition verlor im März ihre Mehrheit, dafür legte die rechts­extreme EKRE zu, deren Themen die Regierung zuvor fleißig aufnahm. Ratas zog etwa die ursprüng­liche Zustimmung Estlands zum UN-Migra­ti­onspakt zurück. Die Reform­partei behielt hier Haltung und wider­stand auch nach der Wahl der Versu­chung, EKRE eine Koalition anzubieten, die ja auf den ersten Blick logisch erschienen wäre.

„Die Zeit der Muttis ist vorbei, die Väter sind wieder zuhause“

Nun muss man aber ein vermeint­liches Detail nachliefern, das in Estland wohl eine entschei­dende Rolle gespielt hat: Die in die Opposition verbannte Reform­partei trat nicht mehr mit Ex-Premier Rõivas an, sondern machte Kaja Kallas zur Spitzen­kan­di­datin. Die holte nicht nur ein unerwartet gutes Wahler­gebnis und eine aufse­hen­er­re­gende Zahl an persön­lichen Vorzugs­stimmen. Sie setzte sich im Wahlkampf auch über „gut gemeinte“ Ratschläge zu Kleidungsstil, Frisur und Auftreten hinweg. Wer glaubt, diese machis­tische Grund­stimmung sei ein margi­naler Faktor, wird vom künftigen EKRE-Landwirt­schafts­mi­nister eines Schlech­teren belehrt: Er postete (und löschte verdächtig rasch) eine Grafik, die Kallas, Staats­prä­si­dentin Kaljulaid und die Vorsit­zende einer jungen Opposi­ti­ons­partei den männlichen Granden der drei künftigen Koali­ti­ons­par­teien gegenüber stellte, dazu der unsäg­liche Kommentar: „Die Zeit der Muttis ist vorbei, die Väter sind wieder zuhause.“ Unnötig zu erwähnen, dass dem künftigen Kabinett nur zwei Frauen angehören, und dass EKRE keine stellt.

Warum macht ein liberaler Premier und Parteichef dieses Trauer­spiel mit? Eine Frage, die auch Guy Verhof­stadt als Vorsit­zender der liberalen ALDE-Fraktion im Europäi­schen Parlament gleich zum Auftakt der Koali­ti­ons­ver­hand­lungen nach Tallinn schickte. Ratas reagierte mit dem klassisch natio­na­lis­ti­schen Hinweis, dass „Brüssel nicht Estlands neue Regierung diktieren“ solle.

Nun hat also die europäische liberale Partei­en­fa­milie ALDE das gleiche Problem wie die EVP, die im Umgang mit Viktor Orbán versagt hat – und auch wie die SPE, die ihre korrupte rumänische Verwandt­schaft der PSD nicht in den Griff kriegt.

Ratas lässt die Rechts­extremen von der Leine

Aber natürlich schlummert in der anste­henden Koalition weitaus gewal­tigere innen­po­li­tische Spreng­kraft: Ratas‘ Zentrums­partei galt ja bisher als Anwalt der russisch­spra­chigen Esten. Dieses Wähler­po­tential ist direkt nach Aufnahme der Koali­ti­ons­ver­hand­lungen mit EKRE drama­tisch (und vernünf­ti­ger­weise) zurück­ge­gangen. Für die rechts­extreme EKRE sind Russen, ukrai­nische Flücht­linge und Gastar­beiter die Ersatz­feinde für in Estland kaum vorhandene Muslime oder People of Color. Dass ihr Parteichef nun als Innen­mi­nister für „Ordnung“ sorgen darf, ist keine gute Nachricht für alle, die nicht ins rassis­tische Raster von EKRE passen.

Hier sind wir nun wieder bei Toomas Hendrik Ilves‘ Sorgen. Er, dessen Eltern vor dem Stali­nismus über Schweden in die USA flohen, von wo er sich über Radio Free Europa in München wieder an die Heimat heran­robbte, fragt seine Esten heute: Wer sind wir‘?“ Er ruft die Solida­rität in Erinnerung, die Esten bei inter­na­tio­nalen Militär­mis­sionen in Afgha­nistan oder im Libanon leisten, erwähnt umgekehrt die NATO-Luftraum­ver­tei­digung von Briten, Dänen, Spaniern und Deutschen im Baltikum und die Expertise von Forschern, Program­mierern und anderen Migranten, die die wirtschaft­liche Erfolgs­ge­schichte in Tallinn mitge­schrieben haben. Seine Amtsnach­fol­gerin Kaljulaid sprach in der konsti­tu­ie­renden Sitzung des Parla­ments von einer „Krise der Werte“ und beschwor den unbedingten Vorrang der Verfassung. Die Bürger­initiative „Estland für alle“ sandte in den sozialen Medien und auf einem Open-Air-Konzert namhafter Künstler ermuti­gende Signale. Aber sie wirken wie Signale auf dem Rückzug. Die Aggres­si­vität von EKRE beginnt die Gesell­schaft zu vergiften. Und nur ein einziger tapferer Abgeord­neter verließ seit der Anbahnung der Koalition die mit dem Kreml per Partner­schafts­ab­kommen verbundene „liberale“ Zentrumspartei.

Für die russische Propa­ganda sind die Esten – länger schon als die Ukrainer – ewige Faschisten. Für Donald Trumps außen­po­li­ti­schen Berater zu Wahlkampf­zeiten war Tallinn „ein Vorort von Sankt Petersburg“. Jüri Ratas lässt nun die estni­schen Rechts­extremen von der Leine. Sie stehen jetzt in zentralen Ressorts für den Staat und liefern allen eine Ausrede, die sich der sicher­heits­po­li­ti­schen Solida­rität mit Estland künftig entziehen wollen oder Schlim­meres vorhaben. Der Premier ist entweder ein prinzi­pi­en­loser Versager, oder er begeht bewusst Hochverrat.

Anmerkung der Redaktion: Nach Erscheinen dieses Artikels hat die Online-Plattform „Estonian World“ die Schlag­zeile des Artikels des estni­schen Litera­tur­wis­sen­schaftlers Andrei Tuch erneut geändert. Sie lautet jetzt wieder, wie bereits vor der ersten Änderung: „Welcome to Estonia’s new neo-Nazi government“. 

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.