Weder Hochmut noch Kleinmut: Ein Plädoyer für die liberale Demokratie

Foto: Shutterstock, ESB Basic
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Sind Menschen­leben wichtiger als Menschen­rechte, und muss sich der Westen damit arran­gieren, dass Mächte wie China, Russland oder der Iran mit Demokratie nichts am Hut haben? Wir dokumen­tieren einen Essay von Ralf Fücks in der Berliner Zeitung, der auf die „politische Relati­vi­täts­theorie“ von Antje Vollmer und Ludger Volmer antwortet. Sie ähnelt dem Ethno­plu­ra­lismus der „Neuen Rechten“ wie ein Ei dem anderen.

„Überheblich, arrogant und unfähig, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Das ist die Lage der liberalen Demokratien 30 Jahre nach dem Sieg im Kalten Krieg“ – so beginnt Antje Vollmers Abrechnung mit Hochmut und Niedergang der westlichen Demokratien, die jüngst auf diesen Seiten erschien. Sie spart nicht mit schnei­dender Kritik am „morali­schen Imperia­lismus“ des Westens und klappert heftig mit dem Schreck­ge­spenst des entfes­selten Finanz­ka­pi­ta­lismus, der unter der Flagge unbegrenzter Freiheit segelte.

Daran ist nicht alles verkehrt, und dennoch ist dieses Bild merkwürdig verzerrt. 

Von auftrump­fendem Sendungs­be­wusstsein ist im Westen wenig zu spüren. Die europäi­schen Demokratien erscheinen eher klein­mütig, voller Selbst­zweifel und auf der Suche nach ihrer verlo­renen Zukunfts­zu­ver­sicht. Außen­po­li­tisch dominiert Konflikt­scheu. Das gilt allemal für Deutschland, das bei unseren Partnern inzwi­schen den Ruf eines kollek­tiven Wehrdienst­ver­wei­gerers hat. Von Kalte-Kriegs-Menta­lität keine Spur – wir machen Geschäfte mit allen und huldigen der Illusion, dass sich alle Konflikte durch Geld und guten Willen lösen lassen. Dass wir den altdeut­schen Milita­rismus abgeworfen haben, ist ein Segen. Aber ist der neudeutsche Natio­nal­pa­zi­fismus mehr als die moralische Überhöhung einer „ohne uns“-Mentalität, die einer Flucht aus der Verant­wortung gleichkommt?

Scharf gegen Amerika, milde zu China

Noch befremd­licher erscheint der aus tiefstem Herzen kommende Abgesang auf die USA – ausge­rechnet in einem Moment, in dem Amerika einen unseligen Präsi­denten abgeschüttelt hat, sich auf sein demokra­ti­sches Erbe besinnt und wieder Europa zuwendet. Die Anti-Amerika-Obsession teilt Antje Vollmer mit einem promi­nenten grünen Wegge­fährten: Ludger Volmer, einst Joschka Fischers Stell­ver­treter im Auswär­tigen Amt, setzte in seinem Essay in dieser Zeitung noch eins drauf. Die „Pax Americana“ ist für ihn „blamiert und verhasst.“ Wirklich? Und bei wem? Die USA sind immer noch Einwan­de­rungsland Nummer eins, ein Magnet für Glücks­sucher aus aller Welt, und von Belarus bis Hongkong hoffen Millionen Menschen auf Amerika als Rückhalt ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie.

So scharf ihre Kritik an politi­schen Irrtümern und sozialen Schief­lagen des Westens ist, so milde gehen Vollmer und Volmer mit der aufstei­genden Super­macht China um. Hier wechseln sie vom Sezier­messer zum Weich­zeichner. Umerzie­hungs­lager, Zwangs­ste­ri­li­sierung, willkür­liche Verhaf­tungen und ein totali­täres Überwa­chungs­regime gegenüber den Uiguren? Ludger Volmer hat großes Verständnis für die Furcht des Pekinger Polit­büros vor einem Zerfall des Reichs. Die beinharte Koloni­sierung Tibets? Nicht schön, aber gegenüber dem alten feudal-kleri­kalen Regime doch ein Fortschritt. Hongkong ist ihm keine Rede wert, ebenso wenig das Säbel­rassen gegenüber Taiwan. Die Recht­lo­sigkeit des Indivi­duums, die Zensur, der chine­sische Gulag mit Millionen von Zwangs­ar­beitern, die Berei­cherung der neuen Mandarine – das alles verblasst gegenüber der ökono­mi­schen Erfolgs­ge­schichte Chinas.

Hier kommen wir zu des Pudels Kern. 

Volmer spielt soziale gegen politische Menschen­rechte aus. Dass das pseudo-kommu­nis­tische China den Aufstieg von 700 Millionen Menschen aus bitterer Armut bewerk­stel­ligte, wiegt für ihn schwerer als die Negation von Rechts­staat und Demokratie durch die herrschende Funktio­närs­elite. Lassen wir beiseite, dass erst die Entfes­selung des Kapita­lismus und die Integration Chinas in den Weltmarkt – die böse Globa­li­sierung – dieses Wirtschafts­wunder ermög­lichte. Volmers Argumen­tation gipfelt in dem Satz „Menschen­leben sind noch wichtiger als Menschen­rechte.“ Das lässt tief blicken, und zwar in einen Abgrund. Was wiegt ein Menschen­leben in einem Staat, der die Menschen­rechte mit Füßen tritt? Wer schützt das zerbrech­liche Individuum, wenn keine Gewal­ten­teilung, keine unabhängige Justiz, keine freie Presse den Mächtigen Einhalt gebietet? Man möchte allen Schön­rednern des chine­si­schen Regimes Liao Yiwus „Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugen­be­richt aus chine­si­schen Gefäng­nissen“ zur Pflicht­lektüre aufgeben.

Die Väter und Mütter des Grund­ge­setzes wussten zu gut, dass der Schutz von Menschen­leben und Menschen­würde unauf­löslich an Demokratie und Rechts­staat gebunden ist. 

Die liberale Demokratie garan­tiert nicht das Glück aller. Sie ist auch keine Gewähr dafür, dass es gerecht zugeht. Aber sie ist unsere erste und letzte Rückver­si­cherung gegen den Rückfall in die Barbarei. Dass diese Einsicht von „links“ infrage gestellt wird, erinnert an die alte Recht­fer­tigung der Vernichtung politi­scher Freiheit im Namen sozialer Gleichheit. Nun kann man China beim besten Willen nicht als Hort sozialer Gerech­tigkeit präsen­tieren. An ihre Stelle tritt jetzt der „soziale Fortschritt“, der die Diktatur in mildem Licht erscheinen lässt. Dabei gibt es in Asien ökono­mische und soziale Erfolgs­ge­schichten, die Hand in Hand mit Demokratie und Menschen­rechten gehen. Südkorea und Taiwan gehören dazu, auch Hongkong, das gerade unter das Joch des chine­si­schen Partei­staats gezwungen wird.

Kultur­re­la­ti­vismus, Ethnopluralismus

Taiwan wie Hongkong wider­legen auch den Kultur­re­la­ti­vismus, der bei Antje Vollmer anklingt und von Ludger Volmer mit seinem Plädoyer für eine „neue politische Relati­vi­täts­theorie“ auf die Spitze getrieben wird. Sie bedeutet nichts weniger als den Abschied von der Univer­sa­lität der Menschen­rechte, die zu „westlichen Werten“ degra­diert werden. Volmer übernimmt damit die Rhetorik aller autori­tären Regimes dieser Welt, die das Konzept univer­seller Menschen­rechte als imperia­lis­ti­schen Trick abtun, mit dem der Westen seine globale Hegemonie bemäntelt.

Mehr noch: Volmers politische Relati­vi­täts­theorie gleicht bis in die Wortwahl dem Konzept des „Ethno­plu­ra­lismus“, das von völki­schen Natio­na­listen verfochten wird. Im Origi­nalton: „Jahrhun­der­telang entwi­ckelten die Popula­tionen in unter­schied­lichen Raumzeit-Relationen eigene Muster des Mensch­seins (..) Wir Europäer haben jedes Recht, unsere kultu­relle Identität zu behaupten, solange wir auch anderen ihren Raum lassen.“ An die Stelle der liberalen Weltordnung, die auf einem gemein­samen Rechts­rahmen mit den Menschen­rechten als Kern basiert, tritt die Koexistenz unter­schied­licher Kultur­räume mit ihren eigenen Tradi­tionen und Werten. Das ähnelt den Ordnungs­vor­stel­lungen des russi­schen Philo­sophen Alexander Dugin und anderer völki­scher Ideologen wie ein Ei dem anderen.

Vollmer und Volmer haben einen Punkt, wenn sie darauf insis­tieren, dass die ökono­mische und macht­po­li­tische Dominanz des Westens ihrem Ende zugeht. 

Sie schütten aber das Kind mit dem Bade aus, wenn sie damit auch die Univer­sa­lität der Menschen­rechte und die liberale, auf gemein­samen Regeln basie­rende Weltordnung verwerfen. Besonders makaber ist ihr Kultur­re­la­ti­vismus angesichts der neu erwachten Demokra­tie­be­we­gungen in der nicht-westlichen Welt. Was haben sie den Millionen Menschen zu sagen, die in Weißrussland, in Myanmar oder im Sudan für politische Freiheit eintreten? Und was ist ihre Botschaft an die jungen Leute, die dieser Tage in Russland Kopf und Kragen riskieren, um gegen ein autori­täres und bis ins Mark korruptes Regime zu protes­tieren? Pech gehabt – ihr gehört nun mal zu einem anderen Kultur­kreis, zur Autokratie verdammt bis in alle Ewigkeit?

Ja, in den liberalen Demokratien des Westens ist seit dem Sieg im Kalten Krieg vieles aus dem Ruder gelaufen.

Aber die Idee der Freiheit hat nicht Anzie­hungs­kraft eingebüßt. 

Früher oder später wird sie sich auch in China, im Iran und der arabi­schen Welt wieder zu Wort melden. Die Relati­vierung liberaler Werte zu predigen führt auf eine abschüssige Bahn. Wer seine Werte nicht selbst­be­wusst nach außen vertritt, kann auch nicht überzeugend gegen antide­mo­kra­tische Kräfte im eigenen Haus auftreten.

Antje Vollmer beklagt die mangelnde Empathie gegenüber Russland. Welches Russland ist gemeint? Es mangelt bei uns nicht an Verständnis für das Putin-Regime, wohl aber an Empathie für die demokra­tische Zivil­ge­sell­schaft in Russland, für die Bürger­initia­tiven, Künst­le­rinnen, kriti­schen Journa­listen und Opposi­tio­nellen, die als auslän­dische Agenten stigma­ti­siert, mit Berufs­verbot belegt, vor Gericht gezerrt werden und um ihr Leben fürchten müssen.

Demokra­ti­sches Selbst­be­wusstsein ist umso wichtiger angesichts der neuen System­kon­kurrenz zwischen liberalen Demokratien und selbst­be­wusst auftrump­fenden autori­tären Regimes. 

Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, dass sie mit uns lediglich schiedlich-friedlich Handel treiben und ansonsten in Ruhe gelassen werden wollen. China wie Russland dulden keine demokra­ti­schen Alter­na­tiven in ihrem Macht­be­reich. Und sie setzen alles daran, die liberale Demokratie auch in Europa und Amerika zu schwächen. China strebt nach wirtschaft­licher, techno­lo­gi­scher und militä­ri­scher Dominanz. Wer in Abhän­gigkeit von der neuen Super­macht gerät, wird zum Wohlver­halten gezwungen. Dagegen kann sich Europa nur in einer Allianz der Demokratien behaupten, mit dem trans­at­lan­ti­schen Bündnis als Kern. Wer die Abkopplung von den USA propa­giert, spielt den strate­gi­schen Zielen Pekings und Moskaus in die Hände.

Der neue Systemwettbewerb

Außen­po­li­tische Wehrhaf­tigkeit ist das eine. Wir werden den neuen System­wett­bewerb aber nur gewinnen, wenn wir das eigene Haus in Ordnung bringen. Die Corona-Krise ist auch ein Test auf die Handlungs­fä­higkeit der Demokratie. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass ein absolu­tis­ti­sches Regime schneller und stärker aus der Pandemie heraus­kommt als die liberalen Gesell­schaften des Westens. Demokratien werden auch daran gemessen, wie krisenfest sie sind. Gerade in Krisen­zeiten müssen sie Sicherheit und soziale Teilhabe für alle gewähr­leisten. Die Zukunft der liberalen Demokratie wird sich daran entscheiden, wie wir die großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit meistern: Klima­wandel, digitale Revolution, demogra­phi­scher Wandel und globale Migration. Die Wette gilt, dass freiheit­liche Demokratien auf Dauer auch innova­tiver und gerechter sind als autoritäre Systeme.

Textende

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