Nord Stream 2: Kröte mit Zuckerguss

Nord Stream 2 bleibt auch nach dem Deal zwischen Angela Merkel und Joe Biden ein strate­gi­scher Fehler. Wir dokumen­tieren den heute erschie­nenen Kommentar von Ralf Fücks für spiegel.de.

Der russische Präsident trägt im Ringen um die Pipeline den Sieg davon. Es ist bitter: Angela Merkel hat zum Schluss ihre ganze Kraft für ein Projekt einge­setzt, das die Ukraine schwächt und dem Klima schadet.

Seit gestern Abend ist es amtlich: Deutschland und die USA haben den Streit über die Gaspipeline Nord Stream 2 beigelegt. Die Biden-Regierung gibt grünes Licht für ein hochum­strit­tenes Projekt, das die deutsch-ameri­ka­ni­schen Bezie­hungen belastet und tiefe Gräben innerhalb Europas aufge­rissen hat. Was die Bundes­re­gierung als diplo­ma­ti­schen Erfolg feiert, ist aller­dings ein Kompromiss zulasten der Ukraine und des Klimas: Die Kröte Nord Stream 2 wird mit reichlich Zuckerguss überzogen. Schmack­hafter wird sie damit nicht.

Es fängt damit an, dass die Deutschen und die Ameri­kaner über die Köpfe der Ukraine hinweg verhandelt haben – auf deren Kosten Nord Stream 2 geht. Das ist mieser Stil. Die europäi­schen Verbün­deten der USA und Deutsch­lands werden mit vollendeten Tatsachen konfron­tiert – und die Ukraine mit unver­bind­lichen Absichts­er­klä­rungen und finan­zi­ellen Trost­pflastern abgefunden. In der Erklärung finden sich viele wohlklin­gende Prokla­ma­tionen und wenig konkrete Verpflich­tungen Deutschlands.

Nord Stream 2 war von Anfang an ein geopo­li­ti­sches Projekt Wladimir Putins. Es gibt dem Kreml freie Hand, den politi­schen und militä­ri­schen Druck auf die Ukraine zu erhöhen, ohne damit das Gasge­schäft mit der EU zu gefährden. Der jetzige Deal mit Washington lässt diese Flanke offen.

Schlimmer noch: Die Bundes­re­gierung lehnte den ameri­ka­ni­schen Vorschlag ab, eine sogenannte Kill-Switch-Klausel in die Betriebs­ge­neh­migung der Pipeline aufzu­nehmen. Sie hätte es ermög­licht, die Gaslie­fe­rungen zu unter­brechen, falls der Kreml aggressive Schritte gegenüber unbotsamen Nachbarn unter­nimmt. Diese Befürchtung ist angesichts der jüngsten Militär­ma­növer Russlands und der revisio­nis­ti­schen Politik Putins nur allzu begründet – zuletzt schrieb er in einem Essay, die Grenze zwischen Russland und der Ukraine habe histo­risch und moralisch keine Berechtigung.

Die Bundes­re­gierung hat damit die einzige Bestimmung aus dem Kompromiss zu Nord Stream 2 heraus verhandelt, die den Betrieb der Pipeline und die Sicherheit der Ukraine eindeutig mitein­ander verknüpft hätte.

Deutsch­lands vage Ankündigungen

Das grenzt an einen Freifahrt­schein für Putin. In der gemein­samen Erklärung der USA und der Bundes­re­gierung stehen vage Ankün­di­gungen, dass Deutschland als Antwort auf neue aggressive Maßnahmen Russlands »auf natio­naler Ebene handeln und in der Europäi­schen Union auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen drängen« werde.

Unver­bind­licher geht es kaum. Man kann sich vorstellen, wie beein­druckt die Hardliner im Kreml von dieser Ankün­digung sein werden. Sie kennen ihre Pappen­heimer in Berlin. Man muss sich nur an die Entrüstung erinnern, die Robert Habecks lautes Nachdenken ausgelöst hat, man könne der Ukraine militä­rische Ausrüstung zur Selbst­ver­tei­digung nicht verweigern.

In einer gemein­samen Erklärung haben der ukrai­nische und der polnische Außen­mi­nister den Finger in die Wunde gelegt. Sie bekräf­tigen die Opposition ihrer Länder gegen Nord Stream 2, solange es keine Antwort für die damit verbun­denen Sicher­heits­ri­siken gibt. Und sie verweisen zurecht auf die vergeb­lichen Bemühungen der Ukraine um eine Beitritts­per­spektive zur EU und zur NATO. Auch hier spielte und spielt Deutschland eine Schlüs­sel­rolle. Die Bitterkeit vieler Ukrainer, dass sie vom Westen im Regen stehen gelassen werden, ist nur allzu verständlich.

Die deutsch-ameri­ka­nische Überein­kunft ist voller vager Zusiche­rungen an die Adresse der Ukraine, aber arm an konkreten Verpflich­tungen: Die ukrai­nische Gasver­sorgung, heißt es etwa darin, solle notfalls auch unabhängig von Russland gesichert werden. Darüber hinaus wird ein »Grüner Fonds« für die Ukraine angekündigt, der Energie­ef­fi­zienz, erneu­erbare Energien und den Einstieg in die Wasser­stoff-Produktion fördern soll.

Die verbindlich zugesagten Summen sind überschaubar. Die Bundes­re­publik soll 175 Millionen Dollar Start­ka­pital beisteuern. Aus dem Privat­sektor sollen weitere Inves­ti­tionen kommen, bis zu einer Höhe von einer Milliarde Dollar – aber das sind vage Verspre­chungen für die Zukunft. Für die Integration der Ukraine in einen europäi­schen Wasser­stoff-Verbund reichen die Summen bei Weitem nicht aus. Diese Idee ist ohnehin nur Zukunfts­musik – es sei denn, wir würden die Produktion von »gelbem Wasser­stoff« mit Strom aus ukrai­ni­schen Atomkraft­werken akzeptieren.

Der Kreml knüpft Gastrans­porte an das Wohlver­halten Kiews

Die angestrebte Fortsetzung des Gastransits durch die Ukraine über 2024 hinaus steht auf wackligen Füßen. Der Kreml hat schon angekündigt, künftige Gasex­porte via Ukraine vom Wohlver­halten Kiews abhängig zu machen. Energie­wirt­schaftlich gibt es dafür keinen Bedarf.

Nord Stream 2 und die neu errichtete »Turk Stream«-Pipeline haben zusammen eine Kapazität von 90 Milli­arden Kubik­metern im Jahr. Sie ersetzen komplett den bishe­rigen Gastransit durch die Ukraine. Genau das ist auch ihr Sinn und Zweck.

Oder soll etwa künftig der Import von russi­schem Erdgas nach Deutschland noch gesteigert werden? Das wäre ein Fest für den Kreml und ein Verstoß gegen die deutschen und europäi­schen Klima­ziele. Nimmt man diese Ziele und den Klima­schutz aber ernst, muss der Verbrauch von Erdgas noch in diesem Jahrzehnt deutlich sinken. Ohne die zwei bis drei Milli­arden Dollar an Einnahmen aus dem Gastransit fehlen der Ukraine jedoch die Mittel, ihr ausge­dehntes Pipeline-System zu moder­ni­sieren und für den Wasser­stoff-Export umzurüsten.

Ein Triumph für Putin

Wenn dieser Pseudo-Kompromiss durch­kommt, ist das ein Triumph für Putin: Trotz der fortge­setzten Inter­vention in der Ostukraine, trotz aller Drohpo­litik, trotz der Kumpanei mit Lukaschenko, trotz der massiven Repression in Russland und der Kritik des Europäi­schen Parla­ments ziehen die Deutschen ihr bilate­rales Projekt mit Russland durch.

Russland ist stärker von Energie­ex­porten nach Europa abhängig als umgekehrt. Sie finan­zieren den Staats­haushalt und sichern politi­schen Einfluss. Es ist unbegreiflich, warum Washington und Berlin den Hebel aus der Hand geben, die Inbetrieb­nahme von Nord Stream 2 an substan­zielle Konzes­sionen Moskaus zu knüpfen.

Noch ist offen, wie sich der Kongress zu diesem Einlenken von Präsident Putin stellt. Denn politisch hat Biden dafür nichts bekommen: weder eine entschie­denere deutsche Haltung gegenüber China noch eine klare Verpflichtung, den deutschen Vertei­di­gungs­beitrag im Rahmen der Nato zu erhöhen. Dafür hätte diese Bundes­re­gierung, wenige Wochen vor der Wahl, auch gar kein politi­sches Mandat mehr.

Es bleibt die irritie­rende Frage, weshalb Angela Merkel alles in die Waagschale geworfen hat, um dieses unselige Projekt noch auf den letzten Metern ihrer Amtszeit in trockene Tücher zu bringen – ohne jede Gegen­leistung des Kremls. Ihr Einsatz für Nord Stream 2 überschattet ihre bisherige Ukraine-Politik. Sie hat in der Vergan­genheit eine klare Bereit­schaft gezeigt, dem Kreml notfalls mit Sanktionen Einhalt zu gebieten.

Sie hat sich für verfolgt Opposi­tio­nelle wie die feminis­tische Protestband »Pussy Riot« einge­setzt und dazu beigetragen, Alexej Nawalny nach seiner Vergiftung das Leben zu retten. Aber zum Schluss hat sie alles getan, um einem Projekt zum Erfolg zu verhelfen, das den Einfluss Russlands in Europa langfristig stärkt. Das ist kein gutes Vermächtnis.