Vom Hitler-Stalin-Pakt zum 2. Weltkrieg
Der „Hitler-Stalin-Pakt“ schuf die Voraussetzungen für Hitlers Überfall auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. In ihrem neuen Buch plädiert die Historikerin Claudia Weber dafür, den westeuropäisch geprägten Blick auf den Krieg um mittel-osteuropäische Perspektiven zu erweitern.
Ist das Netz der sogenannten „europäischen Erinnerungskultur“ womöglich doch nicht so dicht geknüpft wie stets behauptet? Am 23. August 1939 wurde in Moskau der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag unterzeichnet, der als „Hitler-Stalin-Pakt“ in die Geschichte einging – jedoch nach dem Krieg zumindest in Westeuropa der historischen Amnesie anheimfiel. Zum 80. Jahrestag dieses Experiments totalitärer Interessenverknüpfung beschreibt die Osteuropa-Wissenschaftlerin Claudia Weber, Professorin an der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, in ihrem soeben erschienenen, skrupulös recherchierten Buch „Der Pakt“ deshalb auch die Geschichte eines fortwährenden Missverständnisses: „Das Bündnis zwischen Hitler und Stalin bestimmte die ersten 22 Monate des Krieges im Osten und Westen Europas. Dennoch kommt es oft wie ein Präludium daher, wie ein hinführendes Vorspiel zum ‚eigentlichen‘ Krieg, der erst an jenem Julimorgen 1941 begonnen habe. In der teleologischen Sichtweise läuft der gesamte Krieg allein auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte.“
Weshalb ist dem so? Claudia Weber macht „Geschichtstrennungen und Erinnerungshierarchien in den historischen Mental Maps“ für diese fatale Sichtweise verantwortlich und konstatiert – freilich eher bedauernd als polemisierend: „Selbst das einflussreichste Werk der vergangenen Jahre – Timothy Snyders ausgezeichnete Studie zu den Bloodlands – gab das Versprechen, eine Geschichte des verhängnisvollen deutsch-sowjetischen Entanglements zu sein, zugunsten der Darstellung eines Nebeneinanders auf.“
Was deshalb vonnöten sei: Eine „Verflechtungsgeschichte“, die ein bis heute „westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild“ faktenreich hinterfragt und ergänzt.
Mörderisches Pingpong
Was also geschah zwischen dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 und dem Überfall auf die Sowjetunion zwei Jahre später? In den erst nach dem Zerfall der UdSSR publik gewordenen geheimen Zusatzprotokollen wurde der östliche Teil Polens sowie das Baltikum Stalins Reich zugeschlagen, so dass am 17. September 1939 600.000 Soldaten der Roten Armee in diesen Teil Polens einmarschierten, während andere Einheiten die baltischen Staaten besetzten, wo dann auch sogleich die Massen-Liquidationen und Deportationen nach Sibirien einsetzten. Tatsächlich: Eine verdrängte „Verflechtungsgeschichte“. So folgte zum Beispiel dem Moskau-Besuch von Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop die Visite einer offiziellen Sowjet-Delegation im besetzten Krakau, um mit dem dortigen „Generalgouverneur“ Hans Frank die Details von Bevölkerungsumsiedlungen zu besprechen, oder ein Treffen von SS und sowjetischem Geheimdienst NKWD im Tatra-Ort Zakopane.
Der nachfolgende Massenmord an 22.00 polnischen Armeeangehörigen im Wald von Katyn erhält dadurch eine zusätzliche Schreckensdimension, „denn Geheimdienst-Chef Beria schlug Stalin die Erschießung der polnischen Offiziere erst vor, nachdem der Versuch, sie auf der Grundlage des deutsch-sowjetischen Umsiedlungsabkommens in das Generalgouvernement abzuschieben, von den Deutschen abgelehnt worden war“. Opfer dieses mörderischen Pingpongs wurden auch jene fliehenden polnischen Juden, die am 2.Dezember 1939 in der polnischen Kleinstadt Hrubieszów „unter den Maschinengewehrsalven der Deutschen und der sowjetischen Grenztrupepen elendig starben“. Auch dieses Massaker hat bislang keinen Eingang in die „Erinnerungskultur“ gefunden; kaum jemand kennt den Namen Hrubieszów.
Polnischen Historikern wurde vorgeworfen, die Singularität des Holocausts zu leugnen
Man liest deshalb nicht ohne Empörung, dass Geschehnisse wie diese bereits vor Jahrzehnten von polnischen Historikern aufgearbeitet worden sind, in Deutschland jedoch kein Aufsehen erregt haben, sondern mitunter dem perfiden Verdacht ausgesetzt wurden, die Singularität des Holocaust zu relativieren. „Tatsächlich“, schreibt Claudia Weber, „ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern, sondern ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort im ‚peripheren Osten‘ vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg, und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran viel ändern.“
Was ebenso weithin in Vergessenheit geraten ist: Die damaligen Kreml-Befehle an die dänischen und französichen Kommunisten, mit den nazi-deutschen Besatzern zu fraternisieren und eine Kampffront gegen das „imperialistische England“ zu bilden. Der allzeit willfährige Lyriker Johannes R. Becher, nach dem Krieg in der DDR Walter Ulbrichts Kulturminister, dichtete dazu sogar die passenden Huldigungs-Zeilen an Stalin: „Nimm diesen Strauß mit Akelei/ zum Zeichen für das Friedensband, das fest sich spannt zur Reichskanzlei.“
Im August 1939 hatte Ribbentrop davon geschwärmt, dass „die deutsch-sowjetische Freundschaft nunmehr engültig etabliert“ sei und die beiden Nationen sich in osteuropäischen Fragen „niemals mehr hereinreden lassen“ würden. Achtzig Jahre später sprechen Politiker der SPD – vor allem aber Funktionäre der Linkspartei, im Verbund mit AfD und populistisch argumentierenden ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten – mit Blick auf das expansionistische Putin-Regime nach wie vor vom „Nachbar Russland“ und erklären (wenn überhaupt) die aktuellen baltischen, ukrainischen und polnischen Ängste herablassend mit „einer gewissen historischen Sensibilität“. Selten zuvor war ein vermeintlich historisches Buch derart augenöffnend wie dieses.
Claudia Weber: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. C.H. Beck, München 2019, 276 S., geb., Euro 26,95
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