Vom Hitler-Stalin-Pakt zum 2. Weltkrieg

© Shut­ter­stock

Der „Hitler-Stalin-Pakt“ schuf die Voraus­set­zungen für Hitlers Überfall auf Polen und den Beginn des Zweiten Welt­kriegs. In ihrem neuen Buch plädiert die Histo­ri­kerin Claudia Weber dafür, den west­eu­ro­pä­isch geprägten Blick auf den Krieg um mittel-osteu­ro­päi­sche Perspek­tiven zu erweitern.

Ist das Netz der soge­nannten „euro­päi­schen Erin­ne­rungs­kultur“ womöglich doch nicht so dicht geknüpft wie stets behauptet? Am 23. August 1939 wurde in Moskau der deutsch-sowje­ti­sche Nicht­an­griffs­ver­trag unter­zeichnet, der als „Hitler-Stalin-Pakt“ in die Geschichte einging – jedoch nach dem Krieg zumindest in West­eu­ropa der histo­ri­schen Amnesie anheim­fiel. Zum 80. Jahrestag dieses Expe­ri­ments tota­li­tärer Inter­es­sen­ver­knüp­fung beschreibt die Osteuropa-Wissen­schaft­lerin Claudia Weber, Profes­sorin an der Viadrina-Univer­sität in Frankfurt/​Oder, in ihrem soeben erschie­nenen, skrupulös recher­chierten Buch „Der Pakt“ deshalb auch die Geschichte eines fort­wäh­renden Miss­ver­ständ­nisses: „Das Bündnis zwischen Hitler und Stalin bestimmte die ersten 22 Monate des Krieges im Osten und Westen Europas. Dennoch kommt es oft wie ein Präludium daher, wie ein hinfüh­rendes Vorspiel zum ‚eigent­li­chen‘ Krieg, der erst an jenem Juli­morgen 1941 begonnen habe. In der teleo­lo­gi­schen Sicht­weise läuft der gesamte Krieg allein auf diesen Moment zu, in dem der Entschei­dungs­kampf zwischen Natio­nal­so­zia­lismus und Stali­nismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideo­lo­gien Sinn verleihen sollte.“ 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Weshalb ist dem so? Claudia Weber macht „Geschichts­tren­nungen und Erin­ne­rungs­hier­ar­chien in den histo­ri­schen Mental Maps“ für diese fatale Sicht­weise verant­wort­lich und konsta­tiert – freilich eher bedauernd als pole­mi­sie­rend: „Selbst das einfluss­reichste Werk der vergan­genen Jahre – Timothy Snyders ausge­zeich­nete Studie zu den Blood­lands – gab das Verspre­chen, eine Geschichte des verhäng­nis­vollen deutsch-sowje­ti­schen Entan­gle­ments zu sein, zugunsten der Darstel­lung eines Neben­ein­an­ders auf.“

Was deshalb vonnöten sei: Eine „Verflech­tungs­ge­schichte“, die ein bis heute „west­eu­ro­pä­isch zentriertes Geschichts­bild“ fakten­reich hinter­fragt und ergänzt.

Mörde­ri­sches Pingpong

Was also geschah zwischen dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 und dem Überfall auf die Sowjet­union zwei Jahre später? In den erst nach dem Zerfall der UdSSR publik gewor­denen geheimen Zusatz­pro­to­kollen wurde der östliche Teil Polens sowie das Baltikum Stalins Reich zuge­schlagen, so dass am 17. September 1939  600.000 Soldaten der Roten Armee in diesen Teil Polens einmar­schierten, während andere Einheiten die balti­schen Staaten besetzten, wo dann auch sogleich die Massen-Liqui­da­tionen und Depor­ta­tionen nach Sibirien einsetzten. Tatsäch­lich: Eine verdrängte „Verflech­tungs­ge­schichte“. So folgte zum Beispiel dem Moskau-Besuch von Nazi-Außen­mi­nister Joachim von Ribben­trop die Visite einer offi­zi­ellen Sowjet-Dele­ga­tion im besetzten Krakau, um mit dem dortigen „Gene­ral­gou­ver­neur“ Hans Frank die Details von Bevöl­ke­rungs­um­sied­lungen zu bespre­chen, oder ein Treffen von SS und sowje­ti­schem Geheim­dienst NKWD im Tatra-Ort Zakopane.

Der nach­fol­gende Massen­mord an 22.00 polni­schen Armee­an­ge­hö­rigen im Wald von Katyn erhält dadurch eine zusätz­liche Schre­ckens­di­men­sion, „denn Geheim­dienst-Chef Beria schlug Stalin die Erschie­ßung der polni­schen Offiziere erst vor, nachdem der Versuch, sie auf der Grundlage des deutsch-sowje­ti­schen Umsied­lungs­ab­kom­mens in das Gene­ral­gou­ver­ne­ment abzu­schieben, von den Deutschen abgelehnt worden war“. Opfer dieses mörde­ri­schen Pingpongs wurden auch jene flie­henden polni­schen Juden, die am 2.Dezember 1939 in der polni­schen Klein­stadt Hrubieszów „unter den Maschi­nen­ge­wehr­salven der Deutschen und der sowje­ti­schen Grenz­tru­pepen elendig starben“. Auch dieses Massaker hat bislang keinen Eingang in die „Erin­ne­rungs­kultur“ gefunden; kaum jemand kennt den Namen Hrubieszów.

Polni­schen Histo­ri­kern wurde vorge­worfen, die Singu­la­rität des Holo­causts zu leugnen

Man liest deshalb nicht ohne Empörung, dass Gescheh­nisse wie diese bereits vor Jahr­zehnten von polni­schen Histo­ri­kern aufge­ar­beitet worden sind, in Deutsch­land jedoch kein Aufsehen erregt haben, sondern mitunter dem perfiden Verdacht ausge­setzt wurden, die Singu­la­rität des Holocaust zu rela­ti­vieren. „Tatsäch­lich“, schreibt Claudia Weber, „ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern, sondern ein west­eu­ro­pä­isch zentriertes Geschichts­bild zu hinter­fragen, das die grund­stür­zende Tragik Osteu­ropas im 20. Jahr­hun­dert verkannte. Dass die dort im ‚peri­pheren Osten‘ vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehm­lich osteu­ro­päi­sche Ange­le­gen­heit, gehört ebenfalls zu den Resul­taten der Geschichts­auf­ar­bei­tung in den Jahr­zehnten nach dem Kalten Krieg, und nicht einmal die Einfüh­rung des 23. August als euro­päi­scher Gedenktag an die Opfer von Stali­nismus und Natio­nal­so­zia­lismus konnte daran viel ändern.“

Was ebenso weithin in Verges­sen­heit geraten ist: Die damaligen Kreml-Befehle an die dänischen und fran­zö­si­chen Kommu­nisten, mit den nazi-deutschen Besatzern zu frater­ni­sieren und eine Kampf­front gegen das „impe­ria­lis­ti­sche England“ zu bilden. Der allzeit will­fäh­rige Lyriker Johannes R. Becher, nach dem Krieg in der DDR Walter Ulbrichts Kultur­mi­nister, dichtete dazu sogar die passenden Huldi­gungs-Zeilen an Stalin: „Nimm diesen Strauß mit Akelei/​ zum Zeichen für das Frie­dens­band, das fest sich spannt zur Reichskanzlei.“

Im August 1939 hatte Ribben­trop davon geschwärmt, dass „die deutsch-sowje­ti­sche Freund­schaft nunmehr engültig etabliert“ sei und die beiden Nationen sich in osteu­ro­päi­schen Fragen „niemals mehr herein­reden lassen“ würden. Achtzig Jahre später sprechen Politiker der SPD – vor allem aber Funk­tio­näre der Links­partei, im Verbund mit AfD und popu­lis­tisch argu­men­tie­renden ostdeut­schen CDU-Minis­ter­prä­si­denten – mit Blick auf das expan­sio­nis­ti­sche Putin-Regime nach wie vor vom „Nachbar Russland“ und erklären (wenn überhaupt) die aktuellen balti­schen, ukrai­ni­schen und polni­schen Ängste herab­las­send mit „einer gewissen histo­ri­schen Sensi­bi­lität“. Selten zuvor war ein vermeint­lich histo­ri­sches Buch derart augen­öff­nend wie dieses.

Claudia Weber: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörde­ri­schen Allianz 1939–1941. C.H. Beck, München 2019, 276 S., geb., Euro 26,95

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