„Aufstehen“: Mit Ludwig Erhard in die Planwirtschaft?

Shut­ter­stock

Ein allge­gen­wär­tiger Staat, die Zerlegung von Konzernen in kleine Einheiten, Abkehr vom Euro und Kapi­tal­ver­kehrs­kon­trollen – Sahra Wagen­knechts Buch „Reichtum ohne Gier“ gibt die Marsch­rich­tung für die neue „Samm­lungs­be­we­gung“ vor. Wagen­knecht behauptet: alle diese Forde­rungen entspre­chen den Lehren der sozialen Markt­wirt­schaft. Karen Horn hat das Buch rezen­siert. Sie warnt, die Autorin führe ihre Leser durch termi­no­lo­gi­sche Haken in die Irre. 

„Bewe­gungen“ sind en vogue. Unter „Bürger­be­we­gung“ oder „Samm­lungs­be­we­gung“ geht es wohl nicht mehr. Wer eine außer­par­tei­liche Plattform gründet wie kürzlich die in ihrer Partei „Die Linke“ nicht mehr so recht behei­ma­teten Sahra Wagen­knecht und Oskar Lafon­taine, will damit erst einmal Menschen sammeln für ein alter­na­tives poli­ti­sches Projekt, in der Hoffnung, dass daraus irgend­wann eine breite Bewegung wird. Ob das in diesem Fall so kommen wird, ist eine offene Frage. Bisher erscheint das Echo verhalten.

Wie das poli­ti­sche Projekt „Aufstehen“ inhalt­lich aussehen soll, ist im Grün­dungs­aufruf beschrieben. Dieser enthält indes noch kein fertiges Programm, sondern gibt nur die „grund­sätz­liche Gesinnung der Bewegung“ vor, mit einer Liste von allerlei vorder­gründig Wünschens­wertem für ein „gerechtes und fried­li­ches Land“. Bei näherem Hinsehen wird ein Amalgam aus Alar­mismus, Anti­ka­pi­ta­lismus, Anti­ame­ri­ka­nismus und Anti­glo­ba­lismus erkennbar (siehe Zwischenruf von Ralf Fücks).

Üppiges Lob selbst von der FAZ

Welche Analyse dieser erwünschten Gesinnung zugrunde liegt und was aus ihr einmal konkret folgen soll, zu welchem Systemumbau die Reise von „Aufstehen“ also gehen soll, ist in Wagen­knechts Buch „Reichtum ohne Gier“ aus dem Jahr 2016 ausbuch­sta­biert. Sein Unter­titel ist Programm: „Wie wir uns vor dem Kapi­ta­lismus retten“. Die nur gering­fügig aktua­li­sierte Neuauf­lage vermarktet der Frank­furter Campus-Verlag derzeit als „Sonder­aus­gabe“.

Die Schrift hatte seiner­zeit üppiges Lob bekommen: für die im Vergleich zum münd­li­chen Auftritt zurück­hal­tende Dosierung von Polemik; für den zugäng­li­chen Schreib­stil; für die volks­wirt­schaft­li­chen Grund­kennt­nisse, die Wagen­knecht fast (allzu) kind­ge­recht zu vermit­teln versteht; für Diagnose und Thera­pie­plan der Malaisen der Gegenwart. In der Frank­furter Allge­meinen Zeitung hieß es gar: „Über diesen Kommu­nismus könnte man reden.“ Wirklich?

Portrait von Karen Horn

Karen Horn ist Dozentin für ökono­mi­sche Ideen­ge­schichte und Wirt­schafts­jour­na­lismus an der Univer­sität Erfurt.

Denn zu reden wäre dann nicht nur über den Ruf nach mehr Gerech­tig­keit, mehr sozialer Mobilität, mehr Leis­tungs­wett­be­werb, mehr Nach­hal­tig­keit und mehr Inno­va­tion. Zu reden wäre dann auch über eine in weiten Teilen plan­wirt­schaft­liche Ordnung, in der über alles Mögliche per Mehrheit oder per Regie­rungsakt zu entscheiden wäre – unter anderem über Gewinn­erzie­lung, Inves­ti­ti­ons­steue­rung und Geld­schöp­fung. Begründet wird das mit der histo­risch hinläng­lich wider­legten Annahme, dass sich auf diese Weise die Gemein­nüt­zig­keit der Wirt­schaft sichern lasse. Die Zerschla­gung von Konzernen bis „auf die kleinste tech­no­lo­gisch sinnvolle Größe“, die Abschaf­fung der Gesell­schaft mit beschränkter Haftung (GmbH) sowie der Patente zum Schutz geistigen Eigentums stünden ebenso auf der Agenda wie die Abkehr vom Euro und die Einfüh­rung von Kapi­tal­ver­kehrs­kon­trollen. Mutwil­liger kann man die Zukunft eines Landes kaum aufs Spiel setzen.

Wie Wagen­knecht die Ordo­li­be­ralen herbeiruft

Intel­lek­tuell ist das Buch trotzdem halbwegs inter­es­sant, weil Wagen­knecht ihre Darle­gungen nicht nur auf lange verin­ner­lichte kommu­nis­ti­sche Denk­muster stützt, sondern eine ergän­zende ordo­li­be­rale Perspek­tive rekla­miert. Der marxis­ti­sche Hinter­grund tritt unter anderem dann zutage, wenn sie den Kapi­ta­lismus als Ordnung beschreibt, in dem „nicht allein mit Kapital produ­ziert wird, sondern um des Kapitals willen“. Sie hat aber auch das Werk von Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard gründlich studiert. Wagen­knecht bean­sprucht nichts weniger als das Konzept der Sozialen Markt­wirt­schaft unter den gegen­wär­tigen Bedin­gungen „zu Ende zu denken“. Stra­te­gisch hätte das auf eine asym­me­tri­sche Demo­bi­li­sie­rung des Libe­ra­lismus hinaus­laufen können. Doch das Resultat ist zu sehr ein poli­ti­sches Kuriosum, als dass es eine große Über­zeu­gungs­kraft entwi­ckeln dürfte.

Wagen­knecht steht fest zu der üblichen linken Erzählung, der Kapi­ta­lismus zerstöre die Demo­kratie und der Neoli­be­ra­lismus sei nichts anderes als ein Neofeu­da­lismus – mit „blinder Markt­gläu­big­keit“, mit dem „Schleifen des Sozi­al­staats“, mit der Priva­ti­sie­rung öffent­li­cher Leis­tungen, mit „Wahllügen, Arroganz und Korrup­tion“, mit einer „gesell­schaft­li­chen Legi­ti­ma­tion der Amoral“ und mit der „Zemen­tie­rung der Armut in weniger entwi­ckelten Ländern“. Dass der Anteil der Sozi­al­aus­gaben am Brut­to­in­lands­pro­dukt in Deutsch­land trotz der „Agenda 2010“ steigt und wir ein rasantes Wachstum der Mittel­schichten in den aufstei­genden Entwick­lungs­län­dern verzeichnen, trübt das harsche Urteil nicht.   Sie hält sich mit der termi­no­lo­gi­schen Verschie­bung geschickt die Vorhal­tungen vom Leib, den Neoli­be­ra­lismus gründlich miss­zu­ver­stehen. Zudem springt so auch der Wider­spruch weniger ins Auge, dass sie zwar einer­seits eine angeblich neoli­be­rale Politik für eine Verelen­dung der Massen und für das Aufkommen rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mungen verant­wort­lich macht, sich ande­rer­seits aber anschickt, diese Strö­mungen recht­erhand zu überholen.

Vormo­derne Vorliebe für kleine Wirtschaftseinheiten

Wagen­knecht ruft zur Bekräf­ti­gung ihrer Thesen ausge­rechnet die histo­ri­schen Ordo­li­be­ralen herbei, also die Vertreter des deutschen Neoli­be­ra­lismus – Denker, die in Teilen der linken Blase als Feinde der Demo­kratie und des kosmo­po­li­ti­schen Inter­na­tio­na­lismus gelten. Der durchaus proble­ma­ti­schen Demo­kra­tie­kritik der frühen Ordo­li­be­ralen widmet sie sich jedoch nicht; und mit dem Inter­na­tio­na­lismus steht sie selbst auf Kriegsfuß: „Der Kosmo­po­li­tismus ist die Ideologie der Gewinner des globalen Konzernkapitalismus.“

Von den Ordo­li­be­ralen übernimmt sie das Plädoyer für den Leis­tungs­wett­be­werb und für einen starken, nicht durch Privat­in­ter­essen beein­fluss­baren Staat. Hier liegt ange­sichts der Finanz­krise von 2008 sowie der Dominanz von Inter­net­riesen wie Google und Amazon in der Tat einiges im Argen. Deshalb muss man sich noch lange nicht der über­zo­genen und für den Fort­be­stand der liberalen Demo­kratie gefähr­lich korro­siven Folgerung anschließen, das ganze System sei krank und harre der Über­win­dung. Den Ordnungs­rahmen zu verbes­sern, würde schon genügen.

Die Ordo­li­be­ralen inspi­rieren Wagen­knecht zudem zu einer vormodern anmu­tenden Präferenz für kleine Wirt­schafts­ein­heiten und für kultu­relle Homo­ge­nität. Hier wird die Sache restlos unge­müt­lich, denn diese Vorliebe bereitet den Boden für Wagen­knechts Aussagen zur Flücht­lings­po­litik, die auch in ihrer Partei Anstoß erregen. Sie hat ihren Weg links außen begonnen und ist jetzt bei Posi­tionen ange­kommen, die bisher rechts außen verortet wurden. Dieser Weg zeigt, wie sehr die poli­ti­sche Geogra­phie aus den Fugen ist.

Die Soziale Markt­wirt­schaft jeden­falls hat Sahra Wagen­knecht wie beab­sich­tigt zu Ende gedacht: Was sie fordert, wäre in der Tat deren Ende, ökono­misch wie politisch und moralisch.

 

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