Thesen zur Krise und Erneuerung der liberalen Demokratie
Von AfD über Wladimir Putin bis hin zu Donald Trump: Wir befinden uns in einer Phase der „demokratischen Rezession“. Wenn wir die liberale Demokratie wiederbeleben wollen, dürfen wir Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausspielen. Wir müssen freiheitliche Antworten auf konservative Bedürfnisse finden und den Fortschritt als politische Kategorie wiederentdecken. Ein Thesenpapier.
- Der Siegeszug der liberalen Demokratie ist einstweilen vorbei. Wir befinden uns in einer Phase der „demokratischen Rezession“. Sie trägt Züge einer antiliberalen Konterrevolution – also einer Gegenreaktion auf die lange Welle der Liberalisierung, die in den Sechzigerjahren eingesetzt und die westlichen Gesellschaften wie die internationale Landkarte dramatisch verändert hat. Ob aus dieser Schubumkehr ein langfristiger Trend wird, ist noch nicht entschieden.
- Die liberalen Demokratien sehen sich einer doppelten Herausforderung gegenüber: Von außen durch selbstbewusst auftretende autoritäre Mächte, die sich als Gegenspieler und Alternative zur offenen Gesellschaft verstehen. Von innen durch antiliberale Gegenströmungen, populistische Bewegungen und Parteien, deren gemeinsamer Nenner die Abwehr von Einwanderung, Globalisierung und vertiefter europäischer Integration ist. Sie protestieren gegen die Auflösung der patriarchalen Familie und die Gleichstellung sexueller Minderheiten, sie verbreiten Verschwörungstheorien und ziehen eine scharfe Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“, Einheimischen und Ausländern, „Volk“ und „Eliten“.
- Außenpolitisch verbindet sie in der Regel die Gegnerschaft zur transatlantischen Allianz und die Sympathie für Putin-Russland. Moskau ist das neue Mekka der antiliberalen Internationale – mit weit gespannten Netzwerken im Westen, von ganz rechts bis ganz links. Mit China ist dem Westen zudem ein neuer Typ von Gegenspieler erwachsen: Peking kombiniert autoritäre Herrschaft mit einer dynamischen, innovativen Ökonomie. Das chinesische Regime steht für das Versprechen auf Wohlstand und Stabilität ohne Demokratie. Wir befinden uns in einer neuen Systemkonkurrenz. Sie wird machtpolitisch, wirtschaftlich und auf dem Feld der Ideen, Werte und Informationen ausgetragen.
- Ein spezifisches (und alarmierendes) Merkmal ist die politische Regression, die in einer ganzen Reihe alter wie neuer Demokratien zu beobachten ist. Die Wende zur „illiberalen Demokratie“ (ein Euphemismus) hat die USA ebenso erfasst wie Italien, Polen und Ungarn; man findet sie in unterschiedlichen Ausprägungen auch in Israel und den Demokratien des globalen Südens (Philippinen, Brasilien). Dabei mischt sich der Ruf nach dem „starken Mann“ mit dem Zorn auf die alten politischen Eliten. Ein zentraler Grund für den Vertrauensverlust in die liberale Ordnung ist der verbreitete Eindruck von Kontrollverlust, insbesondere mit Blick auf ökonomische Globalisierung und Migration. Nicht von ungefähr lautete die zentrale Parole der Brexit-Kampagne „Let’s take back control“. Rechts- wie Linkspopulisten propagieren den Rückzug auf den Nationalstaat als Schutzmacht vor den Stürmen der Globalisierung und Gehäuse sozialer Sicherheit. Das ist ein ebenso trügerisches wie massenwirksames Versprechen.
- Zwei Ereignisse haben als Brandbeschleuniger für die antiliberale Gegenbewegung gewirkt: die Finanzkrise von 2008 und die große Flüchtlingsbewegung von 2015. Die Finanzkrise verschärfte noch eine zweite Ursache für den Vertrauensverlust in die liberale Demokratie: die wachsende soziale Ungleichheit und die Polarisierung zwischen Modernisierungsgewinnern und ‑verlierern in den westlichen Gesellschaften. Sie schlägt sich auch in den wachsenden sozialräumlichen Diskrepanzen zwischen prosperierenden Metropolen und zurückbleibender Peripherie nieder (ein zentraler Faktor für die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich).
- Wenn wachsende Unsicherheit auf wachsende Ungleichheit trifft, entsteht eine explosive Gemengelage. Modernisierungsverlierer und Veränderungsängstliche finden sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Die Anfälligkeit für antiliberale, populistische Politik ist deshalb nicht auf die sozial „Abgehängten“ begrenzt, sondern zieht sich quer durch die gesellschaftlichen Milieus. Sie hat sozio-ökonomische wie kulturelle Gründe.
- Bei der Suche nach Erklärungen für die Krise der liberalen Demokratie stößt man auf ein historisches Muster: Phasen beschleunigter Modernisierung waren immer auch Phasen politischer Krisen. Das gilt insbesondere für den Beginn des letzten Jahrhunderts. Das frühe 20. Jahrhundert war ebenfalls eine Periode beschleunigter technologischer und kultureller Umbrüche und weltwirtschaftlicher Integration, verschärft durch die Verheerungen des ersten Weltkriegs. Schon lange vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickelten sich starke geistige und politische Gegenbewegungen zum Liberalismus. Ihr zugespitzter Ausdruck waren Faschismus und Kommunismus als totalitäre Gemeinschaftsideologien. Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck („Das dritte Reich“), Oswald Spengler, Ernst Jünger und Carl Schmitt hatten enormen Einfluss auf das Denken ihrer Zeit. Die neue Rechte von heute ist nur ein Wiedergänger dieser geistigen Vorläufer.
- Moderne bedeutet permanente Veränderung. Nichts bleibt, wie es ist. Sie geht einher mit der Auflösung traditioneller Bindungen, Gemeinschaften und Sicherheiten. Dieser Prozess beschleunigt sich sei 1990. Seine Treiber sind Globalisierung, digitale Revolution, globale Migration und die Umwälzung der Geschlechterverhältnisse. Ein Teil unserer Gesellschaft reagiert auf diese Umbrüche mit Verunsicherung und Angst. Diese Angst ist der mentale Boden für nationalistische und autoritäre Gegenbewegungen.
- Wer den Gegnern der liberalen Demokratie die Schwungmasse entziehen will, muss freiheitliche Antworten auf konservative Grundbedürfnisse finden: Sicherheit, Zugehörigkeit, Stabilität und Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen wie des eigenen Lebens. Demokratien müssen angesichts fundamentaler Veränderungen, die das bisherige ökonomische und soziale Gefüge in Frage stellen, ihre Fähigkeit beweisen, diese Prozesse zu steuern, statt ihnen ausgeliefert zu sein. Das gilt für die globalen Finanzmärkte wie für den Klimawandel, aber auch für Flucht und Migration. Das Gerede von der „Alternativlosigkeit“ politischer Entscheidungen und die Reduzierung von Regierungshandeln auf die bloße Anpassung an vermeintliche Sachzwänge untergräbt die Demokratie. Demokratische Politik dreht sich immer um Alternativen, um widerstreitende Werte und Ziele. Demokratie ist das Versprechen auf individuelle Selbstbestimmung und gemeinsame Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten.
- Wenn die These zutrifft, dass wir es mit einem Gemisch aus Zukunftspessimismus, Verunsicherung, Abstiegsängsten und Ohnmachtsgefühlen zu tun haben, dann liegt eine zentrale Herausforderung für liberale Demokratien darin, „Sicherheit im Wandel“ zu gewährleisten. Nicht durch Abschottung, durch Zäune gegen Migranten und Zölle gegen internationale Konkurrenz, sondern durch eine Stärkung der Resilienz offener Gesellschaften gegenüber fundamentalen Veränderungen. Resilienz bedeutet eine Kombination aus Widerstandskraft, Anpassungsfähigkeit und Innovationsfähigkeit.
- Wir dürfen Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausspielen. Gelebte Freiheit erfordert ein Mindestmaß an Sicherheit: Rechtssicherheit, soziale Sicherheit, Sicherheit im öffentlichen Raum. Die „Freiheit von Furcht“ ist die Mutter aller Freiheiten. „Sicherheit im Wandel“ erfordert die Befähigung jedes Einzelnen, mit sozialen, technischen und kulturellen Veränderungen Schritt zu halten. Bildung und Weiterbildung (lebenslanges Lernen) spielen dafür eine Schlüsselrolle. Außerdem neue Formen sozialer Teilhabe, etwa die Beteiligung breiter Schichten am Produktivvermögen (Eigentum für alle), eine aktive Bürgergesellschaft (gesellschaftlicher Zusammenhalt kann nicht allein durch den Staat gewährleistet werden), flexible Übergänge zwischen kommerzieller und gemeinnütziger Tätigkeit (Sabbaticals, Bürgerarbeit) und starke öffentliche Institutionen als Stabilitätsanker in Zeiten stürmischer Veränderung. Schulen, Theater, Museen und öffentliche Verkehrsmittel sind republikanische Institutionen, die Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit vermitteln.
- Wer die Demokratie stärken will, muss die kommunale Selbstverwaltung, also die politischen Entscheidungskompetenzen und finanziellen Handlungsmöglichkeiten vor Ort, stärken. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und europäischer Integration wächst die Bedeutung der Kommunen als Zentrum demokratischer Beteiligung. Wir müssen Demokratie im 21. Jahrhundert als „Mehrebenen-Demokratie“ denken.
- Wider die Verzagtheit: Wir müssen die Zuversicht zurückgewinnen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich bewältigen können, vom Klimawandel und der digitalen Revolution bis hin zur tiefgreifenden demographischen Veränderung unserer Gesellschaft. Dazu gehört die Wiederentdeckung des Fortschritts als politische Kategorie: Was ist unsere Fortschrittserzählung für die kommenden Jahrzehnte? Wir können und müssen darauf bauen, dass die liberale Demokratie auch in Zukunft die bessere Alternative zu allen autoritären Regierungsformen ist, weil sie das größte Maß an Freiheit und Innovationsfähigkeit bietet.
Ralf Fücks präsentierte dieses Thesenpapier beim Willy-Brandt-Gespräch 2019 der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Das Thema des Abends lautete: „Demokratie in der Defensive – Gehört den Autokratien und Diktaturen die Zukunft?“ Sehen Sie hier den einführenden Vortrag von Ralf Fücks sowie die anschließende Diskussion mit Rolf Mützenich (MdB, SPD), Sevim Dagdelen (MdB, Die Linke) und Nadine Godehardt (Stiftung Wissenschaft und Politik):
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