Die Achse Berlin-Moskau

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1939 einigten sich Hitler und Stalin auf den „deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffspakt“. Die beiden totali­tären Mächte teilten Polen und das Baltikum unter­ein­ander auf und steckten ihre Einfluss­sphären im östlichen Europa ab. Der Pakt öffnete Tür und Tor für den deutschen Einmarsch in Polen und damit für den Zweiten Weltkrieg. Auch heute gilt: Eine Politik deutsch-russi­scher Sonder­be­zie­hungen geht zu Lasten der Länder zwischen Berlin und Moskau.

Am 23. August 1939 unter­zeich­neten das Deutsche Reich und die Sowjet­union einen von den Zeitge­nossen als sensa­tionell wahrge­nom­menen Nicht­an­griffspakt, in dem sie sich verpflich­teten, sich „jedes Angriffs gegen einander (…) zu enthalten.“ Die wirkliche Sensation war jedoch nicht dieser Vertrag, sondern das „Geheime Zusatz­pro­tokoll“, das die „beider­sei­tigen Inter­es­sens­sphären in Osteuropa“ vonein­ander abgrenzte. Demnach fielen die souve­ränen Staaten Finnland, Estland, Lettland und (entspre­chend einem weiteren „Geheimen Zusatz­pro­tokoll“ vom 28. September 1939) Litauen in die Inter­es­sens­sphäre der Sowjet­union. Polen wurde entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR geteilt. Bessa­rabien, das zu Rumänien gehörte, wurde der Sowjet­union zugesprochen; im Juni 1940 wurde diese erzwungene Abtretung um die Nordbu­kowina erweitert. Das „Geheime Zusatz­pro­tokoll“ entfaltete eine gewaltige Wirksamkeit und bestimmte in hohem Maß die politi­schen Verhält­nisse in Osteuropa bis zum Ende der Sowjetunion. 

Portrait von Gerhard Simon

Gerhard Simon war Professor an der Univer­sität zu Köln und gilt als einer der renom­mier­testen Ukraine-Experten in Deutschland.

Die Vertrags­par­teien reali­sierten die, wie es im Protokoll hieß, „terri­torial-politische Umgestaltung“ Polens im September 1939 innerhalb weniger Wochen durch die militä­rische Nieder­werfung und Besetzung des Landes, die von Westen her durch das Deutsche Reich seit dem 1. September und von Osten her durch die  Sowjet­union seit dem 17. September ins Werk gesetzt wurden. Estland, Lettland und Litauen wurden im Sommer 1940 annek­tiert und der Sowjet­union als Unions­re­pu­bliken einge­gliedert. Bessa­rabien und die Nordbu­kowina wurden ebenfalls von der Sowjet­union annek­tiert und der Moldaui­schen Unions­re­publik bzw. der Ukrai­ni­schen Unions­re­publik zugeschlagen. Finnland blieb als eigen­stän­diger Staat erhalten, weil die Finnen im Winter­krieg 1939/​40 unerwartet starken militä­ri­schen Wider­stand leisteten. Das Land musste aller­dings einen Teil von Karelien an die Sowjet­union abtreten.

Diese Umver­teilung von Staaten und Völkern in Osteuropa kam zustande, weil sie im Interesse beider, angeblich ideolo­gisch unver­söhn­licher Partner lag. Adolf Hitler schuf sich so die Voraus­setzung zu dem seit Langem geplanten Krieg im Osten; ein Zweifron­ten­krieg war so zunächst abgewendet. Josef Stalin erwei­terte die Sowjet­union nach Westen und resti­tu­ierte beinahe die Grenzen des Russi­schen Reiches von vor 1914. Beide Dikta­toren waren überzeugt, den anderen mit dem Vertragswerk übers Ohr gehauen zu haben. Außerdem verband beide das vollständige Fehlen jeglicher morali­scher, recht­licher oder humani­tärer Skrupel, wenn Staaten von der Landkarte ausra­diert und Wider­stand dagegen blutig nieder­ge­schlagen wurde.

Gab es das „Geheime Zusatz­pro­tokoll“ überhaupt?

Zwar verlor der Nicht­an­griffspakt mit dem deutschen Überfall auf die Sowjet­union im Juni 1941 seine Grundlage, aber das „Geheime Zusatz­pro­tokoll“ blieb insofern wirksam, als die siegreiche Sowjet­union auch nach 1945 de facto an seiner Imple­men­tierung festhielt. Die Grenze gegenüber Polen und die Einver­leibung der 1939/​40 annek­tierten Terri­torien blieben erhalten.

Aber gab es das „Geheime Zusatz­pro­tokoll“ überhaupt? Nach 1945 wurden alle Akten der deutschen Seite im Westen veröf­fent­licht, aller­dings war das Original des „Geheimen Zusatz­pro­to­kolls“ der deutschen Seite in den Kriegs­wirren verloren gegangen, nur Kopien hatten sich erhalten. Die Sowjet­union bestritt mit großem propa­gan­dis­ti­schem Aplomb jahrzehn­telang die Existenz des Proto­kolls und erklärte es zu einer antiso­wje­ti­schen Fälschung. Erst bei der Amtsübergabe von Michail Gorbat­schow an Boris Jelzin im Dezember 1991 „fand sich“ das Original der sowje­ti­schen Seite in einem Panzer­schrank des ersten und letzten Präsi­denten der UdSSR und gelangte in die Hände des russi­schen Präsi­denten Jelzin, der es veröf­fent­lichen ließ.

Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Rad der Geschichte mächtig weiter­ge­dreht. Dabei hatte der Hitler-Stalin-Pakt ein weiteres Mal eine wichtige Rolle als Motor gespielt. So wie er 1939 zur Auflösung der Souve­rä­nität der drei balti­schen Staaten geführt hatte, so wurde er jetzt zu einem mächtigen Hebel bei der Wieder­her­stellung eben dieser Souve­rä­nität. Damit läutete der Pakt indirekt den Untergang der Sowjet­union ein.

Denn die Dissi­denten- und Natio­nal­be­we­gungen der balti­schen Völker beriefen sich in den Achzi­ger­jahren lautstark auf das Völker­recht und verlangten die Aufhebung des völker­rechts­wid­rigen Paktes und seiner Folgen. Höhepunkt der Volks­be­we­gungen war der „baltische Weg“, eine Menschen­kette von Tallinn über Riga nach Vilnius am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Pakts, an der mehr als eine Million Menschen teilnahmen. 1991 erklärten Litauen, Estland und Lettland die Wieder­her­stellung ihrer Unabhän­gigkeit und traten aus der Sowjet­union aus, nachdem eine überwäl­ti­gende Mehrheit der Wähler in Referenden für die Selbst­stän­digkeit gestimmt hatte.

Glasnost und Perestroika führten zu einer Neube­wertung des Pakts

Glasnost und Perestroika hatten gegen Ende der Achtzi­ger­jahre zu einer revolu­tio­nären Situation in der gesamten Sowjet­union geführt. Eine offizielle Neube­wertung des Hitler-Stalin-Pakts wurde unver­meidbar. Der Kongress der Volks­de­pu­tierten der UdSSR – das neuge­schaffene oberste parla­men­ta­rische Gremium – fasste am 24. Dezember 1989 einen Beschluss zur „recht­lichen und politi­schen Bewertung des sowje­tisch-deutschen Nicht­an­griffs­pakts von 1939“. Darin hieß es: „Der Kongress erklärt die Geheim­pro­to­kolle für juris­tisch haltlos und unwirksam vom Zeitpunkt ihrer Unter­zeichnung an“.

Diese, wie es schien, unmiss­ver­ständ­liche Sprache bedeutete jedoch keineswegs das Ende der Kontro­versen um den Pakt und die „Geheimen Zusatz­pro­to­kolle“. Denn Gorbat­schow und seine Führungs­mann­schaft waren zwar bereit, die Existenz der Geheim­pro­to­kolle anzuer­kennen und sich von ihnen politisch und rechtlich zu distan­zieren. Sie waren aber nicht bereit, die sich daraus ergebenden Konse­quenzen – die gewaltsame Inkor­po­ration der balti­schen Staaten in die Sowjet­union – für wider­rechtlich und nichtig zu erklären. Dies ist im Wesent­lichen der Stand­punkt der russi­schen Regierung bis heute.

Diese Spreizung zwischen dem Pakt und seinen Folgen hat weder die balti­schen Völker noch die russische Gesell­schaft überzeugt. In diesen kurzen Jahren des antiso­wje­ti­schen Konsenses begrüßten Hundert­tau­sende Demons­tranten auch in Russland die Freiheit der balti­schen Völker.

Putin und der Pakt

Die kontro­versen und in sich wider­sprüch­lichen Inter­pre­ta­tionen des Paktes hielten auch in postso­wje­ti­scher Zeit an. Der Abschluss des Molotow-Ribbentrop-Paktes – die alter­native Bezeichnung für Hitler-Stalin-Pakt – im August 1939 sei „unmora­lisch und praktisch perspek­tivlos“ gewesen, schrieb der damalige Minis­ter­prä­sident Wladimir Putin in der polni­schen Zeitung „Gazeta Wyborcza“ am 31. August 2009, bevor er zur Teilnahme an den inter­na­tio­nalen Gedenk­feiern zum 70. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs nach Danzig aufbrach. Aller­dings, fügte er hinzu, habe Stalin lediglich das Gleiche getan wie die Führer der westlichen Mächte ein Jahr zuvor bei der Unter­zeichnung des Münchner Abkommens. Im Übrigen habe die Sowjet­re­gierung angesichts der realen Kräfte­ver­hält­nisse damals keine Alter­native gehabt, als auf die deutschen Wünsche einzugehen.

Die Argumen­tation, der Pakt sei eine friedens­si­chernde Maßnahme gewesen, ist inzwi­schen in Russland zum wesent­lichen Recht­fer­ti­gungs­etikett geworden. Nicht verwun­derlich, dass die Polen und die Balten dem nichts abgewinnen können, zumal die Rhetorik Putins nach 2014 an Schärfe gewonnen hat. Polen sei mitschuldig an seiner Aufteilung, sagte der russische Präsident wiederholt, und der Abschluss des Paktes sei sinnvoll und notwendig gewesen. Die Verhärtung der politi­schen Fronten wird darin sinnfällig, dass die polnische Regierung Putin zum 80. Jahrestag des Kriegs­aus­bruchs am 1. September 2019 nicht einge­laden hat.

Die russische Politik der imperialen Restau­ration ist im zurück­lie­genden Jahrzehnt immer aggres­siver geworden. Polen und die balti­schen Staaten sehen sich poten­tiell bedroht. Die Ukraine ist seit fünf Jahren Opfer eines hybriden Krieges. In Ostmit­tel­europa geht die Furcht um, der Westen und insbe­sondere Deutschland könnten bei einer weiteren Zuspitzung der Konflikte nicht die Inter­essen der Ostmit­tel­eu­ropäer schützen, sondern eine deutsch-russische Verstän­digung auf Kosten der Ostmit­tel­eu­ropäer suchen.

Der Hitler-Stalin-Pakt war die zynische Kulmi­nation einer Zusam­men­arbeit Deutsch­lands und Russlands auf Kosten der Völker und Staaten, die geogra­phisch zwischen ihnen liegen. Insofern stand dieser Pakt in der Tradition der Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhun­derts, der bismarck­schen Russland­po­litik und ihrer tiefsit­zenden Polen­ver­achtung. Auch nach 1918 fanden die beiden angeb­lichen Paria­mächte, Deutschland und die Sowjet­union, Wege zu einer recht umfang­reichen wirtschaft­lichen und militä­ri­schen Zusammenarbeit.

Die gegen­wärtige deutsche Politik verur­teilt zwar die russische Aggression gegen die Ukraine und bekennt sich zu den Verpflich­tungen der Nato gegenüber Polen und den balti­schen Staaten. Aber sowohl in der deutschen politi­schen Klasse als auch der Öffent­lichkeit sind Zweifel an den Sanktionen gegenüber Russland weit verbreitet, und eine positive Grund­haltung gegenüber einer Großmacht, ohne die angeblich nichts geht, findet viel Unter­stützung. In einigen gegen­wär­tigen Konflikten steht die deutsche Politik eindeutig auf der Seite Russlands und gegen die Inter­essen der Staaten Ostmit­tel­eu­ropas: Der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 wird in Warschau, Brüssel, Kiew und vielen Ländern der EU kritisch gesehen und abgelehnt. Deutschland ist die Speer­spitze der Unter­stützung des Projekts, das vor allem den politi­schen Inter­essen Russlands dient. Deutschland beugt sich den Inter­essen Russlands auch hinsichtlich einer Mitglied­schaft der Ukraine in der EU. Zwar begrüßt die deutsche Politik seit Jahrzehnten die Wendung der Ukraine nach Europa, lehnt aber eine Mitglied­schaft in der EU strikt ab. Eine rasche Annäherung der Ukraine an die Nato hat die deutsche Politik seit 2008 verhindert und damit die russische Aggression jeden­falls indirekt erleichtert. Insgesamt zeigt sich, dass eine Politik und Menta­lität des „Russia first“ zu Lasten der Länder zwischen Deutschland und Russland bei uns auch in der Gegenwart viel Zustimmung findet.

Textende

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