Nach der Wahl: Gespal­tenes Ungarn

Foto: Janossy Gergely/​Shutterstock

Bei der Wahl am 8. April 2018 konnte Viktor Orbáns Fidesz die absolute Parla­ments­mehrheit behaupten. Attila Juhasz erklärt, dass dies kein geschlos­senes Votum für die illiberale Demokratie bedeutet. Die ungarische Gesell­schaft ist tief gespalten und Orbán weiß dies für sich zu nutzen.

Das parla­men­ta­rische Kräfte­ver­hältnis zwischen den Parteien in Ungarn nach den Wahlen vom 8. April legt nahe, dass es im Land eine weitge­hende politische Geschlos­senheit gibt. Die regie­rende Fidesz-Partei hat in der Natio­nal­ver­sammlung bei einer Wahlbe­tei­ligung von über 70 Prozent eine Zweidrittel-Mehrheit errungen, wobei sie 91 Direkt­mandate gewann und die Partei­liste 49 Prozent der Stimmen erhielt. Darüber hinaus konnte die Regie­rungs­partei im Vergleich zu 2014 den vorlie­genden Daten zufolge – die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags nur unvoll­ständig waren – 364.203 neue Wähler gewinnen.

Womöglich hat sogar Fidesz selbst eine solche Expansion nicht erwartet, da die Umfra­ge­institute die Partei im Vorfeld der vier vergan­genen Wahlen stärker einge­stuft hatten, als sie dann tatsächlich war. So wurde erneut erwartet, dass unent­schlossene Wähler die Opposition stärken würden. Daher wurde davon ausge­gangen, dass eine höhere Wahlbe­tei­ligung der Opposition zugute­kommen würde; zudem hatten auch die Ergeb­nisse von Nachwahlen in diese Richtung gewiesen. Bei den Parla­ments­wahlen ergab sich aller­dings gerade das Gegenteil: Nur in der Haupt­stadt konnte die Opposition von der relativ hohen Wahlbe­tei­ligung profi­tieren, während letztere auf dem flachen Land und insbe­sondere in kleineren Ortschaften Fidesz zugutekam. Die rechts­na­tio­na­lis­tische Jobbik schließlich konnte ihren Wähler­zu­spruch auf dem Niveau von 2014 halten, aber nur ein Direkt­mandat erringen (Dunaúj­város), womit sie weit hinter den eigenen Erwar­tungen zurückblieb.

Bei den Mittle-links-Parteien erfolgte lediglich eine Neuver­teilung der Stimmen ohne allge­meine Gewinne für das Lager: 2014 hatten die Listen von MSZP-DK-Együtt-PM-MLP (Ungarische Sozia­lis­tische Partei /​ Demokra­tische Koalition /​ Gemeinsam /​ Dialog /​ Ungarische Liberale Partei) und LMP (dt.: „Politik kann anders sein“) zusam­men­ge­nommen 1.558.151 Stimmen gewinnen können. Bei den diesjäh­rigen Wahlen erhielten den bislang vorlie­genden Daten zufolge die Listen von MSZP-Párbeszéd (MSZP und Dialog), DK, Együtt, LMP, Momentum und MKKP (Partei des zweischwän­zigen Hundes) 1 583 440 Stimmen. Der größte Erfolg der zersplit­terten Links­op­po­sition bestand in dem Sieg über Fidesz in der Haupt­stadt. Dort errang die Opposition mit 12 von 18 vier Direkt­mandate mehr als vor vier Jahren. Sie hätte in Budapest sogar fünf der übrigen sechs Direkt­mandate gewinnen können, wenn es eine bessere Koordi­nierung gegeben hätte. Es hätte gereicht, Jobbik im Budapester Wahlkreis Nr. 6 in die Koordi­nation einzu­be­ziehen. Diese Ergeb­nisse sind ein guter Beleg dafür, dass die Teilung in Haupt­stadt und Provinz in Ungarn tiefer ist, denn je. Nur ein einziger Kandidat der linken Parteien hat außerhalb von Budapest ein Direkt­mandat erobern können (der sozia­lis­tische Kandidat in Szeged wurde wieder­ge­wählt); der unabhängige Kandidat Tamás Mellár errang ein Mandat in Pécs.

Schaut man sich nun die geogra­fische Struktur der Ergeb­nisse an, ergibt sich, dass die Regie­rungs­partei den beträcht­lichen Wahlerfolg vor allem ihrer heraus­ra­genden Popula­rität in den Dörfern zu verdanken hat (58 % der Stimmen für die Partei­liste). Jobbik schnitt in kleineren Ortschaften ebenfalls gut ab. Die linken Parteien jedoch erfuhren dort kaum Unter­stützung. In den größeren und den kreis­freien Städten sind die Wahler­geb­nisse ausge­gli­chener, doch selbst hier konnten nur Fidesz und Jobbik zulegen, während die linken Parteien auch hier Einbußen verzeich­neten. Letzt­endlich ergibt sich, dass Budapest in Ungarn zu einer Insel der linken Opposition geworden ist. Hier hat Fidesz erheblich schwächer abgeschnitten, während Jobbik sich in der Haupt­stadt trotz ihrer Strategie, gemäßigtere Töne anzuschlagen und Wähler der Mitte zu erreichen, nicht zu einem relevanten Akteur entwi­ckeln konnte.

Aus den Daten geht auch hervor: Je weniger entwi­ckelt und ärmer eine Ortschaft, umso besser die Ergeb­nisse für Fidesz. Die Gründe hierfür sind weniger in großzü­giger Sozial­po­litik oder wirksamer Entwick­lungs­po­litik von Fidesz zu suchen. Vielmehr ist zu vermuten, dass der Regie­rungs­wahl­kampf, der auf nichts anderes abzielte, als auf angeb­liche Bedrohung durch Migration, so starke Wirkung entfaltete, weil der öffent­liche Raum auf dem Land von der Propa­ganda der Regierung beherrscht wird. Die Wähler­stimmen sind besser zu kontrol­lieren, weil die Leute vor Ort von der Regierung anhängig sind und die Regie­rungs­par­teien in kleineren Ortschaften über sehr viel präsentere Organi­sa­ti­ons­struk­turen verfügen. Darüber hinaus werden einige Teile der Regie­rungs­po­litik tatsächlich von der dörflichen Bevöl­kerung unter­stützt, etwa das Öffent­liche Beschäf­ti­gungs­pro­gramm oder die Law and Order-Politik. Jobbik hingegen stellt in den Dörfern keine ausrei­chend starke Konkurrenz dar. Die linke Opposition ist hier nicht mehr existent und es gibt noch keine Ortsver­bände der neuen Parteien.

Die geogra­fi­schen Trenn­linien in der ungari­schen Politik sind auch in sozio­lo­gi­scher Hinsicht erkennbar. Das Wahler­gebnis bestä­tigte, was Umfragen früher schon angedeutet hatten. Die Wähler­schaft der Regie­rungs­partei hat sich gewandelt. Unter den Fidesz-Wählern ist Anteil aus bürger­lichen, höher gebil­deten und oberen sozialen Schichten ist ebenso zurück­ge­gangen, wie derje­nigen, die in der Haupt­stadt leben. Gleich­zeitig ist die Zahl jener Fidesz-Anhänger gestiegen, die in Dörfern oder kleineren Städten leben oder den unteren sozialen Schichten angehören. Zudem werden Fidesz-Anhänger immer älter. Älter sind nur die Anhänger der schick­salhaft alternden sozia­lis­ti­schen MSZP. Gleich­zeitig unter­stützt die Jugend – die nun aktiver ist, als früher – heute vor allem die relativ neuen Parteien wie Jobbik, die liberale LMP und Momentum. Fidesz ist nicht in der Lage, die Jugend zu erreichen. Eine bezeich­nende Verän­derung ist auch, dass Fidesz dort Stimmen verloren hat, wo bildungs­be­zogene Indika­toren günstig ausfallen, während die Partei bei weniger gebil­deten Bevöl­ke­rungs­gruppen riesige Stimmen­ge­winne verzeichnete.

Nach den Parla­ments­wahlen ist das Überge­wicht gegenüber der zersplit­terten Opposition unstrittig. Auch die Legiti­mität und Stabi­lität der Regierung lassen sich nicht bezweifeln. Gleichwohl ist kaum zu erwarten, dass die ungarische Gesell­schaft zur Ruhe kommen wird. Aus der bishe­rigen Stimm­aus­zählung ergibt sich, dass Fidesz rund zweieinhalb Millionen Stimmen auf sich verei­nigen konnte – etwas weniger als alle Opposi­ti­ons­par­teien zusam­men­ge­nommen. Aufgrund des von Direkt­man­daten dominierten Wahlsystems verfügt die Regie­rungs­partei nun über eine Zweidrittel-Mehrheit in der Natio­nal­ver­sammlung, was als Umstand an sich für jene schwerlich zu akzep­tieren ist, die gegen die Regierung Orbán gestimmt haben und in der Mehrheit wären, wenn man nur die reinen Zahlen betrachtet. Es besteht eine tiefe Kluft zwischen der Haupt­stadt und dem flachen Land, zwischen Alt und Jung wie auch zwischen jenen, die in entwi­ckelten und in weniger entwi­ckelten Gegenden leben. Die politi­schen Identi­täten diver­gieren in jedweder Hinsicht. Es haben sich parallele Reali­täten entwi­ckelt und es besteht nahezu kein Übergang zwischen ihnen.

Für die meisten Wähler der Regie­rungs­partei sind Viktor Orbán und seine Partei die einzig wahren Reprä­sen­tanten der Nation. Nicht zuletzt in Folge der Politik Orbáns, die seit 2002 auf entspre­chende Botschaften setzte, ist für die Anhänger jeder, der die Politik der Regie­rungs­partei kriti­siert, ein Verräter, ein Einwan­derung befür­wor­tender auslän­di­scher Agent, zumindest aber ein schlechter Ungar. In diesem Kontext hat Fidesz eine Stimmung erzeugt, in der Anhänger der Regie­rungs­partei auf einigen Wahlkampf­ver­an­stal­tungen auch schon mal so weit gingen, die Exekution einiger Opposi­ti­ons­po­li­tiker zu fordern. Im Gegensatz hierzu besteht auf Seiten der Opposition keine politische Geschlos­senheit, sieht man einmal davon ab, dass der Minis­ter­prä­sident und dessen engere Umgebung von allen als korrupte krimi­nelle Verei­nigung betrachtet werden. Die sich stetig verstär­kende, nahezu absurde und auf Ängste setzende immigran­ten­feind­liche Kampagne der Regierung hat ihren Anhängern eine „fake reality“ geschaffen, die im Grunde alle anderen Probleme aus der Öffent­lichkeit verdrängt hat. In den Reihen der Opposition gibt es viele, die diese Ängste nicht akzep­tieren und verstehen können. Das hatte zur Folge, dass Wähler der Regie­rungs­partei nach den Wahlen mitunter abschätzig als „Bauern“ bezeichnet wurden und tausende Wähler, die gegen Fidesz stimmten, daran denken, das Land zu verlassen. Die Anfein­dungen sind so tiefgreifend und unver­söhnlich, dass eine gegen­seitige Akzeptanz der wider­strei­tenden Seiten kaum vorstellbar ist. Auf partei­po­li­ti­scher Ebene ist es schließlich im Interesse von Fidesz, diese Spaltung aufrecht­zu­er­halten. Denn solange die Regie­rungs­partei geschlossen und die Opposition zersplittert bleibt, hält der fehlende gesell­schaft­liche Zusam­menhalt das Regime Orbán an der Macht. In der Tat ist der ständige Einsatz von Feind­bildern das Einzige, was die Anhänger der Regie­rungs­partei in einem Lager zusam­men­halten kann.

Daher wird sich die Politik der nächsten Regierung Orbán nicht wesentlich ändern, auch wenn viele erwarten, dass sich das Regime in Richtung einer weiteren Macht­kon­so­li­dierung bewegen werde. Die hohe Wahlbe­tei­ligung und die sichere Mehrheit in der Natio­nal­ver­sammlung gewähren der Regierung die nötige Legiti­mität zur Vollendung des illibe­ralen politi­schen Systems, das sie über die vergan­genen acht Jahre hinweg aufgebaut hat. Es wird zudem noch mehr repressive Macht­po­litik erlauben. Die Regierung wird den Raum für kritische Medien und NGOs weiter einschränken. Somit werden auch die Möglich­keiten einge­schränkt, eine politische Alter­native aufzubauen.

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