Kaja Kallas und Anton Vaino – Zwei Esten kämpfen um die Welt

Kaja Kallas – Europas entschiedene Stimme gegen Russland. Einst in Estland umstritten, wächst sie in Brüssel zur treibenden Kraft gegen Putins Aggression. Ihr Gegenbild: Anton Vaino, der stille Macht­ma­nager im Kreml. Zwei Lebenswege, ein geopo­li­ti­scher Konflikt.

Jeder kennt Kaja Kallas. In Estland und in Europa. In Estland nahm man ihr, der liberalen Premier­mi­nis­terin – die erste Frau im Amt seit der Gründung der Republik 1918 – übel, dass sie ihrem Mann privat einen Kredit bewil­ligte, damit er über eine Logis­tik­firma in seinem Teilbesitz die rasche Auflösung von Produk­ti­ons­stand­orten estni­scher Firmen im nahen russi­schen Ausland bewerk­stel­ligen konnte. Skandal? Eher nicht. – Der Wechsel nach Brüssel kam jeden­falls zu einem guten Zeitpunkt. Dort wiederum schlug ihr Skepsis entgegen, weil sie spätestens seit Beginn der russi­schen Vollin­vasion der Ukraine den bestän­digen Antreiber für die Verschärfung von Sanktionen gegen Russland und die Verstärkung der Waffen­hilfe für das überfallene Land gab. Die endlose Serie von Fernseh­auf­tritten, ob im Studio der ARD-Tages­themen (1) oder in den reich­wei­ten­stärksten Fernseh­for­maten der USA und Großbri­tan­niens, ließ Zweifel aufkommen, ob sie in die thema­tisch breitere und eher auf Moderation statt auf Initiative und Aufmerk­samkeit zielende Rolle der Beauf­tragten für Außen­po­litik der EU hinein­wachsen können würde. Heute sagt der frühere estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves anerkennend: „Sie ist die erste echte Außen­mi­nis­terin der Europäi­schen Union.“

Estlands Minis­ter­prä­si­dentin Kallas:
„Russland spielt mit den Ängsten der Menschen“(1)

Tatsächlich tragen der Fortgang der Invasion und des Luftkriegs auf Städte ebenso wie die mehr und mehr spürbare Gefährdung auch der EU-Staaten durch hybride Kriegs­führung und die schwach ausge­prägte Vertei­di­gungs- und Abschre­ckungs­fä­higkeit vieler EU-Staaten dazu bei, dass Kallas’ Profil gut in die neue Aufga­ben­struktur passt. Hinzu kommt, dass die Kommis­si­ons­chefin Ursula von der Leyen und der litauische Vertei­di­gungs­kom­missar Kubelius in seinem völlig neuen Ressort, aber auch Regie­rungs­chefs wie der Sozial­de­mokrat Starmer und die Christ­de­mo­kraten Merz und Tusk im Umgang mit Russland like-minded unterwegs sind.

Vor allem hat sich aber der geopo­li­tische Rahmen, in dem die Brüsseler Insti­tu­tionen und die gesamte Europäische Union unterwegs sind, drama­tisch verändert: Neo-Protek­tio­nismus, Neo-Natio­na­lismus, Neo-Imperia­lismus und Neo-Milita­rismus stellen den Friedens­no­bel­preis­träger EU von innen und außen vor die Existenz­frage. Wer hier einen guten Kompass hat, kommt besser durch die hohen Wogen. Neben dem finni­schen Präsi­denten Stubb und eben Polens Premier Tusk und seinem Außen­mi­nister Sikorski sind es vor allem Akteure aus dem Baltikum, die sich nicht nur in ihrem jahrzehn­te­langen Realismus gegenüber dem immer autori­tä­reren und aggres­si­veren Russland bestätigt sehen, sondern nun auch die Aufmerk­samkeit und den Einfluss erhalten, die man ihnen lange verweigert hat.

Kaja Kallas’ moralisch-politi­scher Kompass ist ein Famili­en­er­b­stück. Sie war schon „westlich“ und „trans­at­lan­tisch“, als es Estland noch nicht sein durfte. (2) Oft erwähnt sie ihre Großmutter, die 1949 mit engsten Angehö­rigen nach Sibirien depor­tiert wurde. (3) Ihr Vater Siim Kallas wiederum war 2002/​03 Premier im freien Estland und danach viele Jahre EU-Kommissar und Vizeprä­sident der Kommission, während sie im Europäi­schen Parlament ihre ersten Schritte unternahm und sich nach ihrer Rückkehr nach Estland schließlich aus der Opposition die Regierung aus einer russland­freund­lichen, einer konser­va­tiven und einer rechts­extremen Partei (4) kippte, dann in wechselnden Koali­tionen als Premier­mi­nis­terin wirkte, die in der Pandemie und bei immer stärkerem Aufwand für die estnische Vertei­digung (< 3 % des BIP) (5) an Popula­rität einbüßten.

Kallas mit ihrem Brüsseler Kabinett zählt nunmehr zu den ein bis zwei Handvoll Politi­ke­rinnen und Politikern, die das mit der Wahl Trumps entstandene Vakuum des „Führers der freien Welt“ kollegial und koope­rativ füllen – mit Realismus und Entschlos­senheit, aber eben begrenzt durch den Wider­stand von Moskauer Statt­haltern in Europa und die Einfluss­nahme russi­scher Propa­ganda, die die schwach entwi­ckelte europäische Öffent­lichkeit und nationale Öffent­lich­keiten mit schwächer werdenden verant­wor­tungs­be­wussten Quali­täts­medien und einfluss­reicher werdenden unkon­trol­lier­baren „Social Media“ nachhaltig verun­si­chern, verwirren und polari­sieren. Ein Ergebnis von mindestens einem Jahrzehnt medien­po­li­ti­scher Versäum­nisse in Europa. (6)

Und genau das führt uns zum Antago­nisten der europäi­schen Chefau­ßen­po­li­ti­kerin: Keiner kennt Anton Vaino. Nicht in Moskau. Nicht in der Welt.

Gut fünf Jahre vor Kaja Kallas wurde auch er in Tallinn geboren, in eine estnische Familie hinein, die jedoch eine völlig andere Prägung für den Nachwuchs parat hielt. Anton Vaino ist der Enkel des früheren Ersten Sekretärs der Kommu­nis­ti­schen Partei der ESSR, Karl Heinrich Vaino, der sich als Empfänger und Vollstrecker Moskauer Befehle spätestens zur Gorbat­schow-Zeit so unakzep­tabel selbst unter den estni­schen Kommu­nisten gemacht hatte, dass sie ihn absetzten. Noch vor der estni­schen Unabhän­gigkeit mit freien Wahlen ging er ins Moskauer Exil, wo der zweifache Lenin-Orden-Träger 2022 als 98-Jähriger weitgehend vergessen starb. (7)

Sein Enkel Anton Vaino aber – anders als Vater Eduard, der sowje­ti­scher Wirtschafts­funk­tionär in Estland war – wurde ganz von der Biografie des Großvaters erfasst, erlebte dessen Entmachtung 1988 als Jugend­licher, schloss 1996 in Moskau ein staats­nahes Studium ab, schlug eine Diplo­ma­ten­laufbahn in der Russi­schen Föderation ein, die ihm offenbar ein logischer Nachfolger der Sowjet­union zu sein schien, und stieg über mehrere Positi­ons­wechsel im Außen­mi­nis­terium und der Präsi­di­al­ver­waltung Wladimir Putins bis zu deren Leiter auf. (8)

Seit 2018 zieht er nun also im Kreml geräuschlos die Fäden, reist aber auch eigen­ständig zu Auslands­mis­sionen – nur nicht mehr in die freie Welt (inklusive seiner alten Heimat), denn nach Beginn der „militä­ri­schen Spezi­al­ope­ration“, die er offenbar – auch als Mitglied des Natio­nalen Sicher­heitsrats – klaglos mittrug, landete er persönlich auf allen relevanten Sankti­ons­listen des Westens, Einrei­se­sperre jeweils inklusive.

Das dürfte den früheren Mitar­beiter der russi­schen Botschaft in Japan nicht schmerzen. Er hat sich der „Russi­schen Welt“ komplett anver­wandelt, legt Wert auf das Tragen des Vaters­namens („Anton Eduar­do­witsch Wajno“), hat eine russische Frau, und sein in Japan geborener Sohn Aleksandr trägt nicht nur einen russi­schen Zaren-Namen, sondern studiert seit 2023 an derselben Kader­hoch­schule wie sein Vater gut 30 Jahre vor ihm. Schon im Jahr darauf war er promi­nenter Teilnehmer von Putins Wirtschafts­forum in Sankt Petersburg. (9) Lupen­reiner Nepotismus. Mithin: Der „Wirkliche Staatsrat I. Klasse“ Anton E. Vaino hat sich mit typisch estni­schem Perfek­tio­nismus vollum­fänglich russi­fi­ziert. Also genau das, was sein Großvater und andere Kolla­bo­ra­teure vor ihm mit allen Estinnen und Esten vorhatten und dabei über viele Jahre notfalls zur Depor­tation griffen, was Anton Vaino als Enkel für sich selbst aber unauf­ge­fordert in Eigen­regie organi­sierte. Vaino ist damit in vier Genera­tionen der vierte Vaino, der sich vor estni­schem Freiheits­drang nach Russland bzw. in die Sowjet­union flüchtete: Sein Urgroß­vater als geschei­terter bolsche­wis­ti­scher Putschist gelangte aus Tallinn bis Tomsk, sein Großvater als geschei­terter Kolla­bo­rateur an der Spitze der KP der ESSR aus Tallinn nach Moskau, und Anton Vaino selbst, an der Seite seines Vaters, auf derselben Route und mit wohl unver­än­derter Agenda: die von Putin kulti­vierte nihilis­tische Melange aus Bolsche­wismus, Stali­nismus, Autokratie, Natio­na­lismus und Imperialismus.

Man darf nun nicht dem Irrtum unter­liegen, bei Vaino als langjäh­rigem Proto­koll­be­amten und Kabinettschef des russi­schen Minis­ter­prä­si­denten (damals, 2008 bis 2012 unter Putin, wohlge­merkt die eigent­liche Macht­zen­trale!) handele es sich um einen apoli­ti­schen Apparat­schik, der nun im Kreml Sitzungen vorbe­reitet, Arbeits­gruppen leitet und Dienst­pläne schreibt. Während sein langjäh­riger Stell­ver­treter in der Präsi­di­al­ver­waltung, der aus der Ukraine stammende jahrzehn­te­lange Putin-Vertraute Dmitri Kozak, gerade erst im September 2025 ohne Angabe von Gründen sein Amt verlor und zuvor wohl lange mit dem Kriegskurs haderte, scheint Vaino nicht nur kein Problem mit dem verbre­che­ri­schen Krieg in der Ukraine zu haben, sondern auch nicht mit der aggres­siven und einschüch­ternden Linie des Kremls gegenüber Estland, gegen dessen Staat­lichkeit und gegen das aufgrund seiner relativen Kleinheit stets existen­ziell bedrohte elitäre Volk der PISA-Sieger und Digital­pio­niere. (10)

Vielmehr dreht Vaino das ganz große Rad: Das Moskauer Büro der BBC grub 2016 einen Artikel in einem Wissen­schafts­pe­ri­odikum aus (11), in dem Vaino vermeintlich nicht weniger als eine Theorie von Sein und Zeit umriss. Mithilfe von Experten verwarf der Sender den Text als Hirnge­spinst, legte aber mit einer Übersetzung einer instruk­tiven Grafik Vainos (Foto) zugleich eine spannende Spur:

Auch der US-Sender ABC (12) reagierte damals eher irritiert bis amüsiert. Wie aber, wenn es gar nicht um eine philo­so­phische Metatheorie ginge, sondern um ein handfestes Konzept zur Manipu­lierung von Individuen und Gesell­schaften entlang indivi­du­eller, natio­naler, histo­ri­scher Prägungen, Ängste, Sehnsüchte und Empfind­lich­keiten? Wenn Vaino also im indivi­du­ellen und kollek­tiven Bewusstsein Rezep­toren für russische Propa­gan­da­viren identi­fi­zierte und sie als eifriger Konvertit erst in Russland selbst, aber eben auch in Deutschland, Frank­reich, Katalonien, in den USA und im Verei­nigten König­reich fand und toxische Einfluss­nahme passgenau aufsetzte? Um in der Reihen­folge der Aufzählung zu bleiben: Autori­ta­rismus, Überfrem­dungs­angst und Russland­schwär­merei, Terror­angst, Regio­na­lismus und Separa­tismus, Isola­tio­nismus und latenter Rassismus. Alles stets gewürzt mit Misogynie und Machismo. (13) Die Presse­stelle des Kremls ließ Fragen im September 2025 zur Motivation des Textes unbeant­wortet und bestätigt auch weiter nicht einmal die Autoren­schaft Vainos.

Kurzum: Vaino hat womöglich eine Agenda, die seinen autokra­ti­schen Chef inspi­rierte, der wiederum seit dem Erscheinen des wissen­schaft­lichen Textes 2012, spätestens aber seit Vainos Karrie­re­schub 2016 alle Mittel mobili­siert, um sie zu exeku­tieren. Der intro­ver­tierte Este-wider-Willen selbst wiederum sitzt an einer Schalt­stelle der Macht­ver­tikale, an der auch ohne oder nach Putin kein Weg vorbei­führt. Dass Vaino Außen­mi­nister Lawrow im Amt folgen (14) könnte, wurde schon 2024 in estni­schen Medien kolportiert.

Dann stünde er Kaja Kallas auch proto­kol­la­risch unmit­telbar gegenüber. Um den durch mehrere Famili­en­ge­ne­ra­tionen, persön­liche Prägungen, durch biogra­phische Wege und politische Philo­sophie erwach­senen Antago­nismus zu ermessen, bedarf es keines Nooskops.

(1) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kallas-estland-tagesthemen-100.html
(2) 100 Jahre Estland: Ein Startup hat sich globa­li­siert https://libmod.de/markus-schubert-hundert-jahre-estland-ein-startup-hat-sich-globalisiert/
(3) Kaja Kallas: Every Estonian family has a similar story to tell | Opinion | ERR https://news.err.ee/1609293309/kaja-kallas-every-estonian-family-has-a-similar-story-to-tell
(4) Estland: Warum ein demokra­ti­scher Leuchtturm erlischthttps://libmod.de/markus-schubert-ueber-rechtsextreme-in-der-regierung-estlands/
(5) Militär­aus­gaben von Estland bis 2024 | Statista https://de.statista.com/statistik/daten/studie/588230/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-estland/
(6) https://libmod.de/markus-schubert-europaeische-union-nation-filterblase/
(7) Вайно Карл Генрихович
(8) http://en.kremlin.ru/catalog/persons/307/biography
(9) https://carnegieendowment.org/russia-eurasia/politika/2024/12/russia-new-elite-circle?lang=en
(10) https://libmod.de/markus-schubert-hundert-jahre-estland-ein-startup-hat-sich-globalisiert/
(11) https://www.law-journal.ru/files/pdf/201204/201204_42.pdf
(12) https://abcnews.go.com/International/putins-chief-staff-claims-invented-nooscope-study-collective/story?id=41429546
(13) https://www.kiwi-verlag.de/buch/sofi-oksanen-putins-krieg-gegen-die-frauen-9783462006919

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