Bürgerforum oder One-Man-Show?
Die Bewegungspartei En Marche wird dafür kritisiert, dass sie durch Macron und seine Vertrauten streng hierarchich geführt werde. Doch LibMod-Autorin Karen Horn widerspricht: En Marche habe neue Verfahren der Bürgerpartizipation entwickelt. Die Partei sei von Anfang an als partizipative Bewegung konzipiert gewesen. Wie viel direkte Demokratie steckt tatsächlich in En Marche?
Der französische Präsident Emmanuel Macron krempelt Frankreich um. Er hat so viele Baustellen aufgemacht, dass es den Gegnern zunächst die Sprache verschlug; erst jetzt ist es der altkommunistischen Gewerkschaft CGT gelungen, Streiks und Proteste gegen Eingriffe in die Besitzstände des öffentlichen Diensts zu orchestrieren. Sie werden abklingen. Nahezu überall, wo es notwendig ist und weh tut, nutzt Macron die breit abgestützte Legitimität seines Mandats, um aufzuräumen – politische Institutionen, Arbeitsrecht, Sozialversicherung, Haushaltsdefizit, Steuern, berufsständische Privilegien, Bildung. Er hat Frankreich auf die geopolitische Landkarte und Europa auf die öffentliche Agenda zurückgebracht. Nicht alles mag gelingen, nicht alles geht in die richtige Richtung – aber vieles. Wo so viel Wirbel herrscht, muss man sich freilich nicht wundern, dass eine ganz spezielle, sehr ehrgeizige Reform mehr oder minder unterhalb des Radars verläuft, obwohl gerade sie für die Modernisierung und womöglich gar für den Fortbestand der liberalen Demokratie generell von größter, weit über Frankreich hinausgreifender Bedeutung ist: die Einbindung und Aktivierung des Bürgers in neuen Formen der demokratischen Partizipation.
Unter Nutzung der Möglichkeiten der sozialen Medien entstanden vielfältige neue politische Foren, Komitees, Gremien und Arbeitsgruppen, in denen nunmehr alle französischen Bürger ihre Ideen und Meinungen in einem moderierten Prozess einbringen können.
Es war nicht nur Wahltaktik, dass Macron seine Plattform „En Marche“, die er im April 2016 ins Leben rief und nach der Präsidentschaftswahl zu einer Partei umbauen ließ, von Anfang an als partizipative Bewegung konzipiert hat. Es war ein intelligenter Ansatz, die Politikverdrossenheit vieler Menschen zu überwinden, sie aus Schmollwinkel oder Wutbürgerecke herauszuholen. Aus passiven, destruktiven, für Populismus anfälligen Quenglern können aktive, konstruktive Mitgestalter werden.
„En même temps“
Unter Nutzung der Möglichkeiten der sozialen Medien entstanden vielfältige neue politische Foren, Komitees, Gremien und Arbeitsgruppen, in denen nunmehr alle französischen Bürger ihre Ideen und Meinungen in einem moderierten Prozess einbringen können. Dort wird ihr Input gesammelt, diskutiert, evaluiert, aggregiert und weitergeleitet. Diese Infrastruktur ist nach der Parlamentswahl noch ausgeweitet worden. Hunderttausende Menschen nutzen sie bis heute, auch wenn das Momentum des ersten Aufbruchs nachgelassen hat. Auch manche Erwartungen mussten korrigiert werden: Wo Ideen und Meinungen besser als bisher von unten nach oben strömen können, muss die umgekehrte Fließrichtung deshalb noch lange nicht stillgelegt sein. „Bottom up“ schafft das hierarchische „Top down“ nicht gänzlich ab und soll das auch gar nicht, sondern es ergänzt es und balanciert es aus. Der französische Präsident ist zu Recht ein Freund des Verbindenden und Gleichzeitigen („En même temps“).
Das partizipative Modell hat Macron den Partnern in Europa nun ebenfalls nahegebracht. Bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 werden in allen 26 EU-Mitgliedstaaten Bürgerkonvente zu den notwendigen Reformen der Gemeinschaft stattfinden. Der Gedanke der partizipativen Demokratie ist alles andere als neu, aber mit den Mitteln der digitalen Moderne wird er realistisch. Er ist nicht bloß weiße Salbe. Mit einem solchen Ansatz kann es vielleicht gelingen, zwei der größten Probleme der repräsentativen Demokratie etwas abzumildern, die sich auf der supranationalen europäischen Ebene potenziert haben: die Bürgerferne und das Fehlen einer diskursiven Öffentlichkeit.
Warum Bürgerkonvente den Parlamentarismus ergänzen
Das verbreitete Unbehagen vieler Menschen an der EU geht auf das zurück, was nicht ganz exakt „Demokratiedefizit“ genannt wird. Die indirekten Legitimationswege der EU-Instanzen über die nationalen Parlamente sind zwar lückenlos, aber sie werden als lang und abstrakt empfunden. Dies vermögen auch die erweiterten Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments nicht auszugleichen, im Gegenteil werden gerade sie als nationale Souveränitätsverluste wahrgenommen. Konvente haben nicht die Würde und Legitimität eines Parlaments, aber sie können als Ergänzung hilfreich sein für die Eruierung der Befindlichkeiten, für das „Brainstorming“, für die Einbindung und Aktivierung der Bürger und für das Anstoßen eines Diskurses, selbst über die vielen Landes- und Sprachgrenzen hinweg.
Wie überraschend gut solche Konvente funktionieren und wie sehr sie beitragen können, Blockaden zu überwinden und Einigungen zu erzielen, kann man unter anderem in Irland besichtigen. Dort gibt es ein Bürgerforum, Nachfolger des 2012 eingerichteten Verfassungskonvents, mit 100 Mitgliedern, darunter neben politischen Repräsentanten 66 zufällig, aber repräsentativ ausgewählte Bürger. Auf seine Empfehlung ging das jüngste Referendum über die Lockerung des Abtreibungsverbots zurück. Im Jahr 2015 hatte die Regierung zudem die nach zwei Jahren Diskussion beschlossene Empfehlung des Konvents aufgenommen, die gleichgeschlechtliche Ehe zu ermöglichen, und ebenfalls ein Referendum veranstaltet. Dass die Diskussionen, die der Konvent führte und zugleich in der Öffentlichkeit anstieß, in der katholischen Gesellschaft des Landes ein Umdenken bewirkt haben, zeigt das positive Ergebnis beider Abstimmungen.
Wie das Beispiel illustriert, lässt sich die partizipative Demokratie gut mit mehr direktdemokratischen Elementen verbinden. Partizipative Verfahren sind dafür sogar eine wichtige Voraussetzung – nicht nur, weil sie Debatte und Meinungsbildung fördern, sondern auch, weil sie befriedigender sind als die bloße Einbahnstraße der Stimmabgabe. Verfahren der partizipativen Demokratie ermöglichen kommunikatives Feedback in einem interaktiven Prozess. Wer seine Ideen in eine solche Diskussion einbringt, erhält in den entsprechend organisierten und moderierten Foren Kommentare. Er spricht also nicht ins Leere, sondern er erntet als Person Sichtbarkeit und dadurch Aufwertung. Dem entspringt ein Anreiz, sich ernsthafte Gedanken zu machen, statt sich bloß in Frustration hineinzusteigern. Partizipative Verfahren erweisen sich damit auch als segensreich zur Pflege eines konstruktiven Geistes.
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