Eine Antwort auf die antiliberale Revolte
Tempo und soziale Unwucht der Modernisierung erzeugen ein Grundgefühl von Unsicherheit. Es macht empfänglich für populistische Parteien. Wenn wir die offene Gesellschaft verteidigen wollen, müssen wir Freiheit und Sicherheit unter einen Hut bringen.
Wir leben in einer Periode stürmischer Veränderungen. Die Krise Amerikas und der Aufstieg autoritärer Mächte vergrößern die internationale Unsicherheit. Die weltweite Verflechtung von Märkten erhöht den Wettbewerbsdruck bis in die Mittelschichten.
Die digitale Revolution greift tief in die Berufswelt und unser Alltagsleben. Globale Migration dampft die Puffer zwischen uns und den anderen ein. Frauenemanzipation und Gleichstellung sexueller Minderheiten stoßen das Patriarchat vom Sockel. All diese Veränderungen laufen gleichzeitig und in hohem Tempo ab.
Für den gut ausgebildeten Teil unserer Gesellschaft bietet die beschleunigte Moderne trotz allem Stress gute Aussichten. Die „Generation Erasmus“ ist in einem Europa ohne Grenzen zu Hause. Ihnen steht die Welt offen. Multikulti ist für sie eine Bereicherung ihres Lebens, Globalisierung vermehrt ihre Optionen.
Wenn es ihrem Fortkommen dient oder die Liebe ruft, sind sie weder an einen bestimmten Ort noch an eine Sprache gebunden. Es sind diese Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien, die den liberal-kosmopolitischen Konsens geprägt haben, der durch das britische Brexit-Referendum, die Wahl Donald Trumps und den Auftrieb nationalistischer Parteien erschüttert wird.
Seither dominiert das Gefühl von Kontrollverlust. Nicht zufällig lautete der Schlachtruf der Brexit-Befürworter in Großbritannien „Let’s take back control“ – der Rückzug in die nationale Wagenburg als Rückversicherung gegen globale Migration und Freihandel. Auf dieser Welle schwamm auch Trump ins Weiße Haus.
Man kann darauf hoffen, dass der Erfolg der antiliberalen Revolte zugleich ihren Zenit markiert. Seither sehen wir eine demokratische Trotzreaktion. Trump verliert an Rückhalt. In den Niederlanden und Frankreich wurden die Rechtspopulisten ausgebremst. Die 12,6 Prozent für die AfD in Deutschland sind ein Warnzeichen, aber noch keine Gefahr für die Demokratie.
Dennoch wäre es gefährlich, Entwarnung zu verkünden. Von China bis zur Türkei sind autoritäre Regime auf dem Vormarsch. Der Geist der „illiberalen Demokratie“ weht auch in der Europäischen Union. Ein Teil der Bevölkerung reagiert mit Abwehr auf das Neue.
Nationalismus und Islamismus
Die Veränderungen, die auf sie hereinprasseln, empfinden sie nicht als Chance, sondern als Bedrohung. Dabei mischt sich die Furcht vor sozialem Abstieg mit der trotzig-aggressiven Verteidigung traditioneller Geschlechterrollen und nationaler Selbstbilder. Eine Mehrheit sieht eher pessimistisch in die Zukunft. Das ist der Nährboden für identitäre Strömungen.
Sie versprechen Sicherheit durch den Rückzug in ein geschlossenes Weltbild und eine geschlossene Gemeinschaft. Völkischer Nationalismus ist die eine Variante, Islamismus die andere. In der Aversion gegen die offene Gesellschaft haben sie mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Frage ist, welche Antworten die liberale Demokratie auf die große Verunsicherung findet. Wir können uns nicht gegen die Veränderungen unserer Zeit abschirmen, sondern müssen sie als Gestaltungsaufgabe annehmen. Politik hat die Aufgabe, Veränderungen zu steuern, statt sie bloß zu verwalten.
Wenn globaler Wettbewerb, digitale Revolution oder die massenhafte Zuwanderung von Menschen aus anderen Weltgegenden als bloße Naturereignisse erlebt werden, die über uns hereinbrechen, zerstört das die Legitimation freiheitlicher Demokratien.
Spaltung in Gewinner und Verlierer
Die Väter der sozialen Marktwirtschaft wussten um die Bedeutung eines Ordnungsrahmens für das freie Spiel der Kräfte. Wenn sich die Reichweite nationaler Politik verkürzt, braucht es mehr europäische und globale Regulierung. Das gilt für den Klimaschutz wie für eine koordinierte Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Zugleich geht es um die Befähigung von Menschen, mit technischen und sozialen Veränderungen Schritt zu halten. Bildung und berufliche Qualifizierung sind keine Garantie für eine gelungene Biografie. Aber sie sind das beste Kapital, das wir Menschen auf den Weg geben können.
Wer die freiheitliche Demokratie verteidigen will, muss der Spaltung in Gewinner und Verlierer der entfesselten Moderne entgegenwirken. Sie untergräbt das Versprechen auf gleiche Chancen für alle.
Freiheit und Sicherheit
Wenn wachsende Unsicherheit mit wachsender Ungleichheit zusammentrifft, entsteht eine explosive Gemengelage. Der Populismus von rechts wie von links ist ein Warnsignal, dass sich in den westlichen Gesellschaften etwas zusammenbraut, das uns um die Ohren fliegen kann, wenn wir nicht gegensteuern.
Ausgangspunkt und Ziel des politischen Liberalismus ist die Freiheit des Einzelnen. Aber auch Liberale sollten das Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht ignorieren. Wir müssen zeigen, wie wir Freiheit und Sicherheit, Vielfalt und Gemeinsamkeit, Offenheit für Veränderungen und Schutz vor Verwerfungen unter einen Hut bringen können.
„Ein Europa, das schützt“ war ein zentraler Wahlkampfslogan Emmanuel Macrons: Niemand soll den Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft schutzlos ausgeliefert sein, alle haben den Anspruch auf Solidarität und Teilhabe.
Jeremy Corbyn, der unerwartete Star der britischen Labour-Partei, fängt dieses Grundgefühl mit seinem Slogan „Für eine Gesellschaft der vielen statt der wenigen“ ein, auch wenn sein Retro-Sozialismus eher an die Siebzigerjahre als an einen Aufbruch zu neuen Ufern erinnert.
Ideologisch ist Corbyn ein Mann der Vergangenheit, dennoch rennen ihm die jungen Leute die Bude ein. Er verkörpert die linke Variante einer Sehnsucht nach der solidarischen Gemeinschaft, einer progressiven Alternative zur völkischen Gemeinschaft von rechts.
Ein moderner Begriff von Sicherheit umfasst unterschiedliche Dimensionen. Erstens geht es um die klassische innere und äußere Schutzfunktion des Staates, insbesondere den Schutz vor Gewalt und Willkür. In Zeiten eines ideologisch aufgeladenen Terrorismus, der Wiederkehr des politischen Extremismus und organisierter Kriminalität bekommt die Frage der inneren Sicherheit eine neue Relevanz.
Menschen befähigen
Wer die liberale Demokratie verteidigen will, darf sie nicht den Feinden der Freiheit überlassen. Es muss neu durchdacht werden, was das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ bedeutet, wie weit wir uns auf den Weg präventiver Sicherheitspolitik einlassen und welche Kompetenzen wir den staatlichen Sicherheitsagenturen zubilligen wollen.
Zweitens geht es um die Fähigkeit der Einzelnen zu selbstbewusstem Handeln. Es kommt darauf an, Menschen zu befähigen, souverän mit technischen, sozialen, kulturellen Veränderungen umzugehen.
Was die Psychologen „Ich-Stärke“ nennen, bedeutet innere Sicherheit im wörtlichen Sinn – eine Sicherheit, die von innen kommt. Sie entsteht, wenn Menschen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen. Bildung und Erziehung spielen hier eine Schlüsselrolle. Wir müssen unser Bildungssystem darauf ausrichten, die innere Sicherheit von Kindern und Jugendlichen zu stärken.
Aufwertung nicht kommerzieller Arbeit
Drittens ist Freiheit von Furcht eine zentrale Bedingung für die freie Entfaltung von Menschen. Welche Rückversicherungen brauchen Menschen, um beruflichen und kulturellen Veränderungen selbstbewusst zu begegnen? Reichen unsere heutigen sozialen Sicherungssysteme aus oder brauchen wir neue Konzepte sozialer Teilhabe für die digitale Gesellschaft?
Wir sollten unsere sozialpolitische Fantasie nicht auf das Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens verengen. Mindestens so wichtig ist ein finanziell abgesichertes Recht auf Bildung und Weiterbildung, die Beteiligung breiter Schichten am Produktivvermögen und die Aufwertung nicht kommerzieller Arbeit.
Viertens brauchen wir eine neue Sicht auf die zentrale Rolle öffentlicher Institutionen als Stabilisatoren in Zeiten fundamentaler Umbrüche. Das öffentliche Bildungssystem, das weit verzweigte Netz von Museen, Theatern, Bibliotheken und Konzertsälen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Stadtwerke und Verkehrsbetriebe dienen nicht nur der „öffentlichen Daseinsvorsorge“. Sie sind zugleich republikanische Institutionen, symbolische Repräsentationen des demokratischen Gemeinwesens, die Teilhabe und Zugehörigkeit vermitteln.
In den letzten 25 Jahren erfolgte die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vor allem durch eine Kürzung der Investitionen. Die Folgen sind inzwischen überall spürbar, vom miserablen Zustand vieler Schulen bis zu maroden Brückenbauten. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Investitionen in öffentliche Institutionen sind Investitionen in Demokratie.
Dieser Artikel erschien am 8. Oktober 2010 in der Welt am Sonntag.
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