Eine Antwort auf die antili­berale Revolte

Tempo und soziale Unwucht der Moder­ni­sierung erzeugen ein Grund­gefühl von Unsicherheit. Es macht empfänglich für populis­tische Parteien. Wenn wir die offene Gesell­schaft vertei­digen wollen, müssen wir Freiheit und Sicherheit unter einen Hut bringen.

Wir leben in einer Periode stürmi­scher Verän­de­rungen. Die Krise Amerikas und der Aufstieg autori­tärer Mächte vergrößern die inter­na­tionale Unsicherheit. Die weltweite Verflechtung von Märkten erhöht den Wettbe­werbs­druck bis in die Mittelschichten. 

Portrait von Ralf Fücks

Ralf Fücks ist geschäfts­füh­render Gesell­schafter des Zentrums Liberale Moderne.

Die digitale Revolution greift tief in die Berufswelt und unser Alltags­leben. Globale Migration dampft die Puffer zwischen uns und den anderen ein. Frauen­eman­zi­pation und Gleich­stellung sexueller Minder­heiten stoßen das Patri­archat vom Sockel. All diese Verän­de­rungen laufen gleich­zeitig und in hohem Tempo ab.

Für den gut ausge­bil­deten Teil unserer Gesell­schaft bietet die beschleu­nigte Moderne trotz allem Stress gute Aussichten. Die „Generation Erasmus“ ist in einem Europa ohne Grenzen zu Hause. Ihnen steht die Welt offen. Multi­kulti ist für sie eine Berei­cherung ihres Lebens, Globa­li­sierung vermehrt ihre Optionen.

Wenn es ihrem Fortkommen dient oder die Liebe ruft, sind sie weder an einen bestimmten Ort noch an eine Sprache gebunden. Es sind diese Eliten in Wissen­schaft, Wirtschaft, Politik und Medien, die den liberal-kosmo­po­li­ti­schen Konsens geprägt haben, der durch das britische Brexit-Referendum, die Wahl Donald Trumps und den Auftrieb natio­na­lis­ti­scher Parteien erschüttert wird.

Für viele kam die antili­berale Revolte aus heiterem Himmel. Dabei waren ihre Vorzeichen schon lange sichtbar, spätestens seit dem großen Einbruch der Finanz­krise von 2007, die das Vertrauen in die herrschenden Eliten und die demokra­ti­schen Insti­tu­tionen massiv erschütterte.

Seither dominiert das Gefühl von Kontroll­verlust. Nicht zufällig lautete der Schlachtruf der Brexit-Befür­worter in Großbri­tannien „Let’s take back control“ – der Rückzug in die nationale Wagenburg als Rückver­si­cherung gegen globale Migration und Freihandel. Auf dieser Welle schwamm auch Trump ins Weiße Haus.

Man kann darauf hoffen, dass der Erfolg der antili­be­ralen Revolte zugleich ihren Zenit markiert. Seither sehen wir eine demokra­tische Trotz­re­aktion. Trump verliert an Rückhalt. In den Nieder­landen und Frank­reich wurden die Rechts­po­pu­listen ausge­bremst. Die 12,6 Prozent für die AfD in Deutschland sind ein Warnzeichen, aber noch keine Gefahr für die Demokratie.

Dennoch wäre es gefährlich, Entwarnung zu verkünden. Von China bis zur Türkei sind autoritäre Regime auf dem Vormarsch. Der Geist der „illibe­ralen Demokratie“ weht auch in der Europäi­schen Union. Ein Teil der Bevöl­kerung reagiert mit Abwehr auf das Neue.

Natio­na­lismus und Islamismus

Die Verän­de­rungen, die auf sie herein­prasseln, empfinden sie nicht als Chance, sondern als Bedrohung. Dabei mischt sich die Furcht vor sozialem Abstieg mit der trotzig-aggres­siven Vertei­digung tradi­tio­neller Geschlech­ter­rollen und natio­naler Selbst­bilder. Eine Mehrheit sieht eher pessi­mis­tisch in die Zukunft. Das ist der Nährboden für identitäre Strömungen.

Sie versprechen Sicherheit durch den Rückzug in ein geschlos­senes Weltbild und eine geschlossene Gemein­schaft. Völki­scher Natio­na­lismus ist die eine Variante, Islamismus die andere. In der Aversion gegen die offene Gesell­schaft haben sie mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint.

Die Frage ist, welche Antworten die liberale Demokratie auf die große Verun­si­cherung findet. Wir können uns nicht gegen die Verän­de­rungen unserer Zeit abschirmen, sondern müssen sie als Gestal­tungs­aufgabe annehmen. Politik hat die Aufgabe, Verän­de­rungen zu steuern, statt sie bloß zu verwalten.

Wenn globaler Wettbewerb, digitale Revolution oder die massen­hafte Zuwan­derung von Menschen aus anderen Weltge­genden als bloße Natur­er­eig­nisse erlebt werden, die über uns herein­brechen, zerstört das die Legiti­mation freiheit­licher Demokratien.

Spaltung in Gewinner und Verlierer

Die Väter der sozialen Markt­wirt­schaft wussten um die Bedeutung eines Ordnungs­rahmens für das freie Spiel der Kräfte. Wenn sich die Reich­weite natio­naler Politik verkürzt, braucht es mehr europäische und globale Regulierung. Das gilt für den Klima­schutz wie für eine koordi­nierte Flücht­lings- und Migrationspolitik.

Zugleich geht es um die Befähigung von Menschen, mit techni­schen und sozialen Verän­de­rungen Schritt zu halten. Bildung und beruf­liche Quali­fi­zierung sind keine Garantie für eine gelungene Biografie. Aber sie sind das beste Kapital, das wir Menschen auf den Weg geben können.

Wer die freiheit­liche Demokratie vertei­digen will, muss der Spaltung in Gewinner und Verlierer der entfes­selten Moderne entge­gen­wirken. Sie unter­gräbt das Versprechen auf gleiche Chancen für alle.

Freiheit und Sicherheit

Wenn wachsende Unsicherheit mit wachsender Ungleichheit zusam­men­trifft, entsteht eine explosive Gemengelage. Der Populismus von rechts wie von links ist ein Warnsignal, dass sich in den westlichen Gesell­schaften etwas zusam­men­braut, das uns um die Ohren fliegen kann, wenn wir nicht gegensteuern.

Ausgangs­punkt und Ziel des politi­schen Libera­lismus ist die Freiheit des Einzelnen. Aber auch Liberale sollten das Bedürfnis nach Zugehö­rigkeit nicht ignorieren. Wir müssen zeigen, wie wir Freiheit und Sicherheit, Vielfalt und Gemein­samkeit, Offenheit für Verän­de­rungen und Schutz vor Verwer­fungen unter einen Hut bringen können.

„Ein Europa, das schützt“ war ein zentraler Wahlkampf­slogan Emmanuel Macrons: Niemand soll den Umbrüchen in Wirtschaft und Gesell­schaft schutzlos ausge­liefert sein, alle haben den Anspruch auf Solida­rität und Teilhabe.

Jeremy Corbyn, der unerwartete Star der briti­schen Labour-Partei, fängt dieses Grund­gefühl mit seinem Slogan „Für eine Gesell­schaft der vielen statt der wenigen“ ein, auch wenn sein Retro-Sozia­lismus eher an die Siebzi­ger­jahre als an einen Aufbruch zu neuen Ufern erinnert.

Ideolo­gisch ist Corbyn ein Mann der Vergan­genheit, dennoch rennen ihm die jungen Leute die Bude ein. Er verkörpert die linke Variante einer Sehnsucht nach der solida­ri­schen Gemein­schaft, einer progres­siven Alter­native zur völki­schen Gemein­schaft von rechts.

Ein moderner Begriff von Sicherheit umfasst unter­schied­liche Dimen­sionen. Erstens geht es um die klassische innere und äußere Schutz­funktion des Staates, insbe­sondere den Schutz vor Gewalt und Willkür. In Zeiten eines ideolo­gisch aufge­la­denen Terro­rismus, der Wiederkehr des politi­schen Extre­mismus und organi­sierter Krimi­na­lität bekommt die Frage der inneren Sicherheit eine neue Relevanz.

Menschen befähigen

Wer die liberale Demokratie vertei­digen will, darf sie nicht den Feinden der Freiheit überlassen. Es muss neu durch­dacht werden, was das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ bedeutet, wie weit wir uns auf den Weg präven­tiver Sicher­heits­po­litik einlassen und welche Kompe­tenzen wir den staat­lichen Sicher­heits­agen­turen zubil­ligen wollen.

Zweitens geht es um die Fähigkeit der Einzelnen zu selbst­be­wusstem Handeln. Es kommt darauf an, Menschen zu befähigen, souverän mit techni­schen, sozialen, kultu­rellen Verän­de­rungen umzugehen.

Was die Psycho­logen „Ich-Stärke“ nennen, bedeutet innere Sicherheit im wörtlichen Sinn – eine Sicherheit, die von innen kommt. Sie entsteht, wenn Menschen die Erfahrung von Selbst­wirk­samkeit machen. Bildung und Erziehung spielen hier eine Schlüs­sel­rolle. Wir müssen unser Bildungs­system darauf ausrichten, die innere Sicherheit von Kindern und Jugend­lichen zu stärken.

Aufwertung nicht kommer­zi­eller Arbeit

Drittens ist Freiheit von Furcht eine zentrale Bedingung für die freie Entfaltung von Menschen. Welche Rückver­si­che­rungen brauchen Menschen, um beruf­lichen und kultu­rellen Verän­de­rungen selbst­be­wusst zu begegnen? Reichen unsere heutigen sozialen Siche­rungs­systeme aus oder brauchen wir neue Konzepte sozialer Teilhabe für die digitale Gesellschaft?

Wir sollten unsere sozial­po­li­tische Fantasie nicht auf das Für und Wider eines bedin­gungs­losen Grund­ein­kommens verengen. Mindestens so wichtig ist ein finan­ziell abgesi­chertes Recht auf Bildung und Weiter­bildung, die Betei­ligung breiter Schichten am Produk­tiv­ver­mögen und die Aufwertung nicht kommer­zi­eller Arbeit.

Viertens brauchen wir eine neue Sicht auf die zentrale Rolle öffent­licher Insti­tu­tionen als Stabi­li­sa­toren in Zeiten funda­men­taler Umbrüche. Das öffent­liche Bildungs­system, das weit verzweigte Netz von Museen, Theatern, Biblio­theken und Konzert­sälen, der öffentlich-recht­liche Rundfunk, Stadt­werke und Verkehrs­be­triebe dienen nicht nur der „öffent­lichen Daseins­vor­sorge“. Sie sind zugleich republi­ka­nische Insti­tu­tionen, symbo­lische Reprä­sen­ta­tionen des demokra­ti­schen Gemein­wesens, die Teilhabe und Zugehö­rigkeit vermitteln.

In den letzten 25 Jahren erfolgte die Konso­li­dierung der öffent­lichen Haushalte vor allem durch eine Kürzung der Inves­ti­tionen. Die Folgen sind inzwi­schen überall spürbar, vom miserablen Zustand vieler Schulen bis zu maroden Brücken­bauten. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Inves­ti­tionen in öffent­liche Insti­tu­tionen sind Inves­ti­tionen in Demokratie.


Dieser Artikel erschien am 8. Oktober 2010 in der Welt am Sonntag.

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