Afghanistan: So musste es nicht kommen
Denk ich an Afghanistan in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.
Zwischenruf zu einem humanitären und politischen Super-GAU.
Wir sehen in Kabul einen Kollaps mit Ansage. Die afghanische Armee und Regierung waren weder Willens noch fähig, den Taliban entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Überraschend kommt das nicht. Wäre die Situation in fünf oder zehn Jahren grundlegend anders? Eine hypothetische Frage. Der Westen zieht sich Hals über Kopf aus Afghanistan zurück; die Taliban hatten den längeren Atem.
Einiges war gut in Afghanistan
Jetzt behaupten viele Stimmen, der Afghanistan-Einsatz sei von Anfang an verfehlt gewesen und habe nichts Positives bewirkt. Das ist billige Rechthaberei und verleugnet die realen Forstschritte der letzten 20 Jahre. Nicht nur dass die Stützpunkte von Al Khaida zerschlagen wurden, von denen aus Terroranschläge gegen den Westen und seine Verbündeten geplant wurden. Für Frauen und Mädchen war die militärische Präsenz der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan ein Segen. Sie gingen zur Schule, konnten studieren, stellten Ministerinnen. Die Regierung ging aus halbwegs demokratischen Wahlen hervor, es gab zumindest Ansätze eines Rechtsstaats und einer pluralistischen Öffentlichkeit. Dass Korruption und Drogengeschäft nicht nachhaltig eingedämmt werden konnten, ist keine afghanische Besonderheit.
Verglichen mit dem Ausgangspunkt der westlichen Intervention und mit benachbarten Staaten in Zentralasien war Afghanistan auf keinem schlechten Weg. All diese Errungenschaften sind nun mit einem Schlag bedroht. Weshalb werden diese teuer bezahlten Fortschritte über Bord geworfen? Es fehlt dem Westen an strategischer Geduld. Die militärischen Opfer und finanziellen Kosten schienen zu hoch, die Aussichten auf einen tragfähigen Staatsaufbau illusorisch. Liberale Demokratien tun sich schwer damit, militärische Missionen über einen langen Zeitraum fortzusetzen und Rückschläge in Kauf zu nehmen.
Taliban bewiesen: Es gibt eine militärische Lösung
„Mit Blick auf die Zukunft setzen wir darauf, dass die Taliban verstanden haben, dass die Konflikte in Afghanistan politisch gelöst werden müssen und es nie eine militärische Lösung geben wird.“ So Außenminister Heiko Maas anlässlich seiner Reise nach Kabul Ende April 2021. „Es gibt keine militärische Lösung“ gehört zu den Glaubenssätzen der deutschen Politik. Dummerweise halten sich die Taliban nicht an diese Maxime. Und nicht nur sie. Wer glaubt, auf militärische Machtmittel verzichten zu können, überlässt die Welt den Skrupellosen.
Wenn man anfängt, seine Wunschvorstellungen zu glauben, wird es gefährlich. Die Afghanen zahlen jetzt den Preis für die Realitätsflucht derjenigen, die von einer „politischen Lösung“ mit den Taliban träumten, weil sie einen unbequemen, kostspieligen Konflikt loswerden wollten. Dieser Tage folgte dann die selbstkritische Erklärung: „Die Entwicklungen der letzten Tage sind bitter und werden langfristige Folgen für die Region und für uns haben. Es gibt nichts zu beschönigen: Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste und die internationale Gemeinschaft – haben die Lage falsch eingeschätzt.“ Bleibt die Frage: Wie war eine so krasse Fehleinschätzung möglich? Wunschdenken prägt ja nicht nur die deutsche Afghanistan-Politik.
USA öffnen Machtvakuum für China und Russland
Die afghanische Tragödie hat viele Mitverantwortliche, nicht zuletzt die einheimischen Pseudo-Eliten. Aber dieses strategische Desaster bleibt an Biden haften. Nicht zuletzt ist es ein Rohrkrepierer für seine China-Strategie. In einer Welt rivalisierender Mächte gibt es kein Machtvakuum. Die Räume, die der Westen preisgibt, werden von China, Russland, dem Iran und anderen autoritären Gegenspielern besetzt.
Es wäre im ureigenen amerikanischen Interesse, den Ruf als Weltmacht zu kultivieren, die sich an ihre Verpflichtungen hält und um ihre Alliierten kümmert. Dieser Ruf hat massiven Schaden genommen. Das wird Auswirkungen weit über Zentralasien hinaus haben. Insbesondere Länder mit prekärer Sicherheitslage werden sich zehnmal überlegen, ob und wie weit sie sich (noch) auf Amerika verlassen können.
Lange Nachwirkungen für USA und westliche Verbündete
Kalte Rationalität mag für ein Ende des Afghanistan-Engagements der USA und ihrer europäischen Alliierten sprechen. Aber der humanitäre und politische Preis des bedingungslosen Abzugs ist hoch. Das afghanische Desaster wird noch lange nachwirken.
Die Europäer sind wieder einmal kein ernsthafter Faktor. Sie hatten der einseitigen Entscheidung des US-Präsidenten nichts entgegenzusetzen. Die EU-Spitzen haben tagelang keine Sprache zu den Ereignissen gefunden. So viel zur „Strategischen Autonomie Europas“.
Kurzfristig geht es jetzt darum, möglichst viele Menschen zu retten und ihnen die Ausreise in den Westen zu ermöglichen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die sich über die letzten 20 Jahre Seite an Seite mit der internationalen Gemeinschaft für ein anderes, besseres Afghanistan engagiert haben. Sie im Stich zu lassen wäre eine ultimative politische und moralische Bankrotterklärung.
Aufarbeitung nötig
Es springt allerdings zu kurz, auf den humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten zu beharren. Das afghanische Debakel muss dringend aufgearbeitet werden. Es wäre fatal, wenn mit dem überstürzten Rückzug aus Afghanistan auch die „Responsibility to Protect“ über Bord geworfen würde. Nicht zuletzt geht es auch um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in Krisensituationen.
Wem es ernst ist mit Menschenrechten und Völkerrecht, der (oder die) kann nicht prinzipiell jede Form humanitärer Interventionen und out-of-area-Einsätzen verwerfen. Was ernsthaft diskutiert werden muss, sind die Erfolgsbedingungen solcher Einsätze. Die berühmte Maxime des Jakobiners Saint Just: „Wer die Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“ gilt im übertragenen Sinn auch für militärische Interventionen. Militärische Zurückhaltung ist geboten – aber wenn es denn sein muss, dann mit aller Konsequenz und mit langem Atem.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.