Erdoğans Netzwerk: Handeln, bevor es zu spät ist

Michael Gubi [CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)] via Flickr

Erdoğans AKP instru­men­ta­li­siert Affären wie die um Mesut Özil, um einen Keil zwischen die Türkei­stäm­migen und die Herkunfts­deut­schen zu treiben. Deutschland muss der ethnisch-kultu­rellen Spaltung entge­gen­wirken. Erfah­rungen von Ausgrenzung und Diskri­mi­nierung befördern den türki­schen Nationalismus.

Mesut Özils Rücktritt aus der deutschen Fußball­na­tio­nal­mann­schaft erhielt von der in der Türkei regie­renden AKP viel Beifall. Präsident Erdoğan rief persönlich bei Özil an und gratu­lierte ihm zu seinem Rücktritt öffentlich mit dem Lob, er habe eine einhei­mische und nationale Haltung gezeigt. Zugleich feierte die AfD die Entscheidung Özils als einen „guten Tag für Deutschland“ und ein Beispiel für „geschei­terte Integration“.

Die AKP unter Erdoğan wird die Konflikte in Deutschland weiter schüren, indem sie Vorfälle wie den Fall Özil instru­men­ta­li­siert. Sie dürfte mit ihrer islamisch-natio­na­lis­ti­schen Ideologie die Herzen der Mehrheit der Türkei­stäm­migen jedoch nicht gewinnen können, wenn Deutschland seine Chancen mutig ergreift. 

Es ist offen­sichtlich, dass die islamisch-natio­na­lis­tische AKP und die rechts­po­pu­lis­tische bis rechts­extre­mis­tische AfD die Özil-Debatte für ihre Polari­sie­rungs­po­litik instru­men­ta­li­sieren. Mit dem Sozial­phi­lo­sophen Zygmunt Bauman könnte man vom Schüren einer „moral panic“ sprechen. Indem AKP und AfD die Stimmung aufheizen, radika­li­sieren sie das Fühlen und Denken der Menschen.

Erdoğan trägt ethnische und kultu­relle Konflikte nach Deutschland

Zunächst ein Blick in die Türkei. Mit den Präsi­dent­schafts- und Parla­ments­wahlen am 24. Juni 2018 sind die schüt­teren Reste einer plura­lis­ti­schen Demokratie nieder­ge­macht worden. Die Mehrheit der türki­schen Wähler – auch jene in Deutschland – befür­worten die autokra­tische Wende. Erdoğans Vorgehen entspricht exakt dem, was die US-Polito­logen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem aktuellen Buch „Wie Demokratien sterben“ beschreiben. Die autoritäre Entwicklung in der Türkei ist also keineswegs eine Beson­derheit. Sie verläuft im Kontext eines globalen Aufstiegs rechts­po­pu­lis­ti­scher Bewegungen und ihres Angriffs auf Demokratie und Rechtstaat. 

Portrait von Kemal Bozay

Kemal Bozay ist Professor für Soziale Arbeit und Sozial­wis­sen­schaften an der IUBH Inter­na­tionale Hochschule Düsseldorf

Portrait von Burak Copur

Burak Çopur ist promo­vierter Politik­wis­sen­schaftler, Integra­ti­ons­for­scher und Türkei-Experte an der Univer­sität Duisburg-Essen

Mit dem Wahler­gebnis vom Juni 2018 ist es Erdoğan gelungen, seine Allein­herr­schaft zu insti­tu­tio­na­li­sieren. Die neuen Anti-Terror­ge­setze haben den Ausnah­me­zu­stand, der kürzlich formell aufge­hoben wurde, faktisch zum Dauer­zu­stand gemacht. Dies müsste neben den Verwer­fungen in der Wirtschafts- und Außen­po­litik ein Angriffs­punkt für die Opposition sein. Doch sie befindet sich seit ihrer Wahlnie­derlage in einer Krise und schwächt sich durch interne Macht­kämpfe. Während sich in der türki­schen Zivil­ge­sell­schaft Frustration und Resignation breit macht, setzt das Regime zum nächsten Schritt an: Die ethni­schen und kultu­rellen Konflikte, die Erdoğans Aufstieg erst möglich machten, will es in die westeu­ro­päi­schen Gesell­schaften tragen, insbe­sondere nach Deutschland.

AKP mit Rockern und Extre­misten vernetzt

Die Mehrheit der türki­schen Wähler in Deutschland unter­stützt Erdoğans Autokratie. Schon die Diffa­mierung von türkei­stäm­migen Bundes­tags­ab­ge­ord­neten und die antise­mi­ti­schen Demons­tra­tionen von arabisch- und türkisch­stäm­migen Jugend­lichen zeigten, wie erfolg­reich Erdoğan den türki­schen Natio­na­lismus und sunni­ti­schen Islam in Deutschland kulti­viert und gegen die freiheit­lichen Grund­werte der Bundes­re­publik in Stellung bringt.

Erdoğan in die Karten spielt das weitver­zweigte rechts­extrem-natio­na­lis­ti­schen Lager der MHP/​Grauen Wölfe. Es nährt die Urangst eines Ausein­an­der­bre­chens der Türkei durch innere und äußere Mächte. Gerade das Milieu der Türkei­stäm­migen ist für solche Unter­gangs­er­zäh­lungen empfänglich, weil das Staats- und Natio­nen­ver­ständnis der Türkei auf ethni­scher und religiöser Homoge­nität gründet. Daraus leitet sich auch das Ideologem einer „Türkisch-Islami­schen-Synthese“ (Türk-İslam sentezi) ab, das die starke Verbindung zwischen dem türki­schen Natio­na­lismus und dem sunni­ti­schen Islam herstellt. Bis heute gibt es in dieser Staats­ideo­logie keinen Platz für Minder­heiten. Die Türkei grenzt Kurden, Aleviten und Nicht­muslime aus. Auch blockiert sie die Aufar­beitung des Völker­mords an den Armeniern. Über türkische Insti­tu­tionen und Organi­sa­tionen wird diese Ideologie in der türkei­stäm­migen Community verbreitet.

Die meisten türkei­stäm­migen AKP-Wähler werden in Deutschland durch die Netzwerke der AKP mobili­siert. In der Bundes­re­publik sind das Organi­sa­tionen wie das Amt für Ausland­s­türken (YTB), die Türkisch-Islamische Union (DITIB), der türkische Nachrich­ten­dienst (MIT) und die Union Inter­na­tio­naler Demokraten (UID, früher UETD). Sie sind über die türkische Botschaft und die General­kon­sulate intensiv vernetzt. Nicht ohne Grund hat das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz die UID unter Beobachtung gestellt und charak­te­ri­siert sie in seinem Verfas­sungs­schutz­be­richt als eine „regie­rungsnahe Vorfeld­or­ga­ni­sation der AKP, die im Sinne ihrer Mutter­or­ga­ni­sation auf politi­scher und gesell­schaft­licher Ebene Lobby­ismus für Inter­essen der AKP betreibt.“ Hinzu kommen Migran­ten­par­teien wie die Allianz Deutscher Demokraten (ADD) und das Bündnis für Innovation und Gerech­tigkeit (BIG), die als Apolo­geten des türki­schen Regimes in der deutschen Öffent­lichkeit auftreten. Auch ultra­na­tio­na­lis­tische Dachver­bände wie die Föderation der Idealis­ten­vereine in Europa, die Europäisch-Türkische Union oder die Türkisch Islamische Union Europa üben Einfluss auf das soziale Leben vieler türkisch­spra­chiger Menschen über Kultur- und Eltern­vereine, Unter­neh­mer­ver­bände, Fußball­clubs und Moscheen aus.

Armee der Trolle

Die AKP hat die türkische Gesell­schaft durch staatlich beein­flusste Massen­medien Schritt für Schritt verändert. Im ihrem Umfeld entstanden Medien, die in einem Abhän­gig­keits­ver­hältnis zur Regie­rungs­partei stehen und über die sich auch die Türkei­stäm­migen in Deutschland täglich infor­mieren. Die Zeitungen und Fernseh­kanäle in der Türkei sind im Besitz nur weniger großer Konzerne. AKP-freund­liche Unter­nehmer wie zum Beispiel Orhan Kemal Kalyoncu haben die Turkuvaz Media Gruppe übernommen, bei der die Zeitung Sabah und der Sender ATV zu Hause sind. Der regie­rungs­freund­liche Konzern Demirören kaufte dieses Jahr die Medien­sparte der Doğan Holding auf, zu der unter anderem auch die Zeitung Hürriyet und der Nachrich­ten­sender CNN-Türk gehören.

Das Erdoğan-Regime bedient zur Beein­flussung der türkei­stäm­migen Community natürlich auch die sozialen Netzwerke. Freedom House spricht in seinem Bericht 2016 von rund 6000 angewor­benen Usern, die Erdoğan-Anhänger rund um den Globus mit kruden Argumenten und Verschwö­rungs­theorien versorgen. Erdoğans „Armee der Trolle“, zu denen insbe­sondere Twitter-User zählen, wird von engen Beratern Erdoğans geführt und steht mit regime­nahen Journa­listen, Beamten und Politikern im Austausch. Zu den Troll-Accounts gesellen sich Online-Seiten, deutsch-türkische Blogger und Influencer. Nach Recherchen des Bayri­schen Rundfunks und von Correctiv führt die Spur dieser Blogger zur türki­schen Botschaft in Berlin.

Türkische Lobby­arbeit in Deutschland gab es schon vor der AKP-Ära. Neu ist ihre Aggres­si­vität und Gewalt­tä­tigkeit. Zuletzt etablierten sich türkisch-natio­na­lis­tische Rocker- und Boxclubs. Sie gleichen Motor­rad­gangs wie den Hells Angels oder den Bandidos, haben eine ähnlich strikte Hierarchie mit entspre­chenden Regeln. Der Turkos MC beispiels­weise steht der MHP nahe und seine Mitglieder pflegen Verbin­dungen zu den Grauen Wölfen, weshalb der Rockerclub vom Verfas­sungs­schutz beobachtet wird. Daneben gibt es die nach eigenen Angaben 2500 Anhänger zählende Osmanen Germania, die der Innen­mi­nister Anfang Juli verboten hat. Bekannt ist, dass deren Anhänger Aufmärsche der Grauen Wölfe als Ordner schützen und auch auf Pro-Erdoğan-Demons­tra­tionen in Erscheinung treten. Nach Einschätzung des NRW-Innen­mi­nis­te­riums stehen die Osmanen Germania in Verbindung zur türki­schen Regie­rungs­partei AKP und zum Umfeld des Präsi­denten Erdoğan.

Neben der Agitation des Erdoğan-Regimes sind es aller­dings auch insti­tu­tio­nelle Diskri­mi­nierung und Alltags­ras­sismus im Schul- und Bildungs­system, auf dem Arbeits­markt, bei der Wohnungs­suche und im Umgang mit Behörden, die Türkei­stämmige in die Arme von Erdoğan treiben. Die rechts­extreme Mordserie des NSU löste eine große Verun­si­cherung bei Türkei­stäm­migen aus. Viele tragen das Gefühl mit sich herum, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein und leiden an pauscha­li­sie­renden öffent­lichen Diskus­sionen wie der Sarrazin-Debatte. Margi­na­li­sie­rungs­er­fah­rungen wie diese begüns­tigen den Rückzug auf die eigene Herkunft. Gerade die Erfahrung, als „Ausländer“ oder „Türke“ diskri­mi­niert zu werden, nehmen viele Jugend­lichen zum Anlass, nach einer scheinbar starken Identität und Autori­täts­person zu suchen. Nicht ohne Grund identi­fi­zieren sich viele Türkei­stämmige in Deutschland mit der Politik von Erdoğan und fühlen sich teilweise mit der Türkei mehr verbunden als mit Deutschland. Auffällig ist, dass die zweite Generation der Türkei­stäm­migen Erdoğan stärker unter­stützt als die erste Generation, wie der Politik­wis­sen­schaftler Achim Goerres in einer Studie feststellte. Auf Ausgrenzung folgt Abgrenzung.

Migranten Gehör schenken

Ob der AKP die Spaltung der deutschen Gesell­schaft gelingt, ist noch offen. Vieles hängt davon ab, ob hierzu­lande die Politik und Gesell­schaft auch jenen Migranten Gehör schenkt, die sich zuletzt unter dem Hashtag #metwo zu Wort meldeten und ihre Erfah­rungen mit dem Alltags­ras­sismus teilten. Die Debatte fordert Deutschland heraus. Sie bietet aber auch eine Chance, mit geeig­neten Konzepten und Maßnahmen der gesell­schafts­po­li­ti­schen Polari­sierung entgegenzuwirken.

Die Politik muss gemeinsam mit der Zivil­ge­sell­schaft an einem Klima der Anerkennung und Wertschätzung der sprachlich-kultu­rellen Vielfalt in Deutschland arbeiten und ein plura­lis­ti­sches Selbstbild bzw. ein demokra­ti­sches „Wir-Gefühl“ schaffen, womit sich auch Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund identi­fi­zieren können.

Um nur einige Handlungs­emp­feh­lungen zu nennen, sind dringend umfang­reiche Reformen in der Bildungs­po­litik, Stärkung der politi­schen Parti­zi­pation und Politi­schen Bildung und ein entschie­dener Kampf gegen Rassismus und Ungleich­wer­tig­keits­ideo­logien angesagt. Auch eine pädago­gische Präven­tions- und Inter­ven­ti­ons­arbeit ist vonnöten, die Desin­te­gra­ti­ons­pro­zesse in Jugend­kul­turen frühzeitig erkennt und diesen entge­gen­wirkt, ohne dabei junge Menschen vorschnell zu etiket­tieren oder auszugrenzen.

Die AKP unter Erdoğan wird die Konflikte in Deutschland weiter schüren, indem sie Vorfälle wie den Fall Özil instru­men­ta­li­siert. Sie dürfte mit ihrer islamisch-natio­na­lis­ti­schen Ideologie die Herzen der Mehrheit der Türkei­stäm­migen jedoch nicht gewinnen können, wenn Deutschland seine Chancen mutig ergreift.

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