Faktencheck: Die Krim-Annexion ist mit dem Kosovo nicht vergleichbar
Immer wieder wird die Krim-Annexion durch Russland mit Verweis auf die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien gerechtfertigt. Der Vergleich ist jedoch irreführend.
Falsche Kosovo-Analogie
Die russische Analogie von Kosovo und Krim ist eine „bösartige Verdrehung der Umstände, um eine eigene völkerrechtswidrige Aktion zu legitimieren“, sagte Ludger Vollmer, 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt, am 19. März 2014 im Deutschlandfunk.
„Damals [1999 im Kosovo] drohte ein Völkermord. Das war keine Fiktion, sondern der damalige Machthaber in Belgrad, Milosevic, hatte bewiesen in Srebrenica, dass er willens und bereit war, Völkermorde zu begehen. Es gab massenhaftes Flüchtlingselend auf dem Kosovo, und gleichwohl gab es intensivste zivile Bemühungen um zu deeskalieren und zu lösen. Es gab den großen Friedenskongress in Rambouillet, und erst, als der scheiterte und keine anderen Mittel mehr verfügbar waren, wurde militärisch eingegriffen. Heute auf der Krim ist kein Völkermord in Sicht.“
Die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 von 1999 entzog Serbien die Souveränität über das Kosovo und unterstellte es bis zu einer Lösung der Statusfrage der internationalen Gemeinschaft. Die Staatsgewalt wurde dabei der von der NATO geführten KFOR übertragen. Die Resolution 1244 sieht auch den Aufbau einer administrativen Selbstverwaltung des Kosovo vor. Binnen neun Jahren konnte trotz Bemühungen von UN-Unterhändler Martti Ahtisaari und der sogenannten Troika keine Verhandlungslösung zum Status des Kosovo erreicht werden.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) entschied 2010 in einem von Serbien angestrengten Gutachten, dass die 2008 erfolgte Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstoßen habe.
Jahrzehnte der Benachteiligung und Unterdrückung im Kosovo
Die Geschichte der Unabhängigkeit des Kosovos war ein Prozess von über 25 Jahren intensiver Bemühungen, auf internationaler Eben eine einvernehmliche Lösung für die unterdrückte albanischsprachige Bevölkerung im Kosovo zu finden. Eine Lösung wurde immer wieder durch Serbien und mit Unterstützung der UN-Vetomacht Russland verhindert, weil in Belgrad kein Interesse hieran bestand und dies dem großserbischen Nationalismus entgegenstand. In dessen Ideologie wurde das Kosovo (Kosovo Polje, dt.: Amselfeld) zum serbischen Kernland stilisiert. Es durfte um keinen Preis aufgegeben werden.
Verschärfung der Unterdrückung der Kosovo-Albaner unter Milosevic
1989 entzog Slobodan Milosevic dem Kosovo den weitreichenden Autonomiestatus, der seit 1974 für das Kosovo und die Vojvodna mit ihrer ungarischen Minderheit in der jugoslawischen Verfassung verankert war. Gleichzeitig propagierte Milosevic unter anderem bei seiner Rede auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989 einen aggressiven großserbischen Nationalismus. Es folgte eine Verschärfung der Diskriminierung der Kosovo-Albaner bis hin zu apartheid-ähnlichen Zuständen.
Radikalisierung des friedlichen Widerstands der Kosovo-Albaner und Vertreibung durch Serbien
Ibrahim Rugova versuchte über Jahre, mit friedlichem Protest und Parallelinstitution im Untergrund die Rechte der Kosovo-Albaner zu vertreten. Seine Bewegung wurde von der internationalen Gemeinschaft weitgehend allein gelassen. In den 1990er Jahre kam es zu einer Radikalisierung des albanischen Widerstands namentlich durch die militant auftretende UCK. 1999 begann Milosevic mit der massenhaften Vertreibung albanischer Bevölkerung aus dem Kosovo. Milosevic hatte bereits 1995 in Srebrenica bewiesen, dass er für das Ziel eines Großserbiens auch vor ethnischen Säuberungen und Völkermord nicht zurückschreckte.
Diplomatische Bemühung zur Befriedung des Kosovo-Konflikts
Im Oktober 1998 vereinbarten der US-Sondergesandte für den Balkan, Richard Holbrooke, mit Slobodan Milosevic den Abzug serbischer schwerer Waffen und Paramilitärs, wie dies von der UN-Sicherheitsratsresolution 1199 verlangt wurde. Die OSZE entsendete die „Kosovo Verification Mission“, um die Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1199 zu überprüfen. Weil die Kämpfe weiter eskalierten, musste sich die Mission im März 1999 selbst in Sicherheit bringen.
Im Februar und März 1999 folgten die Verhandlungen in Rambouillet. Sie waren ein weiterer Versuch, die Gewalt im Kosovo auf diplomatischem Wege zu beenden. An den Verhandlungen waren neben Vertretern Jugoslawiens und der Kosovo-Albaner, die USA, EU und Russland beteiligt. Russland torpedierte in dieser Situation als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat mehrfache Versuche, ein UNO-Mandat zum Schutz der albanischen Bevölkerung im Kosovo zu beschließen. Aufgrund der russischen Blockade in der UNO und weil die Verhandlungen in Rambouillet scheiterten, griff die NATO am 24. März 1999 schließlich ohne UN-Mandat militärisch in den Kosovo-Konflikt ein. So sollte die anhaltende Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo gestoppt werden. Der NATO-Eingriff führt zu einem umgehenden Ende der serbischen Aggression im Kosovo und schuf die Grundlage für eine friedliche Konfliktlösung.
Die Hoheit Jugoslawiens über das Kosovo wird eingeschränkt
Nach Befriedung des Konflikts verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 10. Juni 1999 mit Zustimmung Russlands die Resolution 1244. Die Hoheit Jugoslawiens (damals noch einschließlich Montenegros) über das Kosovo wurde hierbei bekräftigt, jedoch für unbestimmte Zeit eingeschränkt. Die Resolution 1244 legte im Wesentlichen viert Punkte fest:
- Die jugoslawische Souveränität einschließlich des Kosovo bleibt vorerst erhalten;
- Die Hoheit über das Kosovo wird einstweilen Belgrad entzogen und den Vereinten Nationen in Form eines zivilen Statthalters (ICR – International Civilian Representative for Kosovo unterstützt vom ICO – International Civilian Office) und der KFOR als internationaler Sicherheitstruppe unterstellt;
- Die UNO baut mithilfe von UNMIK (United Nations Mission in Kosovo) im Kosovo eine von Belgrad unabhängige Selbstverwaltung auf;
- Der ungeklärte Status des Kosovo soll im Rahmen von Verhandlungen gelöst werden.
Jahre erfolgloser Statusverhandlungen
Ab 2006 folgten Statusverhandlungen mit allen Beteiligten, zuerst vermittelt durch den UNO-Sonderbotschafter Martti Ahtisaari. Nachdem der keine Einigung beider Seiten erreichen konnte, präsentierte er im April 2007 gegenüber dem UN-Sicherheitsrat den sogenannten Ahtisaari-Plan, der eine international überwachte und eingeschränkte Unabhängigkeit für das Kosovo mit weitreichenden Minderheitenrechten für die serbische Bevölkerung vorschlug.
Da Russland im UN-Sicherheitsrat eine Lösung der Statusfrage auf Grundlage des Ahtisaari-Plans blockierte, wurde im Juli 2007 als Alternative ein neues Verhandlungsformat bestehend aus hochrangingen Diplomaten aus den USA, der EU und Russland eingesetzt – die sogenannte Troika. Ende 2007 scheiterten auch die Statusverhandlungen der Troika.
Einseitige Unabhängigkeitserklärung durch das Kosovo
Nachdem alle Bemühungen der UN zur Klärung der Statusfrage des Kosovo gescheitert waren, erfolgte 2008 die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf Grundlage des Ahtisaari-Plans. In einem von Serbien beantragten Gutachten des Internationalen Gerichtshofs der UN stellte dieser 2010 fest, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht gegen Völkerrecht verstieß. Das Gutachten stellte nicht die Frage nach der Rechtmäßig der Unabhängigkeit, sondern ob die Unabhängigkeitserklärung gegen Völkerrecht verstoße, was sie nicht tut, weil das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen nicht verbietet (so sie nicht Folge rechtswidriger Gewaltanwendung sind), und weil UN-SR 1244 die Statusfrage offen lässt und einer späteren Klärung anheimstellt.
Völkerrechtliche Bewertung
Völkerrechtlich widersprechen sich die beiden Grundsätze a) nach dem Schutz territorialer Integrität von Staaten und b) dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter ist eine Auslegungsfrage und nicht eindeutig geklärt. Eine verbreitete Lesart besagt, dass der Schritt zur Unabhängigkeit erst dann legitim sei, wenn die Selbstbestimmung einer Volksgruppe (Sprache, Kultur, Medien, Schulen, Teilhabe) nicht innerhalb des bestehenden Staats möglich ist oder so weit staatlich eingeschränkt wird, dass dies der Unterdrückung der Volksgruppe gleichkommt. Das war für Kosovo-Albaner in den 1990er Jahren der Fall. Serbien hat die Kosovo-Albaner durch seine Unterdrückungspolitik quasi in die Unabhängigkeit getrieben und sich einer Verhandlungslösung durchweg verweigert.
Fazit: Die Unabhängigkeit des Kosovo ist mit der Krim-Annexion durch Russland nicht vergleichbar
Das Kosovo wurde nicht wie die Krim durch ein anderes Land annektiert, sondern ist bis heute ein unabhängiger Staat, auch wenn es im Kosovo politische Kräfte gibt, die einen Zusammenschluss mit Albanien fordern.
Die Annexion fremden Staatsgebiets durch Russland in nur wenigen Wochen ist nicht vergleichbar mit einem Jahrzehnte andauernden Prozess, in dem es unzählige Bemühungen für eine völkerrechtlich vertretbare Lösung gab. Russland war hierbei stets eigebunden. Der Prozess scheiterte nicht zuletzt an Russlands Versuchen, eine Lösung zu verhindern.
Der völkerrechtliche Status des Kosovo war mit der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 offen gehalten worden, die Möglichkeit einer Unabhängigkeit damit gegeben. Sie erfolgte am Ende eines langjährigen, erfolglosen Verhandlungsprozesses und kann aufgrund der Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Serbien mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker völkerrechtlich begründet werden.
Russland hat mit der Annexion der Krim Völkerrecht gebrochen. Es hat mit militärischer Waffengewalt Grenzen verschoben und die territoriale Integrität der Ukraine verletzt. Auf der Krim gab es keine Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung, wie dies für die Kosovo-Albaner im Kosovo der Fall war.
Der NATO-Einsatz im Kosovo-Krieg diente dem Schutz der Kosovo-Albaner vor Gewalt und Vertreibung durch die serbische Armee und Paramilitärs. Er erfolgte ohne UN-Mandat, weil entsprechende Resolutionen zuvor im Sicherheitsrat von Russland blockiert worden waren.
Die spätere KFOR-Mission wurde auf völkerrechtlich abgesicherter Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 mit Zustimmung Russlands eingesetzt. Der verdeckte Einsatz russischer Soldaten auf der Krim erfolgte, ohne dass jemals ein Mandat dafür im Rahmen der UNO angestrebt wurde. Denn hierfür hätte jegliche Begründung gefehlt. Schließlich ging es Moskau um die Vorbereitung einer handstreichartigen Annexion fremden Staatsterritoriums.
Nach der Annexion der Krim begeht Russland dort massive Menschenrechtsverletzungen, insbesondere gegenüber den Krimtataren und den Kräften, die loyal zur Ukraine stehen (siehe den Fall Sentsov).
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