Jetzt rächt sich Europas Passivität in Belarus
Die EU hat sich über Jahre in Belarus passiv verhalten. Zu groß war die Sorge vor einem weiteren Konfliktherd in der Nachbarschaft Putins. Nun steht Brüssel vor einem großen Dilemma.
Der Zusammenprall zwischen dem Autokraten Lukaschenka und einer unerwartet kraftvollen demokratischen Opposition hat Belarus wieder auf die europäische Landkarte gebracht. Vor fast genau zehn Jahren gab es schon einmal einen Versuch, das verknöcherte Regime abzuschütteln, das in vielem noch an sowjetische Verhältnisse erinnert. Auch damals gab es Massenproteste gegen Wahlfälschungen. Sie wurden mit eiserner Faust niedergeschlagen.
Die EU verhängte Sanktionen und lockerte sie später wieder. Das Land ist Teil der europäischen Nachbarschaftspolitik, von einer aktiven Belarus-Politik blieb die EU aber weit entfernt. Das System Lukaschenka wirkte anachronistisch, schien aber einigermaßen stabil, und nach der Ukraine verspürte man weder in Berlin noch in Brüssel große Neigung auf den nächsten geopolitischen Konflikt mit Putin.
Diese Passivität rächt sich jetzt. Es zeigt sich, dass ein Großteil der belarussischen Gesellschaft mit dieser Art von Scheinstabilität nicht mehr leben will. Weitgehend unbemerkt vom Westen entwickelte sich eine zivilgesellschaftliche Gegenkultur, die sich von den Parteirivalitäten der früheren Opposition emanzipierte. Die andauernde wirtschaftliche Misere des Landes und das groteske Missmanagement der Corona-Krise durch Lukaschenko verstärkten den Überdruss in der Bevölkerung.
Die Präsidentschaftswahlen wurden zum Ventil für den Wunsch nach Veränderung. Trotz des allgegenwärtigen Überwachungsapparats wurde das Regime von der Breite und dem Schwung dieser Bewegung überrascht. Es waren drei mutige Frauen, die dem Protest Gesicht und Stimme gaben, an der Spitze die Englischlehrerin Swetlana Tichanowskaja. Sie sprang in die Bresche, nachdem ihr Mann, der Blogger Sergej Tichanowski, inhaftiert und von der Kandidatur ausgeschlossen wurde.
Lukaschenka klammert sich mit aller Gewalt an die Macht. Dennoch ist nicht ausgemacht, ob es ihm noch einmal gelingt, die Proteste zu ersticken. Vieles deutet auf eine revolutionäre Situation, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“, um einen bekannten Revolutionsexperten zu zitieren.
Man muss damit rechnen, dass Lukaschenka über Leichen gehen wird, um seine Macht zu retten. Auch Putin wird alles daransetzen, eine weitere „bunte Revolution“ vor seiner Haustür zu verhindern. Darin stimmen die Interessen des Kreml mit denen Lukaschenkas überein. Putin war denn auch der erste ausländische Staatschef, der dem belarusischen Autokraten zu seiner Wiederwahl gratulierte. Man wird sehen, wie lange er an ihm festhält oder ob er noch einen anderen Joker im Ärmel hat.
In die Arme Chinas
Die EU steht vor einem Dilemma. Verhängt sie erneut empfindliche Sanktionen gegen das Regime, treibt sie Lukaschenka womöglich noch stärker in die Arme des Kreml und der chinesischen Führung, die Belarus bereits als potenzielle Einflusszone entdeckt hat. Es lediglich bei verbalen Mahnungen zu belassen würde sie den letzten Rest an Glaubwürdigkeit kosten. Gegenwärtig bleibt wenig mehr, als alle Möglichkeiten der Begegnung zu fördern: kostenlose Visa für die jüngere Generation, Kulturaustausch, Wissenschaftskooperation und Unterstützung für die demokratische Opposition.
Langfristig braucht Belarus wie die anderen Länder der „östlichen Partnerschaft“ eine glaubwürdige Perspektive europäischer Integration. Den größten Beistand kann die EU leisten, wenn sie dem Kreml die klare Botschaft übermittelt, dass jede militärische Intervention in Belarus gravierende Folgen für die beiderseitigen Beziehungen hätte. Zumindest das sind wir all jenen schuldig, die jetzt Kopf und Kragen für Werte Europas riskieren.
Dieser Text erschien zuerst am 11. August 2020 auf in der Welt.
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