Wir sind ein Volk?
Auf Einladung des Zentrums Liberale Moderne und des Berliner Ensembles diskutierten Wolfgang Schäuble, Angela Marquardt, Werner Schulz und Richard Schröder mit Ralf Fücks über fortwirkende Irritationen und Diskrepanzen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.
Das Berliner Ensemble war am Montagabend ausverkauft, soweit es die Corona-bedingte reduzierte Teilnehmerzahl zuließ. Auch Bundespräsident Joachim Gauck war im Publikum zugegen. Auch wenn die Veranstaltung nicht als Wortgefecht auf offener Bühne angelegt war, gab es genügend Stoff für eine lebhafte Diskussion.
Im Westen wenig Interesse am Osten
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte 1990 als damaliger Innenminister den Einigungsvertrag für die Bundesrepublik verhandelt. Er gab zu bedenken, dass auf westdeutscher Seite das Interesse für den Osten nicht besonders ausgeprägt war, die Menschen in der DDR hingegen sich an der Bundesrepublik orientierten, Westfernsehen sahen und viel mehr über den anderen deutschen Staat wussten. Man habe im Westen unterschätzt, welch grundstürzenden Wandel in allen Lebensbereichen ausnahmslos alle Menschen in den neuen Bundesländern erlebten. Die meisten Westdeutschen begrüßten die Wiedervereinigung. In ihrem Leben änderte sich aber nichts grundlegend. Für manche Westdeutsche sei es ja schon eine Zumutung gewesen, dass die Bundeshauptstadt von Bonn nach Berlin wechselte.
Für Angela Marquardt, die zur Wendezeit ihr Abitur ablegte und sich in den 1990er Jahren in der PDS engagierte, war der Fall der Mauer eine persönliche Befreiung. Sie kam aus einem Staat, in dem alles vorgegeben wurde. Nun konnte sie frei über ihr künftiges Leben entscheiden, die Welt kennenlernen und Bücher lesen, von deren Existenz sie noch nicht einmal gewusst habe. Es gebe nichts, was sie an der DDR vermisse. Ein paar Jahre habe ihr gefallen, wenn Gesprächspartner ausriefen: „Was, Sie kommen aus dem Osten?!“. Inzwischen definiere sie sich weder positiv noch negativ durch ihre Herkunft aus der DDR. Ost oder West seien für sie keine prägenden Kategorien.
Die Bilanz der Einheit ist besser als es scheint
Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder wies darauf hin, dass es eine eigenwillige Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des persönlichen Umfelds und der allgemeinen Lage gebe. In West- wie Ostdeutschland weisen Umfrage auf hohe Zufriedenheit mit den persönlichen Lebensumständen hin. Allerdings gebe es im Osten eine hohe Unzufriedenheit mit der allgemeinen politischen Lage und der Regierung in Berlin. Nach allen verfügbaren Statistiken habe sich die Lage in Ostdeutschland dramatisch verbessert. Für die 65jährigen sei die Lebenserwartung in den ersten 10 Jahren um 3 Jahre gewachsen und die Suizidrate um 70% gefallen. Gestorben werde in Ostdeutschland jedenfalls deutlich weniger gern als noch zu DDR-Zeiten.
Auch der DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz zog eine positive Bilanz der deutschen Einheit. In Ostdeutschland seien zwei Transformationen gleichzeitig zu bewältigen gewesen: von der Diktatur zur Demokratie und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Die osteuropäischen Länder seien wirtschaftlich durch ein viel tieferes Tal gegangen. Nur habe es dort niemanden gegeben, dem man dafür hätte die Schuld geben können.
Fehlt der Einheit die gemeinsame Gründungserfahrung?
Auf die Wiedervereinigung sei niemand vorbereitet gewesen. Die Opposition habe sich über Jahre mit einer Reform der DDR befasst. Nur wenigen sei die „nationale Frage“ und die Perspektive der Wiedervereinigung präsent gewesen. Es sei dann mit der Einheit sehr rasant gegangen. Der Verfassungsentwurf des Runden Tischs habe Substanz gehabt. Er hätte sich die Zeit für eine gesamtdeutschen Verfassungsprozess gewünscht. Der Einheit fehle nun eine gemeinsame Gründungserzählung. Der Freudentaumel vom 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag reiche dafür nicht aus.
Die Bundesregierung hat das Tempo der Einheit nicht vorgegeben
Wolfgang Schäuble entgegnete, dass das Tempo der Einheit nicht in Bonn vorgegeben worden sei, sondern durch die aufgestauten Hoffnungen und Forderungen der Leute im Osten. Man sei von den Ereignissen getrieben gewesen, habe die außenpolitischen Fragen klären müssen. Und die DDR-Bürger hätten mit der Volkskammerwahl 1990 sehr deutlich gemacht, dass sie andere Prioritäten als einen Verfassungsprozess hatten. Mit der D‑Mark musste auch sehr rasch die Einheit kommen. Die große Mehrheit im Westen war mit dem Grundgesetz sehr zufrieden, ein Verfassungskonvent stand für sie nicht zur Debatte. Mit der ersten freien Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 habe sich auch die große Mehrheit der Ostdeutschen für einen anderen Weg – den Beitritt zur Bundesrepublik – entschieden.
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Distanz zur Demokratie in Ostdeutschland
Ralf Fücks fragte nach den Ursachen für die Distanz vieler Ostdeutscher zu Demokratie und Marktwirtschaft. Eine Allensbach-Umfrage von 2019 zeige, dass nur 42% der Ostdeutschen die Demokratie für die beste Staatsform halten, im Westen seien es immerhin etwa drei Viertel. Angela Marquardt wies auf das Problem des Rechtextremismus in der DDR und nach der Wende in Ostdeutschland hin. Sie sei vier Mal in öffentlichen Verkehrsmitteln verprügelt worden und nutze diese bis heute kaum. Für viele im Osten bedeute Demokratie lediglich, dass die eigenen Wünsche umgesetzt würden. Man habe die Renationalisierung unterschätzt, die auch durch die Einheit angetrieben worden sei. Selbst Linke im Osten äußerten Unverständnis für antinationale Haltungen. Schon in der DDR sei man stolz gewesen deutsch zu sein, habe das aber nicht ausleben dürfen. Nun im vereinten Deutschland wolle man endlich stolz sein, deutsch zu sein.
Autoritäre Prägung
Werner Schulz erinnerte daran, dass die es die PDS gewesen sei, die den Boden für Ablehnung der Demokratie mit Slogans wie „Bürger 2. Klasse“, „Siegerjustiz“, „Kohlonisierung“ bereitet habe. Sie habe die Saat gesät, die nun die AfD im Osten ernte. Der Protest sei von links nach rechts gewandert. Es gehe auch um die doppelte Diktaturerfahrung im Osten. Die braune Diktatur sei nie richtig aufgearbeitet worden und bei der roten sei man gerade erst dabei. Das habe die Leute in einer gewissen Ohnmacht hinterlassen. Im Osten gab es die Kontinuität des autoritären Charakters. Die Urerfahrung der Ostdeutschen sei dann 1989 gewesen. Man ging auf die Straße, protestiert gegen etwas und erwarte, dass sich dann alles ändert. Das werde heute wiederholt. Pediga knüpfe an diese Erfahrung an. „Dass man sich den kleinteiligen, anstrengenden und nervenden Prozess der Demokratisierung zu eigen macht, daran fehlt es dann allerdings. Diese Leute erlebt man dann nicht in der Kommunalpolitik.“
Der Mythos von der „feindlichen Übernahme“
Richard Schröder kritisierte vehement, dass es zur Treuhand und zur behaupteten feindlichen Übernahme der DDR-Wirtschaft durch den Westen allzu viele Mythen gebe. Er warte immer noch auf nur einen belegbaren Fall, in dem ein konkurrenzfähiger Betrieb durch die Treuhand oder einen westdeutschen Investor bewusst zerschlagen worden sei. Die vielfach kolportierte Geschichte von den Keramischen Werken Hermsdorf sei frei erfunden. 2011 seien die Akten der Treuhand offengelegt worden. Inzwischen gebe es zwei umfassenden Studien auf der Basis dieser Unterlagen. Jede weitere Debatte sei nur ergiebig auf dieser Faktengrundlage. Werner Schulz pflichtete ihm bei. Er sei damals auch mit parlamentarischen Anfragen den Vorwürfen gegen die Treuhand nachgegangen, die in der Regel nicht haltbar gewesen seien. Natürlich seien auch Fehler gemacht worden. Aber nicht die Treuhand sie für den industriellen Niedergang verantwortlich, sondern der von der DDR verursachte Modernisierungstau und die dramatische Unterkapitalisierung der Bertriebe.
Warnung vor einer demokratiefeindlichen Idealisierung der DDR
Die Bundestagsabgeordnete Claudia Müller (Bündnis 90/Grüne) warnte in einer Wortmeldung aus dem Publikum vor der Schönfärberei der DDR, die jetzt an die Kindergeneration im Osten weitergegeben werde. Da wachse eine Distanz zur Demokratie, die eine große Gefahr darstelle. Man müsse vielmehr wie 1968 im Westen jetzt im Osten die ältere Generation fragen: Was hast Du in der DDR gemacht, wie hast Du in der Diktatur überlebt?
Auch Angela Marquardt warnte vor einer Idealisierung der DDR, die gerade von der Kinder- und Enkelgeneration in Ostdeutschland vorgenommen werden. Als Autorin des Buchs „Vater, Mutter, Stasi“, in dem sie ihre Erfahrung als Aufwachsende in einem Stasi-Elternhaus thematisiert, müsse sie sich immer wieder mit der Behauptung auseinandersetzen, dass das Leben in der DDR im Prinzip in Ordnung gewesen sei. Man müsse sich aktiv dagegenstellen und für die Teilhabe an der Demokratie werben. Da wachse etwas Demokratiefeindliches heran, das Diktatur mit Demokratie gleichsetze.
Lektionen für die europäische Einigung ziehen
Was sind Lektionen von 30 Jahren Einheit für die gemeinsame Zukunft? Wolfgang Schäuble wies auf die heraufziehenden Umbrüche hin, die nur zu meistern seien, wenn wir uns zutrauen, vor großen Veränderungen keine Angst zu haben. Hier können man von der ostdeutschen Erfahrung lernen. Bei allen Problemen sei klar, dass wir ohne substanzielle Fortschritte in der europäischen Einigung verloren seien. Wir müssten Europa zusammenhalten. Das werde noch einmal Debatten bedeuten, die es auch nach der Einheit gab. Auch damals musste man den Leuten im Westen klar machen, dass es uns Wohlhabenden nicht gut geht, wenn der Osten nicht aufholt. Deshalb seien Begriffe wie „Schuldenunion“ Unsinn. Wir müssten Europa gemeinsam stabilisieren, damit es uns auch in Zukunft gut geht.
In seiner Schlussbemerkung erinnerte Ralf Fücks an die Aufbruchstimmung von 1989/90: Wenigstens eine Portion davon bräuchten wir auch heute, um große Herausforderungen wie Globalisierung, Klimawandel und digitale Revolution zu meistern, statt uns vor ihnen zu ängstigen. 30 Jahre Deutsche Einheit sei ein guter Anlass, Bilanz zu ziehen. Aber mehr noch als das Gespräch über die Vergangenheit brauche es eine Verständigung über die gemeinsame Zukunft.
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Mehr InformationenDiese Veranstaltung wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.
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