Comeback der Centerpartiet (1/2): eine ökoliberale Hoffnungsgeschichte?
Die Grünen Sandra Detzer und Sebastian Schaffer reisen nach Schweden. Eine traditionsreiche Bauernpartei positioniert sich als ökoliberaler Widersacher der Rechten und Nationalisten. Was können die Grünen in Deutschland von der „Centerpartiet“ lernen? Ein Reisebericht.
Unsere Autoren haben Schweden vor der Parlamentswahl am 9.September besucht. Die Schwedendemokraten erreichten am Wahltag 17,5 Prozent und wurden drittstärkste Kraft, die Regierungsbildung gestaltet sich kompliziert. Die Zentrumpartei konnte zulegen und erhielt 8,6 Prozent. Sie gelangte auf den vierten Platz.
Schwedische Sonntagsfragen sind kein schöner Anblick. Im September strebt das Land im hohen Norden an die Wahlurnen. Und davon lässt sich wenig Gutes erwarten. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten haben bei den Demoskopen die 20-Prozent-Marke übersprungen. Die Partei mit Wurzeln im neonazistischen Milieu kämpft mit der einst hegemonialen schwedischen Sozialdemokratie um Platz 1. Das politische Klima ist seit der Flüchtlingskrise 2015 vergiftet. Immer bedrohlicher wird das einst viel gerühmte schwedische Volksheim auf dem ersten Wortteil betont.
„Jetzt reicht es!“
Ein Seismograph für die politische Stimmung im Wahlkampf ist die Demokratie-Woche „Almedalen“ Anfang Juli. Im gleichnamigen Park des Städtchens Visby auf der Ostseeinsel Gotland trifft Jahr für Jahr die schwedische Politprominenz auf Verbände und die engagierte Zivilgesellschaft. Höhepunkte sind die Grundsatzreden der Parteivorsitzenden. Der bullige und mitunter vierschrötige sozialdemokratische Regierungschef Stefan Löfven gibt sich genauso die Ehre wie seine Koalitionspartnerin Isabella Lövin von den existenzbedrohten Grünen und Jonas Sjöstedt von der Linkspartei. Die Rechtspopulisten sammeln sich um ihren medial geschmeidigen Chef Jimmie Åkesson – stets mit akkurater Gelfrisur und Schwiegersohn-Lächeln. Die Spitze der bürgerlichen Opposition bildet der biedere Ulf Kristersson von den konservativen Moderaten mit stabilen, wenn auch eher bescheidenen Umfragewerten. Sein Partner Jan Björklund von den Liberalen steckt im hartnäckigen Umfrageloch fest. Noch mehr gilt das für seine junge Kollegin Ebba Busch Thor von den freikirchlich getragenen Christdemokraten, die derzeit deutlich unter der 4‑Prozent-Sperrklausel taxiert werden.
Fast ist es so, als würden sich Margaret Thatcher und Claudia Roth auf eine gemeinsame Partei einigen. Thatcher darf die Wirtschaftspolitik bestimmen, Roth die Gesellschaftspolitik.
Die Vierte im bürgerlichen Bunde ist Annie Lööf von der ökologisch-liberalen Centerpartiet. Am Mittwoch ist der Tag, an dem sich ihre Partei in Almedalen vorstellt. Als Lööf am Nachmittag bei schönstem Sommerwetter im cremeweißen Hosenanzug auf die Bühne tritt, versammeln sich fast 4.000 Menschen im Park, um sie zu hören. Nur sie und Regierungschef Löfven ziehen solche Zuschauermengen an. Die 35jährige mit den langen roten Haaren sieht so aus, als hätte Pippi Langstrumpf Karriere bei McKinsey gemacht. Sie ist die beliebteste Politikerin des Landes. Allerdings nicht bei Rechtsaußen.
„Die Dämmerung bricht herein über Schweden.“ Lööf lässt den ersten Satz ihrer Rede nachklingen und schildert dann eine frühabendliche Szene fröhlich tanzender Jugendlicher in einem jüdischen Gemeindezentrum. Sie beschreibt, wie die Feier jäh unterbrochen wird, als Neonazis Molotowcocktails gegen das Gebäude schleudern. Während sie spricht, macht sich im hinteren Bereich des Parks Unruhe breit. Horden von gewaltbereiten Rechtsextremen brüllen im Chor „Volksverräterin“. Annie Lööf hält kurz inne, dann sagt sie in einer für sie typischen liberalen Reaktion: „Dort hinten schreien die Nazis von der Nordischen Widerstandsbewegung. Hören wir ihnen doch einen Moment lang zu.“ Nach kurzer Pause fährt sie fort: „Nun haben sie Gehör gefunden.“
Unter dem fortdauernden Geschrei der Neonazis beschreibt sie die Realität eines Landes, in dem jüdische Schulen von Stacheldraht und Wachpersonal geschützt werden müssen und Synagogen kugelsicheres Fensterglas brauchen. Die Realität eines Landes, in dem Juden sich nicht mehr zu sagen trauen, dass sie Juden sind. Sie richtet sich direkt an die Protestierer und ruft: „An euch Antisemiten, Rassisten, Islamisten und verrohte Nazis habe ich folgende Fragen: Seid ihr nun zufrieden? Seid ihr jetzt stolz auf euch? Ist das die Gesellschaft, die ihr gerne haben wollt?“ Und an ihre Anhänger gerichtet fügt sie hinzu: „Schweden darf niemals vom Hass beherrscht werden. Der Anstand verlangt von uns, dass wir aufstehen und geradeheraus sagen: Nun reicht es!“ Der rechte Mob tobt, die Menge vor der Bühne springt begeistert von den Stühlen. So ist das im Schweden des Sommers 2018.
Eine Partei für Bauern und Hipster
Der schwedischen Demokratie geht es nicht gut. Aber Annie Lööf und ihrer Partei geht es blendend. Als einzige Partei des oppositionellen bürgerlichen Blocks darf die Centerpartiet mit kräftigen Zugewinnen bei der wichtigen Wahl im September rechnen. Demoskopen trauen ihr ein Ergebnis über 10 Prozent und Platz vier zu. Es wäre das beste Resultat ihrer Partei seit 30 Jahren. Der Juristin und Mutter aus dem südschwedischen Småland ist es gelungen, den liberalen Gegenpol zu den Rechtspopulisten zu bilden. Als die rot-grüne Regierung 2015 die Grenzen für Flüchtlinge abriegelte, war Lööf leidenschaftlich dagegen. Sie war damit ziemlich allein auf weiter Flur. 2017 scherte sie aus dem bürgerlichen Block aus und schloss jegliche Zusammenarbeit mit den „Gegnern der Menschenwürde“ kategorisch aus. Die Moderaten hatten zuvor mit einer Tolerierung durch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten geliebäugelt. Und 2018 zog sich die Centerpartiet erneut den Zorn ihrer bürgerlichen Partner zu, als sie nach einer hochkontroversen Debatte gemeinsam mit der rot-grünen Koalition einer Bleiberechtsregelung für 9000 junge Afghanen zustimmte.
Auf diese Weise ist Annie Lööf die Stimme des aufgeklärten schwedischen Bürgertums geworden. Und Annie Lööf ist hip. Die Starbloggerin Bianca Ingrosso erklärt ihren jugendlichen Fans in ihrem Podcast, sie stimme im Herbst für die Centerpartiet. Der Stockholmer Vorstadt-Rapper Erik Lundin widmet ihr einen Song, den in Schweden jeder Teenager mitsingen kann. Das alles ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Centerpartiet direkt aus dem schwedischen Bauernbund hervorgegangen ist. Sie ist eine Partei, deren Redner traditionell gerne auf Heuballen stiegen und durch deren TV-Wahlwerbespots auch schon mal singende Kartoffeln tanzten.
Als freiheitliche Partei mit ökologischer Orientierung hat sie im deutschen Parteiensystem keine Entsprechung. Ungewöhnlich ist auch ihre Organisation. Bei den letzten Wahlen dümpelte sie stets knapp über sechs Prozent. Aber mit 40.000 Parteigängern ist sie mitgliederstark. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen sind das etwa fünfmal so viele Mitglieder wie die FDP oder die deutschen Grünen haben. Ihr Frauenverband ist die größte Frauenorganisation des gesamten Landes. Entsprechend hat sie auch den größten weiblichen Anteil an Mandatsträgern aller Parteien. Ihr Jugendverband veranstaltet große Sommercamps, die sehr an Pfadfinderlager erinnern. Und durch den Verkauf eines Verlages ist sie steinreich. Ihr Reinvermögen beträgt etwa eine Viertelmilliarde Euro.
Funktionäre mit Erde unter den Fingernägeln
Das Phänomen Centerpartiet lässt sich nicht verstehen, ohne es ins Verhältnis zur schwedischen Topographie und Geschichte zu setzen. Im riesigen und dünn besiedelten Schweden fürchtete der ländliche Raum immer schon, übersehen und überhört zu werden. Die soziale Frage war stets auch eine regionale Frage. Die eine Million schwedischer Bürger, die um die vorletzte Jahrhundertwende in die USA auswanderten, kamen aus der hungernden Landbevölkerung. Das ländliche Schweden hat lange Erfahrung damit, das soziale Miteinander auch dort zu organisieren, wo nur wenige Bürger leben. Oft geschieht es ehrenamtlich. Schweden ist ein Land der Bücherbusse, Laienspieltruppen, Volkshochschulen und Folk-Musikgruppen. Genau in diesem Milieu ist die Centerpartiet verwurzelt.
Über viele Jahrzehnte ließen sich ihre Vertreter im Reichstag leicht von den anderen unterscheiden. Die Center-Funktionäre waren die mit der Erde unter den Fingernägeln. So wie ihr langjähriger Vorsitzender Thorbjörn Fälldin, Landwirt aus dem zentralschwedischen Ångermanland. Interviews gab der hochgewachsene Fälldin gerne auf seinen weiten Feldern, das Jagdmesser am Gürtel, die Hände in den Taschen, die Pfeife im Mund. Er wirkte gelegentlich etwas schwerfällig und politisch ungelenk. Doch er hatte eine moderne Vision für seine Partei. Vor den meisten anderen erkannte er in den späten 60er Jahren die zunehmende Bedeutung der ökologischen Frage und den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der mit der Landflucht der Jungen und dem Wachstum der Städte einherging. Wenn die „Grüne Welle“ der 70er Jahre in den meisten europäischen Ländern vor allem von linken Kräften ausging, so wurde sie in Schweden aus dem ländlich-bürgerlichen Milieu vorangetrieben – von der Centerpartiet. Fälldin brachte seine Partei schon zu Beginn der 70er auf einen strammen Anti-Atomkraft-Kurs, der über Jahrzehnte ihr Markenzeichen blieb.
Sein politischer Traum war eine große Sammlungspartei der liberalen Mitte. Mit einer Mischung aus Umweltschutz, wirtschaftsliberalen Reformen, Steuersenkungen und politischer Dezentralität brachte er seine Partei in den 70er Jahren zu großen Wahlerfolgen. Mit Wahlergebnissen bis zu 25 Prozent setzte er sich an die Spitze des bürgerlichen Lagers und wurde zum wichtigsten Widersacher Olof Palmes. Der großbürgerliche Sozialist Palme begegnete Fälldin gerne mit leisem Spott – bis er von ihm aus dem Amt gedrängt wurde. Bis heute ist Thorbjörn Fälldin der einzige Ministerpräsident, den die Centerpartiet je stellte. Er stand mehreren bürgerlichen Mehrheits- und Minderheitskabinetten vor, die sich allerdings immer wieder heillos an der Atomkraftfrage zerstritten.
Der schleichende Niedergang der alten Centerpartiet
In den 80er und 90er Jahren begann der Abstieg der Partei. Das bürgerliche Regierungsbündnis wurde von den Sozialdemokraten abgelöst, die Centerpartiet drängte Fälldin aus dem Amt und verlor danach in rascher Abfolge immer neue Parteivorsitzende und immer mehr Wählerstimmen. Sie wirkte mitunter wie eine ländliche Folkloretruppe, der die politische Botschaft abhandengekommen war. 2001 trat schließlich Maud Olofsson an die Spitze der Centerpartiet. Die Landwirtstochter aus einer traditionellen Center-Familie bürstete ihre Partei auf einen stramm wirtschaftsliberalen Kurs. Ihr entscheidendes Projekt war, die vier bürgerlichen Parteien in einem festen neuen Wahlbündnis zu einen – der sogenannten „Allians för Sverige“. 2006 gelang diesem Viererbund der Sprung an die Macht. Die Centerpartiet stellte mit Maud Olofsson die Wirtschaftsministerin. Und die profilierte sich als eine Art marktliberale Gouvernante der Nation. Dem gemeinsamen Erfolg opferte sie auch traditionelle Kernthemen der Centerpartiet. Auf Betreiben Olofssons weichte die Partei schließlich sogar ihre Anti-Atomkraft-Position auf.
Dieser Kurs überzeugte allerdings immer weniger Wähler. Als Maud Olofsson 2011 nach zehn Jahren den Vorsitz abgab, hinterließ sie ihrem Nachfolger kein einfaches Erbe. Die Partei wählte unter vier Bewerbern die erst 28jährige Annie Lööf in einer Urwahl zur Vorsitzenden. Die Musterschülerin Annie Lööf war mit 22 jüngste Parlamentsabgeordnete geworden und hatte sich als Innen- und Rechtsexpertin einen Namen gemacht. Auch sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes Stallgeruch, stammte sie doch aus einer alten Bauernfamilie und hatte einen Center-Funktionär zum Vater. Nun wurde sie die jüngste Parteivorsitzende und jüngste Ministerin in der Geschichte der Centerpartiet. Sie übernahm eine Partei, die laut Umfragen von den Wählern die geringste Glaubwürdigkeit von allen bescheinigt bekam. Sieben Jahre später hat sie nun die höchste Glaubwürdigkeit von allen. Eine erstaunliche Leistung.
Die schwere Geburt des neuen Grundsatzprogramms
Dabei stand Annie Lööf zunächst für keinen klaren politischen Kurswechsel. Als ihre Lieblingsautorin nannte sie die radikalkapitalistische Philosophie-Sirene Ayn Rand, als ihr politisches Vorbild Margaret Thatcher. Allerdings stand Lööf für einen politischen Generationen- und Stilwechsel. Unter der neuen Vorsitzenden machte sich die verunsicherte Partei auf den Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm. Eine vom Parteivorstand unabhängige Grundsatzkommission sollte in einem breiten Beteiligungsprozess Ideen und Vorschläge von Mitgliedern und Sympathisanten einsammeln. Das Verfahren ging furchtbar schief. Denn tonangebend wurde eine einflussreiche Gruppe von neoliberalen Intellektuellen aus Wirtschaft, Kultur und Politik, die sich selbst den Namen „Stureplancentern“ gab, benannt nach einem großen Platz in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Sie machte sich zum Ziel, die Centerpartiet zur „liberalsten Partei Schwedens“ zu formen. Das Papier, das die Grundsatzkommission im Januar 2013 vorlegte, war tief davon geprägt. Der Entwurf sah die Aufhebung der Schulpflicht ebenso vor wie die Abschaffung jeglicher Einwanderungsbeschränkung und die Einführung der Mehrpersonen-Ehe. Das Wahlvolk schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Lööf, die zu jener Zeit in Thailand in den verspäteten Flitterwochen war, verfolgte die öffentliche Debatte mit Entsetzen über ihr Smartphone am Strand. Sie brach ihren Urlaub ab und flog zurück nach Stockholm. In einer Pressekonferenz räumte sie die kruden Vorschläge ab und kündigte eine gründliche Überarbeitung an. Die Winterwochen des Jahres 2013 wurden damit zur öffentlichen Geburtsstunde der resoluten Krisenmanagerin Annie Lööf. Während sie in den Talkshows der Nation die politischen Scherben zusammenkehrte, schrieb ihr enger Vertrauter Martin Ådahl den Programmentwurf um. Der stellvertretende Generalsekretär Ådahl glaubt bis heute, dass gerade jene Krisenwochen den programmatischen Neustart für die Centerpartiet ermöglichten. „Die Kontroverse führte zu einer breiten politischen Seelensuche in der gesamten Partei, aus der sich dann das Konzept eines grünen Liberalismus herauskristallisierte. Ich fuhr kreuz und quer durch Schweden, um die gesamte Partei dahinter zu einen, und es funktionierte. Wir setzten uns vertieft mit schwierigen Fragen wie Grenzen, Migration und gesellschaftlicher Offenheit auseinander. Die Schlussfolgerungen, die wir zogen, stärkten uns. Sie führten zum Beispiel dazu, dass wir 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nicht ins Wanken kamen, sondern bis in die letzte lokale Einheit eine klare Linie vertraten.“
Wenige Wochen später auf dem Parteitag lag dann unter dem Titel „Eine nachhaltige Zukunft“ ein Grundsatzprogramm vor, das bis heute über Schweden hinaus Beachtung verdient. Denn es ist der ernsthafte und seltene Versuch, Liberalismus und Nachhaltigkeit in einem gemeinsamen Parteiprogramm zu verbinden. In der Präambel heißt es: „Der Liberalismus der Centerpartiet ist sozial, dezentral und grün. Er ist erdverbunden und freiheitlich. Er gründet auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Er betrachtet die Gesellschaft als eine Gemeinschaft, in der jeder gebraucht wird und die viel mehr umfasst als nur den Staat.“
„Für uns ist die Nachhaltigkeit eine Freiheitsfrage“
In ihrer Einbringungsrede zog Annie Lööf die langen Traditionslinien der 100 Jahre alten Partei nach. Vom Protest der schwedischen Bauern gegen Verstaatlichung und Monopole bis zur bürgerlichen Landfrauenbewegung mit ihren entscheidenden Impulsen für die Gleichberechtigung; vom Kampf für die Schulpflicht der Landbevölkerung bis zum ersten ganzheitlichen Umweltprogramm der schwedischen Politik in den 60er Jahren. Lööf beschwor die zutiefst proeuropäische und einwanderungsfreundliche Grundhaltung ihrer Partei und verband all dies zu ihrem Verständnis eines modernen ökologischen Liberalismus. Sie markierte zwei Ziele, die für die Politik der Centerpartiet im Mittelpunkt stehen sollten. Das erste Ziel waren neue Jobs und damit verbunden die Arbeitsmarktintegration von Einwanderern, Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen. Das zweite Ziel waren Klimaschutz und Nachhaltigkeit durch technische Innovation und marktwirtschaftliche Anreize. Zudem galt es, Unternehmensgründungen zu fördern und gute Rahmenbedingungen für bestehende Firmen zu schaffen. Politisches Handeln musste aus ihrer Sicht stets Stadt und Land gleichermaßen in den Blick nehmen.
Auf dieser Grundlage gelang es Lööf, ein spezifisches politisches Profil zu beschreiben. Sie erfand nichts grundlegend Neues, aber sie setzte bestehende liberale und grüne Politikansätze in eine neue Verbindung zueinander. Sie adressierte die gleichen Themen wie Sozialdemokraten und Grüne, verknüpfte sie aber mit klassischen marktliberalen Forderungen. So sprach sie zum Beispiel von einem „inklusiven Arbeitsmarkt“, aber sie meinte damit auch die Lockerung des rigiden Kündigungsschutzes, die Senkung der Arbeitgeberbeiträge zum Krankengeld und eine niedrigere Unternehmensbesteuerung.
Zentral für ihre Überlegungen war immer wieder der Begriff „grünes Wachstum“. Lööf beschrieb ihren Besuch in einem Slum in Delhi und ihre Gespräche mit Frauen, die mit ihren Kindern in Pappkartons lebten und nicht wussten, was sie ihnen zu essen geben sollten. Wo mehr als eine Milliarde Menschen in Armut lebten, könne man niemals Ökologie und Wachstum gegeneinander stellen, folgerte sie. Die zentrale Herausforderung bestünde darin, Wachstum durch Ökologie zu schaffen. Ein solches grünes Wachstum setze auf die Förderung des freien Unternehmertums, damit Menschen sich aus der Armut heraus selbst ein Leben aufbauen könnten. Und zugleich brauche es das freie Unternehmertum, um grüne Technologien zu entwickeln, mit denen die Folgen von Umweltverschmutzung und Klimawandel bekämpft werden könnten. „Für uns ist die Nachhaltigkeit eine Freiheitsfrage“, erklärte sie. „Eine wachstumsfeindliche Politik ist keine Umweltpolitik, die diesen Namen verdient.“
Sichtbar machen lässt sich die höchst ungewöhnliche programmatische Erneuerung der Centerpartiet mit einer Methode der Parteienforschung, die in Schweden gebräuchlich ist. Die von einer Gruppe europäischer Politikwissenschaftler entwickelte GAL/TAN-Skala fügt der klassischen fiskal- und wirtschaftspolitisch geprägten Links-Rechts-Achse eine zweite Dimension hinzu: TAN steht hier für „traditionell, autoritär und nationalistisch“, GAL für „grün, alternativ und libertär“. Für die Centerpartiet zeigt diese Methode einen erstaunlichen Befund. Denn mit ihrer Vorliebe für einen schlanken Staat und ihrer Skepsis gegenüber sozialer Umverteilung blieb die Partei auch unter Lööf klar eine Kraft der rechten Mitte. Auf der GAL-TAN-Skala, die Wertefragen wie die Ökologie, Einwanderung und kulturelle Vielfalt abbildet, hat die Partei hingegen einen atemberaubenden Wandel vollzogen. Es ist fast so, als müssten sich Margaret Thatcher und Claudia Roth auf eine gemeinsame Partei einigen. Thatcher darf die Wirtschaftspolitik bestimmen, Roth die Gesellschaftspolitik – und beides muss zueinander passen.
Emil Källström: „Den Grünen sind wir nicht grün genug, den Liberalen nicht liberal genug“
Im schwedischen Reichstag sind wir mit dem Abgeordneten Emil Källström verabredet. Der 31jährige Källström ist ein klassisches Beispiel für die nahezu dynastisch anmutende Führungsschicht seiner Partei. Natürlich kommt auch Källström aus einer Bauernfamilie. Er ist tief verankert im Schweden der roten Holzhäuser, Gummistiefel und Motorsägen. Andererseits passt er genauso gut in ein hippes Stockholmer Szenecafé oder auf ein H&M‑Werbeplakat.
Als wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion organisiert Källström die Hauptkampflinie der Partei gegen die sozialdemokratische Minderheitsregierung. Er setzt sich für mehr Wahlfreiheit im Gesundheits- und Pflegesystem ein. Ein größerer Niedriglohnsektor ist ihm lieber als eine fünfmal so hohe Arbeitslosigkeit von Einwanderern. Das Feld der Wirtschaftspolitik bleibt für die Centerpartiet das wichtigste. Hier hat sie neben der Umweltpolitik die höchsten Kompetenzwerte. Schwedens Unternehmer halten sie gar für die sachkundigste aller Parteien. Und Källström will dafür sorgen, dass es so bleibt.
Wir fragen ihn, wie es der Centerpartiet gelungen sei, sich aus der Krise herauszuarbeiten. Er erklärt, man habe zunächst die Kernkompetenzen gefestigt. Die Centerpartiet musste wieder als eine starke Stimme für den ländlichen Raum wahrgenommen werden. Dass man überall im Land ein gutes Leben führen könne mit einer ordentlichen Verkehrsanbindung, einer guten Gesundheitsversorgung und der Möglichkeit, unternehmerisch tätig zu sein – das sei das zentrale Motiv für die ländliche Kernwählerschaft. Aber das strategische Ziel sei auch gewesen, von diesen Kernkompetenzen auszugreifen. Es gebe zum Beispiel in den letzten Jahren wohl keine einzige Rede von Annie Lööf, in der die Stärkung des Unternehmertums keine Rolle gespielt hätte, meint er. Aber die Förderung von Existenzgründungen und kleinen Unternehmen würde eben in Beziehung gesetzt zu wichtigen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen wie der Integration oder der Umweltpolitik. Nur Unternehmer schaffen Arbeitsplätze für Einwanderer. Nur Unternehmer machen umweltfreundliche Technologien für Mobilität oder Energieerzeugung marktfähig.
Als wir ihm erklären, dass seine Partei für Deutsche nur schwer zu verstehen sei, schmunzelt er und erklärt: Das sei in Schweden für viele nicht anders. Auch hier sei die Centerpartiet für manche ein Enigma: „Für die Grünen sind wir keine richtigen Grünen. Für die Liberalen sind wir keine richtigen Liberalen.“ Es habe durchaus Momente gegeben, in denen er am Überleben seiner Partei gezweifelt habe, räumt er ein. Damals in der tiefen Krise. Da habe er sich gefragt, ob es vielleicht einfach keinen Platz mehr gebe für eine Partei, die liberal und ökologisch zugleich sein wolle. Vielleicht müsste jemand, der grün denke, einfach zu den Grünen. Und jemand, der liberal denke, zu den Liberalen. Aber, so Källström: „Ich wollte mich nicht entscheiden. Ich bin ein Liberaler. Im Zweifel bin ich für mehr Wahlfreiheit statt für weniger. Im Zweifel bin ich für niedrigere Steuern statt für höhere. Und wenn man aus ökologischen Gründen die Verbrauchssteuern erhöht, finde ich das prinzipiell richtig, stelle aber als erstes die Anschlussfrage: An welcher Stelle findet im Gegenzug die Entlastung der Bürger statt? Genauso überzeugt bin ich von der Idee der Nachhaltigkeit. Es gibt keine Freiheit, wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen und unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören. Es gehört einfach beides zusammen.“ Natürlich sei es in der Praxis nicht einfach, beides immer zusammenzubringen, sagt er. Es sei jeden Tag eine neue Abwägung. Aber das sei ja genau das Wichtige an der Centerpartiet: Dass sie sich dieser Abwägung stelle. Anders als die Liberalen. Anders als die Grünen.
„Im zweiten Teil unseres politischen Reiseberichts beschäftigen wir uns näher mit dem Verhältnis von Centerpartiet und schwedischen Grünen. Worin sind sie sich einig, wo liegen die Unterschiede? Vom ländlichen Raum bis zur Arbeitsmarktintegration wollen wir den politischen Kern der Centerpartiet besser verstehen. Und wir besuchen die Wahlkampfzentrale in Stockholm, um zu ergründen, wieso eine Bauernpartei ausgerechnet in der Metropole ihr Comeback feiert.“
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