Comeback der Center­par­tiet (1/​2): eine ökoli­be­rale Hoffnungsgeschichte?

Center­par­tiet (official) [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/] via Flickr

Die Grünen Sandra Detzer und Sebastian Schaffer reisen nach Schweden. Eine tradi­ti­ons­reiche Bauern­partei posi­tio­niert sich als ökoli­be­raler Wider­sa­cher der Rechten und Natio­na­listen. Was können die Grünen in Deutsch­land von der „Center­par­tiet“ lernen? Ein Reisebericht. 

Unsere Autoren haben Schweden vor der Parla­ments­wahl am 9.September besucht. Die Schwe­den­de­mo­kraten erreichten am Wahltag 17,5 Prozent und wurden dritt­stärkste Kraft, die Regie­rungs­bil­dung gestaltet sich kompli­ziert. Die Zentrumpartei konnte zulegen und erhielt 8,6 Prozent. Sie gelangte auf den vierten Platz.

Schwe­di­sche Sonn­tags­fragen sind kein schöner Anblick. Im September strebt das Land im hohen Norden an die Wahlurnen. Und davon lässt sich wenig Gutes erwarten. Die rechts­po­pu­lis­ti­schen Schwe­den­de­mo­kraten haben bei den Demo­skopen die 20-Prozent-Marke über­sprungen. Die Partei mit Wurzeln im neona­zis­ti­schen Milieu kämpft mit der einst hege­mo­nialen schwe­di­schen Sozi­al­de­mo­kratie um Platz 1. Das poli­ti­sche Klima ist seit der Flücht­lings­krise 2015 vergiftet. Immer bedroh­li­cher wird das einst viel gerühmte schwe­di­sche Volksheim auf dem ersten Wortteil betont.

„Jetzt reicht es!“

Ein Seis­mo­graph für die poli­ti­sche Stimmung im Wahlkampf ist die Demo­kratie-Woche „Almedalen“ Anfang Juli. Im gleich­na­migen Park des Städt­chens Visby auf der Ostsee­insel Gotland trifft Jahr für Jahr die schwe­di­sche Polit­pro­mi­nenz auf Verbände und die enga­gierte Zivil­ge­sell­schaft. Höhe­punkte sind die Grund­satz­reden der Partei­vor­sit­zenden. Der bullige und mitunter vier­schrö­tige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Regie­rungs­chef Stefan Löfven gibt sich genauso die Ehre wie seine Koali­ti­ons­part­nerin Isabella Lövin von den exis­tenz­be­drohten Grünen und Jonas Sjöstedt von der Links­partei. Die Rechts­po­pu­listen sammeln sich um ihren medial geschmei­digen Chef Jimmie Åkesson – stets mit akkurater Gelfrisur und Schwie­ger­sohn-Lächeln. Die Spitze der bürger­li­chen Oppo­si­tion bildet der biedere Ulf Krist­ersson von den konser­va­tiven Moderaten mit stabilen, wenn auch eher beschei­denen Umfra­ge­werten. Sein Partner Jan Björklund von den Liberalen steckt im hart­nä­ckigen Umfra­ge­loch fest. Noch mehr gilt das für seine junge Kollegin Ebba Busch Thor von den frei­kirch­lich getra­genen Christ­de­mo­kraten, die derzeit deutlich unter der 4‑Prozent-Sperr­klausel taxiert werden.

Fast ist es so, als würden sich Margaret Thatcher und Claudia Roth auf eine gemein­same Partei einigen. Thatcher darf die Wirt­schafts­po­litik bestimmen, Roth die Gesellschaftspolitik. 

Die Vierte im bürger­li­chen Bunde ist Annie Lööf von der ökolo­gisch-liberalen Center­par­tiet. Am Mittwoch ist der Tag, an dem sich ihre Partei in Almedalen vorstellt. Als Lööf am Nach­mittag bei schönstem Sommer­wetter im creme­weißen Hosen­anzug auf die Bühne tritt, versam­meln sich fast 4.000 Menschen im Park, um sie zu hören. Nur sie und Regie­rungs­chef Löfven ziehen solche Zuschau­er­mengen an. Die 35jährige mit den langen roten Haaren sieht so aus, als hätte Pippi Lang­strumpf Karriere bei McKinsey gemacht. Sie ist die belieb­teste Poli­ti­kerin des Landes. Aller­dings nicht bei Rechtsaußen.

Center­par­tiet (official) [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/] via Flickr

„Die Dämmerung bricht herein über Schweden.“ Lööf lässt den ersten Satz ihrer Rede nach­klingen und schildert dann eine früh­abend­liche Szene fröhlich tanzender Jugend­li­cher in einem jüdischen Gemein­de­zen­trum. Sie beschreibt, wie die Feier jäh unter­bro­chen wird, als Neonazis Molo­tow­cock­tails gegen das Gebäude schleu­dern. Während sie spricht, macht sich im hinteren Bereich des Parks Unruhe breit. Horden von gewalt­be­reiten Rechts­extremen brüllen im Chor „Volks­ver­rä­terin“. Annie Lööf hält kurz inne, dann sagt sie in einer für sie typischen liberalen Reaktion: „Dort hinten schreien die Nazis von der Nordi­schen Wider­stands­be­we­gung. Hören wir ihnen doch einen Moment lang zu.“ Nach kurzer Pause fährt sie fort: „Nun haben sie Gehör gefunden.“

Unter dem fort­dau­ernden Geschrei der Neonazis beschreibt sie die Realität eines Landes, in dem jüdische Schulen von Stachel­draht und Wach­per­sonal geschützt werden müssen und Synagogen kugel­si­cheres Fens­ter­glas brauchen. Die Realität eines Landes, in dem Juden sich nicht mehr zu sagen trauen, dass sie Juden sind. Sie richtet sich direkt an die Protes­tierer und ruft: „An euch Anti­se­miten, Rassisten, Isla­misten und verrohte Nazis habe ich folgende Fragen: Seid ihr nun zufrieden? Seid ihr jetzt stolz auf euch? Ist das die Gesell­schaft, die ihr gerne haben wollt?“ Und an ihre Anhänger gerichtet fügt sie hinzu: „Schweden darf niemals vom Hass beherrscht werden. Der Anstand verlangt von uns, dass wir aufstehen und gera­de­heraus sagen: Nun reicht es!“ Der rechte Mob tobt, die Menge vor der Bühne springt begeis­tert von den Stühlen. So ist das im Schweden des Sommers 2018.

Eine Partei für Bauern und Hipster

Der schwe­di­schen Demo­kratie geht es nicht gut. Aber Annie Lööf und ihrer Partei geht es blendend. Als einzige Partei des oppo­si­tio­nellen bürger­li­chen Blocks darf die Center­par­tiet mit kräftigen Zuge­winnen bei der wichtigen Wahl im September rechnen. Demo­skopen trauen ihr ein Ergebnis über 10 Prozent und Platz vier zu. Es wäre das beste Resultat ihrer Partei seit 30 Jahren. Der Juristin und Mutter aus dem südschwe­di­schen Småland ist es gelungen, den liberalen Gegenpol zu den Rechts­po­pu­listen zu bilden. Als die rot-grüne Regierung 2015 die Grenzen für Flücht­linge abrie­gelte, war Lööf leiden­schaft­lich dagegen. Sie war damit ziemlich allein auf weiter Flur. 2017 scherte sie aus dem bürger­li­chen Block aus und schloss jegliche Zusam­men­ar­beit mit den „Gegnern der Menschen­würde“ kate­go­risch aus. Die Moderaten hatten zuvor mit einer Tole­rie­rung durch die rechts­po­pu­lis­ti­schen Schwe­den­de­mo­kraten gelieb­äu­gelt. Und 2018 zog sich die Center­par­tiet erneut den Zorn ihrer bürger­li­chen Partner zu, als sie nach einer hoch­kon­tro­versen Debatte gemeinsam mit der rot-grünen Koalition einer Blei­be­rechts­re­ge­lung für 9000 junge Afghanen zustimmte.

Auf diese Weise ist Annie Lööf die Stimme des aufge­klärten schwe­di­schen Bürger­tums geworden. Und Annie Lööf ist hip. Die Star­blog­gerin Bianca Ingrosso erklärt ihren jugend­li­chen Fans in ihrem Podcast, sie stimme im Herbst für die Center­par­tiet. Der Stock­holmer Vorstadt-Rapper Erik Lundin widmet ihr einen Song, den in Schweden jeder Teenager mitsingen kann. Das alles ist erstaun­lich, wenn man bedenkt, dass die Center­par­tiet direkt aus dem schwe­di­schen Bauern­bund hervor­ge­gangen ist. Sie ist eine Partei, deren Redner tradi­tio­nell gerne auf Heuballen stiegen und durch deren TV-Wahl­wer­be­spots auch schon mal singende Kartof­feln tanzten.

Als frei­heit­liche Partei mit ökolo­gi­scher Orien­tie­rung hat sie im deutschen Partei­en­system keine Entspre­chung. Unge­wöhn­lich ist auch ihre Orga­ni­sa­tion. Bei den letzten Wahlen dümpelte sie stets knapp über sechs Prozent. Aber mit 40.000 Partei­gän­gern ist sie mitglie­der­stark. Auf die Gesamt­be­völ­ke­rung bezogen sind das etwa fünfmal so viele Mitglieder wie die FDP oder die deutschen Grünen haben. Ihr Frau­en­ver­band ist die größte Frau­en­or­ga­ni­sa­tion des gesamten Landes. Entspre­chend hat sie auch den größten weib­li­chen Anteil an Mandats­trä­gern aller Parteien. Ihr Jugend­ver­band veran­staltet große Sommer­camps, die sehr an Pfad­fin­der­lager erinnern. Und durch den Verkauf eines Verlages ist sie stein­reich. Ihr Rein­ver­mögen beträgt etwa eine Vier­tel­mil­li­arde Euro.  

Funk­tio­näre mit Erde unter den Fingernägeln

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Das Phänomen Center­par­tiet lässt sich nicht verstehen, ohne es ins Verhältnis zur schwe­di­schen Topo­gra­phie und Geschichte zu setzen. Im riesigen und dünn besie­delten Schweden fürchtete der ländliche Raum immer schon, übersehen und überhört zu werden. Die soziale Frage war stets auch eine regionale Frage. Die eine Million schwe­di­scher Bürger, die um die vorletzte Jahr­hun­dert­wende in die USA auswan­derten, kamen aus der hungernden Land­be­völ­ke­rung. Das ländliche Schweden hat lange Erfahrung damit, das soziale Mitein­ander auch dort zu orga­ni­sieren, wo nur wenige Bürger leben. Oft geschieht es ehren­amt­lich. Schweden ist ein Land der Bücher­busse, Laien­spiel­truppen, Volks­hoch­schulen und Folk-Musik­gruppen. Genau in diesem Milieu ist die Center­par­tiet verwurzelt.

Über viele Jahr­zehnte ließen sich ihre Vertreter im Reichstag leicht von den anderen unter­scheiden. Die Center-Funk­tio­näre waren die mit der Erde unter den Finger­nä­geln. So wie ihr lang­jäh­riger Vorsit­zender Thorbjörn Fälldin, Landwirt aus dem zentral­schwe­di­schen Ånger­man­land. Inter­views gab der hoch­ge­wach­sene Fälldin gerne auf seinen weiten Feldern, das Jagd­messer am Gürtel, die Hände in den Taschen, die Pfeife im Mund. Er wirkte gele­gent­lich etwas schwer­fällig und politisch ungelenk. Doch er hatte eine moderne Vision für seine Partei. Vor den meisten anderen erkannte er in den späten 60er Jahren die zuneh­mende Bedeutung der ökolo­gi­schen Frage und den tief­grei­fenden gesell­schaft­li­chen Wandel, der mit der Land­flucht der Jungen und dem Wachstum der Städte einher­ging. Wenn die „Grüne Welle“ der 70er Jahre in den meisten euro­päi­schen Ländern vor allem von linken Kräften ausging, so wurde sie in Schweden aus dem ländlich-bürger­li­chen Milieu voran­ge­trieben – von der Center­par­tiet. Fälldin brachte seine Partei schon zu Beginn der 70er auf einen strammen Anti-Atomkraft-Kurs, der über Jahr­zehnte ihr Marken­zei­chen blieb.

Sein poli­ti­scher Traum war eine große Samm­lungs­partei der liberalen Mitte. Mit einer Mischung aus Umwelt­schutz, wirt­schafts­li­be­ralen Reformen, Steu­er­sen­kungen und poli­ti­scher Dezen­tra­lität brachte er seine Partei in den 70er Jahren zu großen Wahl­er­folgen. Mit Wahl­er­geb­nissen bis zu 25 Prozent setzte er sich an die Spitze des bürger­li­chen Lagers und wurde zum wich­tigsten Wider­sa­cher Olof Palmes. Der groß­bür­ger­liche Sozialist Palme begegnete Fälldin gerne mit leisem Spott – bis er von ihm aus dem Amt gedrängt wurde. Bis heute ist Thorbjörn Fälldin der einzige Minis­ter­prä­si­dent, den die Center­par­tiet je stellte. Er stand mehreren bürger­li­chen Mehrheits- und Minder­heits­ka­bi­netten vor, die sich aller­dings immer wieder heillos an der Atom­kraft­frage zerstritten.

Der schlei­chende Nieder­gang der alten Centerpartiet

In den 80er und 90er Jahren begann der Abstieg der Partei. Das bürger­liche Regie­rungs­bündnis wurde von den Sozi­al­de­mo­kraten abgelöst, die Center­par­tiet drängte Fälldin aus dem Amt und verlor danach in rascher Abfolge immer neue Partei­vor­sit­zende und immer mehr Wähler­stimmen. Sie wirkte mitunter wie eine ländliche Folk­lo­re­truppe, der die poli­ti­sche Botschaft abhan­den­ge­kommen war. 2001 trat schließ­lich Maud Olofsson an die Spitze der Center­par­tiet. Die Land­wirts­tochter aus einer tradi­tio­nellen Center-Familie bürstete ihre Partei auf einen stramm wirt­schafts­li­be­ralen Kurs. Ihr entschei­dendes Projekt war, die vier bürger­li­chen Parteien in einem festen neuen Wahl­bündnis zu einen – der soge­nannten „Allians för Sverige“. 2006 gelang diesem Vierer­bund der Sprung an die Macht. Die Center­par­tiet stellte mit Maud Olofsson die Wirt­schafts­mi­nis­terin. Und die profi­lierte sich als eine Art markt­li­be­rale Gouver­nante der Nation. Dem gemein­samen Erfolg opferte sie auch tradi­tio­nelle Kern­themen der Center­par­tiet. Auf Betreiben Olofssons weichte die Partei schließ­lich sogar ihre Anti-Atomkraft-Position auf.

Dieser Kurs über­zeugte aller­dings immer weniger Wähler. Als Maud Olofsson 2011 nach zehn Jahren den Vorsitz abgab, hinter­ließ sie ihrem Nach­folger kein einfaches Erbe. Die Partei wählte unter vier Bewerbern die erst 28jährige Annie Lööf in einer Urwahl zur Vorsit­zenden. Die Muster­schü­lerin Annie Lööf war mit 22 jüngste Parla­ments­ab­ge­ord­nete geworden und hatte sich als Innen- und Rechts­expertin einen Namen gemacht. Auch sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes Stall­ge­ruch, stammte sie doch aus einer alten Bauern­fa­milie und hatte einen Center-Funk­tionär zum Vater. Nun wurde sie die jüngste Partei­vor­sit­zende und jüngste Minis­terin in der Geschichte der Center­par­tiet. Sie übernahm eine Partei, die laut Umfragen von den Wählern die geringste Glaub­wür­dig­keit von allen beschei­nigt bekam. Sieben Jahre später hat sie nun die höchste Glaub­wür­dig­keit von allen. Eine erstaun­liche Leistung. 

Portrait von Sebastian Schaffer

Sebastian Schaffer ist Poli­tik­wis­sen­schaftler und stell­ver­tre­tender Sprecher des Hamburger Senats 

Portrait von Sandra Detzer

Sandra Detzer ist Landes­vor­sit­zende von Bündnis 90/​Die Grünen in Baden-Würt­tem­berg und Stadt­rätin in Heidelberg

Die schwere Geburt des neuen Grundsatzprogramms

Dabei stand Annie Lööf zunächst für keinen klaren poli­ti­schen Kurs­wechsel. Als ihre Lieb­lings­au­torin nannte sie die radi­kal­ka­pi­ta­lis­ti­sche Philo­so­phie-Sirene Ayn Rand, als ihr poli­ti­sches Vorbild Margaret Thatcher. Aller­dings stand Lööf für einen poli­ti­schen Gene­ra­tionen- und Stil­wechsel. Unter der neuen Vorsit­zenden machte sich die verun­si­cherte Partei auf den Weg zu einem neuen Grund­satz­pro­gramm. Eine vom Partei­vor­stand unab­hän­gige Grund­satz­kom­mis­sion sollte in einem breiten Betei­li­gungs­pro­zess Ideen und Vorschläge von Mitglie­dern und Sympa­thi­santen einsam­meln. Das Verfahren ging furchtbar schief. Denn tonan­ge­bend wurde eine einfluss­reiche Gruppe von neoli­be­ralen Intel­lek­tu­ellen aus Wirt­schaft, Kultur und Politik, die sich selbst den Namen „Sture­plan­cen­tern“ gab, benannt nach einem großen Platz in der schwe­di­schen Haupt­stadt Stockholm. Sie machte sich zum Ziel, die Center­par­tiet zur „libe­ralsten Partei Schwedens“ zu formen. Das Papier, das die Grund­satz­kom­mis­sion im Januar 2013 vorlegte, war tief davon geprägt. Der Entwurf sah die Aufhebung der Schul­pflicht ebenso vor wie die Abschaf­fung jeglicher Einwan­de­rungs­be­schrän­kung und die Einfüh­rung der Mehr­per­sonen-Ehe. Das Wahlvolk schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Lööf, die zu jener Zeit in Thailand in den verspä­teten Flit­ter­wo­chen war, verfolgte die öffent­liche Debatte mit Entsetzen über ihr Smart­phone am Strand. Sie brach ihren Urlaub ab und flog zurück nach Stockholm. In einer Pres­se­kon­fe­renz räumte sie die kruden Vorschläge ab und kündigte eine gründ­liche Über­ar­bei­tung an. Die Winter­wo­chen des Jahres 2013 wurden damit zur öffent­li­chen Geburts­stunde der resoluten Krisen­ma­na­gerin Annie Lööf. Während sie in den Talkshows der Nation die poli­ti­schen Scherben zusam­men­kehrte, schrieb ihr enger Vertrauter Martin Ådahl den Programm­ent­wurf um. Der stell­ver­tre­tende Gene­ral­se­kretär Ådahl glaubt bis heute, dass gerade jene Krisen­wo­chen den program­ma­ti­schen Neustart für die Center­par­tiet ermög­lichten. „Die Kontro­verse führte zu einer breiten poli­ti­schen Seelen­suche in der gesamten Partei, aus der sich dann das Konzept eines grünen Libe­ra­lismus heraus­kris­tal­li­sierte. Ich fuhr kreuz und quer durch Schweden, um die gesamte Partei dahinter zu einen, und es funk­tio­nierte. Wir setzten uns vertieft mit schwie­rigen Fragen wie Grenzen, Migration und gesell­schaft­li­cher Offenheit ausein­ander. Die Schluss­fol­ge­rungen, die wir zogen, stärkten uns. Sie führten zum Beispiel dazu, dass wir 2015 auf dem Höhepunkt der Flücht­lings­krise nicht ins Wanken kamen, sondern bis in die letzte lokale Einheit eine klare Linie vertraten.“

Wenige Wochen später auf dem Parteitag lag dann unter dem Titel „Eine nach­hal­tige Zukunft“ ein Grund­satz­pro­gramm vor, das bis heute über Schweden hinaus Beachtung verdient. Denn es ist der ernst­hafte und seltene Versuch, Libe­ra­lismus und Nach­hal­tig­keit in einem gemein­samen Partei­pro­gramm zu verbinden. In der Präambel heißt es: „Der Libe­ra­lismus der Center­par­tiet ist sozial, dezentral und grün. Er ist erdver­bunden und frei­heit­lich. Er gründet auf Gerech­tig­keit und Nach­hal­tig­keit. Er betrachtet die Gesell­schaft als eine Gemein­schaft, in der jeder gebraucht wird und die viel mehr umfasst als nur den Staat.“

„Für uns ist die Nach­hal­tig­keit eine Freiheitsfrage“

Center­par­tiet (official) [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/] via Flickr

In ihrer Einbrin­gungs­rede zog Annie Lööf die langen Tradi­ti­ons­li­nien der 100 Jahre alten Partei nach. Vom Protest der schwe­di­schen Bauern gegen Verstaat­li­chung und Monopole bis zur bürger­li­chen Land­frau­en­be­we­gung mit ihren entschei­denden Impulsen für die Gleich­be­rech­ti­gung; vom Kampf für die Schul­pflicht der Land­be­völ­ke­rung bis zum ersten ganz­heit­li­chen Umwelt­pro­gramm der schwe­di­schen Politik in den 60er Jahren. Lööf beschwor die zutiefst proeu­ro­päi­sche und einwan­de­rungs­freund­liche Grund­hal­tung ihrer Partei und verband all dies zu ihrem Verständnis eines modernen ökolo­gi­schen Libe­ra­lismus. Sie markierte zwei Ziele, die für die Politik der Center­par­tiet im Mittel­punkt stehen sollten. Das erste Ziel waren neue Jobs und damit verbunden die Arbeits­markt­in­te­gra­tion von Einwan­de­rern, Jugend­li­chen und Lang­zeit­ar­beits­losen. Das zweite Ziel waren Klima­schutz und Nach­hal­tig­keit durch tech­ni­sche Inno­va­tion und markt­wirt­schaft­liche Anreize. Zudem galt es, Unter­neh­mens­grün­dungen zu fördern und gute Rahmen­be­din­gungen für bestehende Firmen zu schaffen. Poli­ti­sches Handeln musste aus ihrer Sicht stets Stadt und Land glei­cher­maßen in den Blick nehmen.

Auf dieser Grundlage gelang es Lööf, ein spezi­fi­sches poli­ti­sches Profil zu beschreiben. Sie erfand nichts grund­le­gend Neues, aber sie setzte bestehende liberale und grüne Poli­tik­an­sätze in eine neue Verbin­dung zuein­ander. Sie adres­sierte die gleichen Themen wie Sozi­al­de­mo­kraten und Grüne, verknüpfte sie aber mit klas­si­schen markt­li­be­ralen Forde­rungen. So sprach sie zum Beispiel von einem „inklu­siven Arbeits­markt“, aber sie meinte damit auch die Lockerung des rigiden Kündi­gungs­schutzes, die Senkung der Arbeit­ge­ber­bei­träge zum Kran­ken­geld und eine nied­ri­gere Unternehmensbesteuerung.

Zentral für ihre Über­le­gungen war immer wieder der Begriff „grünes Wachstum“. Lööf beschrieb ihren Besuch in einem Slum in Delhi und ihre Gespräche mit Frauen, die mit ihren Kindern in Papp­kar­tons lebten und nicht wussten, was sie ihnen zu essen geben sollten. Wo mehr als eine Milliarde Menschen in Armut lebten, könne man niemals Ökologie und Wachstum gegen­ein­ander stellen, folgerte sie. Die zentrale Heraus­for­de­rung bestünde darin, Wachstum durch Ökologie zu schaffen. Ein solches grünes Wachstum setze auf die Förderung des freien Unter­neh­mer­tums, damit Menschen sich aus der Armut heraus selbst ein Leben aufbauen könnten. Und zugleich brauche es das freie Unter­neh­mertum, um grüne Tech­no­lo­gien zu entwi­ckeln, mit denen die Folgen von Umwelt­ver­schmut­zung und Klima­wandel bekämpft werden könnten. „Für uns ist die Nach­hal­tig­keit eine Frei­heits­frage“, erklärte sie. „Eine wachs­tums­feind­liche Politik ist keine Umwelt­po­litik, die diesen Namen verdient.“

Sichtbar machen lässt sich die höchst unge­wöhn­liche program­ma­ti­sche Erneue­rung der Center­par­tiet mit einer Methode der Partei­en­for­schung, die in Schweden gebräuch­lich ist. Die von einer Gruppe euro­päi­scher Poli­tik­wis­sen­schaftler entwi­ckelte GAL/TAN-Skala fügt der klas­si­schen fiskal- und wirt­schafts­po­li­tisch geprägten Links-Rechts-Achse eine zweite Dimension hinzu: TAN steht hier für „tradi­tio­nell, autoritär und natio­na­lis­tisch“, GAL für „grün, alter­nativ und libertär“. Für die Center­par­tiet zeigt diese Methode einen erstaun­li­chen Befund. Denn mit ihrer Vorliebe für einen schlanken Staat und ihrer Skepsis gegenüber sozialer Umver­tei­lung blieb die Partei auch unter Lööf klar eine Kraft der rechten Mitte. Auf der GAL-TAN-Skala, die Werte­fragen wie die Ökologie, Einwan­de­rung und kultu­relle Vielfalt abbildet, hat die Partei hingegen einen atem­be­rau­benden Wandel vollzogen. Es ist fast so, als müssten sich Margaret Thatcher und Claudia Roth auf eine gemein­same Partei einigen. Thatcher darf die Wirt­schafts­po­litik bestimmen, Roth die Gesell­schafts­po­litik – und beides muss zuein­ander passen.

Emil Källström: „Den Grünen sind wir nicht grün genug, den Liberalen nicht liberal genug“

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Im schwe­di­schen Reichstag sind wir mit dem Abge­ord­neten Emil Källström verab­redet. Der 31jährige Källström ist ein klas­si­sches Beispiel für die nahezu dynas­tisch anmutende Führungs­schicht seiner Partei. Natürlich kommt auch Källström aus einer Bauern­fa­milie. Er ist tief verankert im Schweden der roten Holz­häuser, Gummi­stiefel und Motor­sägen. Ande­rer­seits passt er genauso gut in ein hippes Stock­holmer Szenecafé oder auf ein H&M‑Werbeplakat.

Als wirt­schafts­po­li­ti­scher Sprecher seiner Fraktion orga­ni­siert Källström die Haupt­kampf­linie der Partei gegen die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Minder­heits­re­gie­rung. Er setzt sich für mehr Wahl­frei­heit im Gesund­heits- und Pfle­ge­system ein. Ein größerer Nied­rig­lohn­sektor ist ihm lieber als eine fünfmal so hohe Arbeits­lo­sig­keit von Einwan­de­rern. Das Feld der Wirt­schafts­po­litik bleibt für die Center­par­tiet das wich­tigste. Hier hat sie neben der Umwelt­po­litik die höchsten Kompe­tenz­werte. Schwedens Unter­nehmer halten sie gar für die sach­kun­digste aller Parteien. Und Källström will dafür sorgen, dass es so bleibt.

Wir fragen ihn, wie es der Center­par­tiet gelungen sei, sich aus der Krise heraus­zu­ar­beiten. Er erklärt, man habe zunächst die Kern­kom­pe­tenzen gefestigt. Die Center­par­tiet musste wieder als eine starke Stimme für den länd­li­chen Raum wahr­ge­nommen werden. Dass man überall im Land ein gutes Leben führen könne mit einer ordent­li­chen Verkehrs­an­bin­dung, einer guten Gesund­heits­ver­sor­gung und der Möglich­keit, unter­neh­me­risch tätig zu sein – das sei das zentrale Motiv für die ländliche Kern­wäh­ler­schaft. Aber das stra­te­gi­sche Ziel sei auch gewesen, von diesen Kern­kom­pe­tenzen auszu­greifen. Es gebe zum Beispiel in den letzten Jahren wohl keine einzige Rede von Annie Lööf, in der die Stärkung des Unter­neh­mer­tums keine Rolle gespielt hätte, meint er. Aber die Förderung von Exis­tenz­grün­dungen und kleinen Unter­nehmen würde eben in Beziehung gesetzt zu wichtigen gesell­schafts­po­li­ti­schen Ziel­set­zungen wie der Inte­gra­tion oder der Umwelt­po­litik. Nur Unter­nehmer schaffen Arbeits­plätze für Einwan­derer. Nur Unter­nehmer machen umwelt­freund­liche Tech­no­lo­gien für Mobilität oder Ener­gie­er­zeu­gung marktfähig.

Als wir ihm erklären, dass seine Partei für Deutsche nur schwer zu verstehen sei, schmun­zelt er und erklärt: Das sei in Schweden für viele nicht anders. Auch hier sei die Center­par­tiet für manche ein Enigma: „Für die Grünen sind wir keine richtigen Grünen. Für die Liberalen sind wir keine richtigen Liberalen.“ Es habe durchaus Momente gegeben, in denen er am Überleben seiner Partei gezwei­felt habe, räumt er ein. Damals in der tiefen Krise. Da habe er sich gefragt, ob es viel­leicht einfach keinen Platz mehr gebe für eine Partei, die liberal und ökolo­gisch zugleich sein wolle. Viel­leicht müsste jemand, der grün denke, einfach zu den Grünen. Und jemand, der liberal denke, zu den Liberalen. Aber, so Källström: „Ich wollte mich nicht entscheiden. Ich bin ein Liberaler. Im Zweifel bin ich für mehr Wahl­frei­heit statt für weniger. Im Zweifel bin ich für nied­ri­gere Steuern statt für höhere. Und wenn man aus ökolo­gi­schen Gründen die Verbrauchs­steuern erhöht, finde ich das prin­zi­piell richtig, stelle aber als erstes die Anschluss­frage: An welcher Stelle findet im Gegenzug die Entlas­tung der Bürger statt? Genauso überzeugt bin ich von der Idee der Nach­hal­tig­keit. Es gibt keine Freiheit, wenn wir den Klima­wandel nicht in den Griff bekommen und unsere natür­li­chen Lebens­grund­lagen zerstören. Es gehört einfach beides zusammen.“ Natürlich sei es in der Praxis nicht einfach, beides immer zusam­men­zu­bringen, sagt er. Es sei jeden Tag eine neue Abwägung. Aber das sei ja genau das Wichtige an der Center­par­tiet: Dass sie sich dieser Abwägung stelle. Anders als die Liberalen. Anders als die Grünen.

„Im zweiten Teil unseres poli­ti­schen Reise­be­richts beschäf­tigen wir uns näher mit dem Verhältnis von Center­par­tiet und schwe­di­schen Grünen. Worin sind sie sich einig, wo liegen die Unter­schiede? Vom länd­li­chen Raum bis zur Arbeits­markt­in­te­gra­tion wollen wir den poli­ti­schen Kern der Center­par­tiet besser verstehen. Und wir besuchen die Wahl­kampf­zen­trale in Stockholm, um zu ergründen, wieso eine Bauern­partei ausge­rechnet in der Metropole ihr Comeback feiert.“ 

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