Afgha­ni­stan: So musste es nicht kommen

Denk ich an Afgha­ni­stan in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.
Zwischenruf zu einem huma­ni­tären und poli­ti­schen Super-GAU.

Foto: Shut­ter­stock, zef art

 

Wir sehen in Kabul einen Kollaps mit Ansage. Die afgha­ni­sche Armee und Regierung waren weder Willens noch fähig, den Taliban entschie­denen Wider­stand entge­gen­zu­setzen. Über­ra­schend kommt das nicht. Wäre die Situation in fünf oder zehn Jahren grund­le­gend anders? Eine hypo­the­ti­sche Frage. Der Westen zieht sich Hals über Kopf aus Afgha­ni­stan zurück; die Taliban hatten den längeren Atem.

Einiges war gut in Afghanistan

Jetzt behaupten viele Stimmen, der Afgha­ni­stan-Einsatz sei von Anfang an verfehlt gewesen und habe nichts Positives bewirkt. Das ist billige Recht­ha­berei und verleugnet die realen Forst­schritte der letzten 20 Jahre. Nicht nur dass die Stütz­punkte von Al Khaida zerschlagen wurden, von denen aus Terror­an­schläge gegen den Westen und seine Verbün­deten geplant wurden. Für Frauen und Mädchen war die mili­tä­ri­sche Präsenz der inter­na­tio­nalen Gemein­schaft in Afgha­ni­stan ein Segen. Sie gingen zur Schule, konnten studieren, stellten Minis­te­rinnen. Die Regierung ging aus halbwegs demo­kra­ti­schen Wahlen hervor, es gab zumindest Ansätze eines Rechts­staats und einer plura­lis­ti­schen Öffent­lich­keit. Dass Korrup­tion und Drogen­ge­schäft nicht nach­haltig einge­dämmt werden konnten, ist keine afgha­ni­sche Besonderheit.

Vergli­chen mit dem Ausgangs­punkt der west­li­chen Inter­ven­tion und mit benach­barten Staaten in Zentral­asien war Afgha­ni­stan auf keinem schlechten Weg. All diese Errun­gen­schaften sind nun mit einem Schlag bedroht. Weshalb werden diese teuer bezahlten Fort­schritte über Bord geworfen? Es fehlt dem Westen an stra­te­gi­scher Geduld. Die mili­tä­ri­schen Opfer und finan­zi­ellen Kosten schienen zu hoch, die Aussichten auf einen trag­fä­higen Staats­aufbau illu­so­risch. Liberale Demo­kra­tien tun sich schwer damit, mili­tä­ri­sche Missionen über einen langen Zeitraum fort­zu­setzen und Rück­schläge in Kauf zu nehmen.

Taliban bewiesen: Es gibt eine mili­tä­ri­sche Lösung

„Mit Blick auf die Zukunft setzen wir darauf, dass die Taliban verstanden haben, dass die Konflikte in Afgha­ni­stan politisch gelöst werden müssen und es nie eine mili­tä­ri­sche Lösung geben wird.“ So Außen­mi­nister Heiko Maas anläss­lich seiner Reise nach Kabul Ende April 2021. „Es gibt keine mili­tä­ri­sche Lösung“ gehört zu den Glau­bens­sätzen der deutschen Politik. Dummer­weise halten sich die Taliban nicht an diese Maxime. Und nicht nur sie. Wer glaubt, auf mili­tä­ri­sche Macht­mittel verzichten zu können, überlässt die Welt den Skrupellosen.

Wenn man anfängt, seine Wunsch­vor­stel­lungen zu glauben, wird es gefähr­lich. Die Afghanen zahlen jetzt den Preis für die Reali­täts­flucht derje­nigen, die von einer „poli­ti­schen Lösung“ mit den Taliban träumten, weil sie einen unbe­quemen, kost­spie­ligen Konflikt loswerden wollten. Dieser Tage folgte dann die selbst­kri­ti­sche Erklärung: „Die Entwick­lungen der letzten Tage sind bitter und werden lang­fris­tige Folgen für die Region und für uns haben. Es gibt nichts zu beschö­nigen: Wir alle – die Bundes­re­gie­rung, die Nach­rich­ten­dienste und die inter­na­tio­nale Gemein­schaft – haben die Lage falsch einge­schätzt.“ Bleibt die Frage: Wie war eine so krasse Fehl­ein­schät­zung möglich? Wunsch­denken prägt ja nicht nur die deutsche Afghanistan-Politik.

USA öffnen Macht­va­kuum für China und Russland

Die afgha­ni­sche Tragödie hat viele Mitver­ant­wort­liche, nicht zuletzt die einhei­mi­schen Pseudo-Eliten. Aber dieses stra­te­gi­sche Desaster bleibt an Biden haften. Nicht zuletzt ist es ein Rohr­kre­pierer für seine China-Strategie. In einer Welt riva­li­sie­render Mächte gibt es kein Macht­va­kuum. Die Räume, die der Westen preisgibt, werden von China, Russland, dem Iran und anderen auto­ri­tären Gegen­spie­lern besetzt.

Es wäre im ureigenen ameri­ka­ni­schen Interesse, den Ruf als Weltmacht zu kulti­vieren, die sich an ihre Verpflich­tungen hält und um ihre Alli­ierten kümmert. Dieser Ruf hat massiven Schaden genommen. Das wird Auswir­kungen weit über Zentral­asien hinaus haben. Insbe­son­dere Länder mit prekärer Sicher­heits­lage werden sich zehnmal überlegen, ob und wie weit sie sich (noch) auf Amerika verlassen können.

Lange Nach­wir­kungen für USA und westliche Verbündete

Kalte Ratio­na­lität mag für ein Ende des Afgha­ni­stan-Enga­ge­ments der USA und ihrer euro­päi­schen Alli­ierten sprechen. Aber der huma­ni­täre und poli­ti­sche Preis des bedin­gungs­losen Abzugs ist hoch. Das afgha­ni­sche Desaster wird noch lange nachwirken.

Die Europäer sind wieder einmal kein ernst­hafter Faktor. Sie hatten der einsei­tigen Entschei­dung des US-Präsi­denten nichts entge­gen­zu­setzen. Die EU-Spitzen haben tagelang keine Sprache zu den Ereig­nissen gefunden. So viel zur „Stra­te­gi­schen Autonomie Europas“.

Kurz­fristig geht es jetzt darum, möglichst viele Menschen zu retten und ihnen die Ausreise in den Westen zu ermög­li­chen. Das gilt insbe­son­dere für dieje­nigen, die sich über die letzten 20 Jahre Seite an Seite mit der inter­na­tio­nalen Gemein­schaft für ein anderes, besseres Afgha­ni­stan engagiert haben. Sie im Stich zu lassen wäre eine ulti­ma­tive poli­ti­sche und mora­li­sche Bankrotterklärung.

Aufar­bei­tung nötig

Es springt aller­dings zu kurz, auf den huma­ni­tären Verpflich­tungen der Bundes­re­pu­blik und ihrer Verbün­deten zu beharren. Das afgha­ni­sche Debakel muss dringend aufge­ar­beitet werden. Es wäre fatal, wenn mit dem über­stürzten Rückzug aus Afgha­ni­stan auch die „Respon­si­bi­lity to Protect“ über Bord geworfen würde. Nicht zuletzt geht es auch um die Einsatz­fä­hig­keit der Bundes­wehr in Krisensituationen.

Wem es ernst ist mit Menschen­rechten und Völker­recht, der (oder die) kann nicht prin­zi­piell jede Form huma­ni­tärer Inter­ven­tionen und out-of-area-Einsätzen verwerfen. Was ernsthaft disku­tiert werden muss, sind die Erfolgs­be­din­gungen solcher Einsätze. Die berühmte Maxime des Jako­bi­ners Saint Just: „Wer die Revo­lu­tion nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“ gilt im über­tra­genen Sinn auch für mili­tä­ri­sche Inter­ven­tionen. Mili­tä­ri­sche Zurück­hal­tung ist geboten – aber wenn es denn sein muss, dann mit aller Konse­quenz und mit langem Atem.

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