Der Westen sollte sich nicht auf Putins Pokerspiel einlassen
Putin bricht eine militärische Krise vom Zaun und bietet dem Westen an, sie zu seinen Bedingungen zu lösen. Seine Forderungen gehen über die „Neutralisierung“ der Ukraine hinaus: Es geht um ein Ende der europäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs. Der Kreml will nicht mehr an die Zusagen und Normen der Vergangenheit gebunden sein.
Der Kreml bricht eine Krise vom Zaun – und bietet uns an, sie zu lösen, wenn wir seine Forderungen akzeptieren. Wir sollten uns nicht hinters Licht führen lassen.
US-Geheimdienstberichte deuten darauf hin, dass Russland einen baldigen Angriff auf die Ukraine plant und 175.000 Soldaten an der Nord- und Ostgrenze des Landes zusammengezogen hat. Flankierend fährt Wladimir Putin bereits ein Artilleriefeuer aus irreführenden Behauptungen über die angebliche Bedrohung seines Landes durch die NATO auf, begleitet von steilen Forderungen zur Deeskalation der Krise. Wie ein Mafiaboss schafft er ein Problem und bietet dann an, es zu lösen – zu einem von ihm festgesetzten Preis.
Ein Ergebnis ist der telefonische Notgipfel mit Präsident Biden, der dem russischen Staatschef das internationale Prestige verschafft, nach dem er sich sehnt. Noch bevor ein Schuss fällt, bestimmt Russland den Streit und sein Ergebnis. Auf der ausdrücklichen Wunschliste stehen ein offizielles Ende der NATO-Erweiterung, eine Begrenzung der militärischen Präsenz an den Grenzen des Landes und die faktische Zerstückelung der Ukraine. Doch der eigentliche Gewinn ist viel größer: ein Ende der Sicherheitsordnung in Europa nach 1991. Russland will nicht mehr an die Versprechen und Normen der Vergangenheit gebunden sein. Willkommen in einer neuen Welt, in der das Recht durch Macht ersetzt wird.
Die Ukraine ist das unmittelbare Ziel, weil sie eine Bedrohung für Putin darstellt: nicht militärisch, sondern politisch. Wenn das andere große, mehrheitlich orthodoxe Land der ehemaligen Sowjetunion in Freiheit gedeihen kann, warum müssen die Russen dann die korrupte, aufgeblasene, repressive und stagnierende Herrschaft von Wladimir Putin ertragen? Russische Propagandisten stellen die Ukraine als einen scheiternden Staat und ein faschistisches Höllenloch dar, weil ihr Erfolg als multiethnische, mehrsprachige Mehrparteiendemokratie (mit einem Präsidenten, der übrigens sowohl Jude als auch russischer Muttersprachler ist) unerträglich ist. Putin bezeichnete sie im Mai als „antirussisch“. Im Juli veröffentlichte er einen weitschweifigen, obsessiven Essay, in dem er darauf bestand, dass Ukrainer und Russen „ein Volk“ seien. Die Trennung ihrer Sprache, Kultur und Identität ist angeblich künstlich: das Ergebnis einer Einmischung von außen. Ukrainer, die anders denken, machten sich etwas vor.
Putin mag seine eigene Propaganda glauben. Wir sollten darüber empört sein. Die Ukraine ist ein eigenständiges Land. Russland garantierte 1994 seine territoriale Integrität (als Gegenleistung dafür, dass die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal aus der Sowjetzeit aufgab). Diese Vereinbarung, das Budapester Memorandum, war an keinerlei Bedingungen geknüpft. Es enthielt keine Fußnoten, die besagten, „es sei denn, Ihre Regierung gefällt uns nicht“. Die vierzig Millionen Menschen in der Ukraine sollten nicht wie ein Teil des Schachbretts eines anderen behandelt werden. Sie haben echte Hoffnungen – und echte Leiden, im Gegensatz zu Putins erfundenen. 14.000 Menschen sind in einem Krieg gestorben, den Russland begonnen hat.
Putin wird mit der Ukraine nicht aufhören. Wenn er uns erst dazu gebracht hat, Russlands paranoide Weltsicht zu akzeptieren, kann er sich mit anderen Störfaktoren befassen. Er kann eine weitere Entmilitarisierung in den Nachbarländern fordern: ein Ende aller Militärübungen vielleicht oder den Abzug der Nato-Stolperdraht-Truppen in Polen und den baltischen Staaten. Langfristige Energieabkommen würden seine Rolle beim Export von Gas nach Europa festigen. Wenn die Nato und die EU unwirksam gemacht werden, kann Russland seine Präsenz im Schwarzen Meer weiter ausbauen und seinen Einfluss im ehemaligen Jugoslawien weiter verstärken.
Andere Länder sehen diese Gefahr deutlich. Am Donnerstag lobte der finnische Präsident Sauli Niinistö die Nato nachdrücklich als stabilisierende Kraft in Europa und betonte, dass die Entscheidung über die künftige Mitgliedschaft seines Landes Russland nichts angehe. Obwohl Finnland nominell außerhalb des Bündnisses steht, ist es ihm bereits viel näher als einige der bestehenden, aber zögerlichen Mitglieder.
Die Sorgen Finnlands und seine inzwischen sprunghaft angestiegenen Verteidigungsausgaben unterstreichen die zentrale Schwachstelle in Putins antiwestlicher Tirade. Die Nato hat sich nicht aufgrund eines geheimen Plans zur Einkreisung oder Demütigung Russlands erweitert. Es war genau andersherum. Russlands anhaltende Schikanen gegenüber seinen Nachbarn schürten deren Wunsch, dem Bündnis beizutreten. Schweden, das seine Verteidigungsanlagen in den 1990er Jahren abgebaut hat, erhöht ebenfalls seine Verteidigungsausgaben und stärkt seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Großbritannien, weil es von Russland ständig bedroht wird.
Russland hat auch Veränderungen in der Nato erzwungen. Als das Bündnis zum ersten Mal Mitglieder aus dem ehemaligen Warschauer Pakt aufnahm, tat es dies in Absprache mit Russland und bot dem Kreml eine großzügige Beteiligung an seinen Entscheidungen an. Sie unterzeichnete 1997 die Nato-Russland-Grundakte und richtete 2002 gemeinsam den Nato-Russland-Rat ein. Tatsächlich war das Bündnis so sehr darauf bedacht, Russland zu besänftigen, dass es keine Übungen in den neuen Mitgliedstaaten abhielt, keine externen Truppen dort stationierte und Russland ausdrücklich von seiner Bedrohungsbewertung ausschloss, so dass es nicht einmal grobe Notfallpläne für die Reaktion auf einen russischen Angriff gab.
Erst im Jahr 2010 änderte die Nato mit Verspätung ihr strategisches Konzept, um die Verteidigung ihrer östlichen Mitglieder einzubeziehen. Dies geschah nach einem Cyberangriff auf Estland im Jahr 2007, dem Krieg in Georgien 2008 und einer bedrohlichen Militärübung im Jahr 2009, bei der Russland einen Angriff auf die baltischen Staaten und einen Atomschlag auf Warschau probte.
Selbst damals stand die Reaktion der Nato hauptsächlich auf dem Papier. Erst der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 veranlasste die Nato schließlich zur Entsendung kleinerer Truppenkontingente in Estland (unter britischer Führung), Lettland, Litauen und Polen.
Ich habe die meiste Zeit dieses Jahres mit der Arbeit an einem Thinktank-Bericht über die regionale Sicherheit im Ostseeraum verbracht. Das Bild ist entmutigend – für uns. Die Nato-Truppen sind zahlenmäßig stark unterlegen. Sie haben keine Luftabwehr und keine Langstreckenwaffen. Uns fehlt eine maritime Strategie für die Region; die Kommandostruktur gleicht einem Teller Spaghetti. Die Verstärkung wird schwierig sein und beruht auf anspruchsvollen, bislang nicht erprobten Voraussetzungen. Es ist absurd, dass Russland diese mickrigen Streitkräfte als Bedrohung darstellt. Ebenso absurd ist die Vorstellung einer Einkreisung: nur ein Sechzehntel der russischen Landgrenze grenzt an Nato-Länder.
Wir sollten Putin deutlich sagen, dass seine Klagen und Anschuldigungen gegen den Westen aus der Luft gegriffen sind, statt uns darüber zu entzweien, wie wir ihn besänftigen können.
Der Text ist im englischen Original bei The Times erschienen.
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