Der Westen sollte sich nicht auf Putins Poker­spiel einlassen

Foto: Shutter­stock, Luca Perra

Putin bricht eine militä­rische Krise vom Zaun und bietet dem Westen an, sie zu seinen Bedin­gungen zu lösen. Seine Forde­rungen gehen über die „Neutra­li­sierung“ der Ukraine hinaus: Es geht um ein Ende der europäi­schen Sicher­heits­ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs. Der Kreml will nicht mehr an die Zusagen und Normen der Vergan­genheit gebunden sein.

Der Kreml bricht eine Krise vom Zaun – und bietet uns an, sie zu lösen, wenn wir seine Forde­rungen akzep­tieren. Wir sollten uns nicht hinters Licht führen lassen.

US-Geheim­dienst­be­richte deuten darauf hin, dass Russland einen baldigen Angriff auf die Ukraine plant und 175.000 Soldaten an der Nord- und Ostgrenze des Landes zusam­men­ge­zogen hat.  Flankierend fährt Wladimir Putin bereits ein Artil­le­rie­feuer aus irrefüh­renden Behaup­tungen über die angeb­liche Bedrohung seines Landes durch die NATO auf, begleitet von steilen Forde­rungen zur Deeska­lation der Krise. Wie ein Mafiaboss schafft er ein Problem und bietet dann an, es zu lösen – zu einem von ihm festge­setzten Preis.

Ein Ergebnis ist der telefo­nische Notgipfel mit Präsident Biden, der dem russi­schen Staatschef das inter­na­tionale Prestige verschafft, nach dem er sich sehnt. Noch bevor ein Schuss fällt, bestimmt Russland den Streit und sein Ergebnis. Auf der ausdrück­lichen Wunsch­liste stehen ein offizi­elles Ende der NATO-Erwei­terung, eine Begrenzung der militä­ri­schen Präsenz an den Grenzen des Landes und die faktische Zerstü­ckelung der Ukraine. Doch der eigent­liche Gewinn ist viel größer: ein Ende der Sicher­heits­ordnung in Europa nach 1991. Russland will nicht mehr an die Versprechen und Normen der Vergan­genheit gebunden sein. Willkommen in einer neuen Welt, in der das Recht durch Macht ersetzt wird.

Die Ukraine ist das unmit­telbare Ziel, weil sie eine Bedrohung für Putin darstellt: nicht militä­risch, sondern politisch. Wenn das andere große, mehrheitlich orthodoxe Land der ehema­ligen Sowjet­union in Freiheit gedeihen kann, warum müssen die Russen dann die korrupte, aufge­blasene, repressive und stagnie­rende Herrschaft von Wladimir Putin ertragen? Russische Propa­gan­disten stellen die Ukraine als einen schei­ternden Staat und ein faschis­ti­sches Höllenloch dar, weil ihr Erfolg als multi­eth­nische, mehrspra­chige Mehrpar­tei­en­de­mo­kratie (mit einem Präsi­denten, der übrigens sowohl Jude als auch russi­scher Mutter­sprachler ist) unerträglich ist. Putin bezeichnete sie im Mai als „antirus­sisch“.  Im Juli veröf­fent­lichte er einen weitschwei­figen, obses­siven Essay, in dem er darauf bestand, dass Ukrainer und Russen „ein Volk“ seien. Die Trennung ihrer Sprache, Kultur und Identität ist angeblich künstlich: das Ergebnis einer Einmi­schung von außen. Ukrainer, die anders denken, machten sich etwas vor.

Putin mag seine eigene Propa­ganda glauben. Wir sollten darüber empört sein. Die Ukraine ist ein eigen­stän­diges Land. Russland garan­tierte 1994 seine terri­to­riale Integrität (als Gegen­leistung dafür, dass die Ukraine ihr Atomwaf­fen­ar­senal aus der Sowjetzeit aufgab). Diese Verein­barung, das Budapester Memorandum, war an keinerlei Bedin­gungen geknüpft. Es enthielt keine Fußnoten, die besagten, „es sei denn, Ihre Regierung gefällt uns nicht“.  Die vierzig Millionen Menschen in der Ukraine sollten nicht wie ein Teil des Schach­bretts eines anderen behandelt werden. Sie haben echte Hoffnungen – und echte Leiden, im Gegensatz zu Putins erfun­denen. 14.000 Menschen sind in einem Krieg gestorben, den Russland begonnen hat.

Putin wird mit der Ukraine nicht aufhören. Wenn er uns erst dazu gebracht hat, Russlands paranoide Weltsicht zu akzep­tieren, kann er sich mit anderen Störfak­toren befassen. Er kann eine weitere Entmi­li­ta­ri­sierung in den Nachbar­ländern fordern: ein Ende aller Militär­übungen vielleicht oder den Abzug der Nato-Stolper­draht-Truppen in Polen und den balti­schen Staaten. Langfristige Energie­ab­kommen würden seine Rolle beim Export von Gas nach Europa festigen. Wenn die Nato und die EU unwirksam gemacht werden, kann Russland seine Präsenz im Schwarzen Meer weiter ausbauen und seinen Einfluss im ehema­ligen Jugoslawien weiter verstärken.

Andere Länder sehen diese Gefahr deutlich. Am Donnerstag lobte der finnische Präsident Sauli Niinistö die Nato nachdrücklich als stabi­li­sie­rende Kraft in Europa und betonte, dass die Entscheidung über die künftige Mitglied­schaft seines Landes Russland nichts angehe. Obwohl Finnland nominell außerhalb des Bündnisses steht, ist es ihm bereits viel näher als einige der bestehenden, aber zöger­lichen Mitglieder.

Die Sorgen Finnlands und seine inzwi­schen sprunghaft angestie­genen Vertei­di­gungs­aus­gaben unter­streichen die zentrale Schwach­stelle in Putins antiwest­licher Tirade. Die Nato hat sich nicht aufgrund eines geheimen Plans zur Einkreisung oder Demütigung Russlands erweitert. Es war genau anders­herum. Russlands anhal­tende Schikanen gegenüber seinen Nachbarn schürten deren Wunsch, dem Bündnis beizu­treten. Schweden, das seine Vertei­di­gungs­an­lagen in den 1990er Jahren abgebaut hat, erhöht ebenfalls seine Vertei­di­gungs­aus­gaben und stärkt seine Bezie­hungen zu den Verei­nigten Staaten und zu Großbri­tannien, weil es von Russland ständig bedroht wird.

Russland hat auch Verän­de­rungen in der Nato erzwungen. Als das Bündnis zum ersten Mal Mitglieder aus dem ehema­ligen Warschauer Pakt aufnahm, tat es dies in Absprache mit Russland und bot dem Kreml eine großzügige Betei­ligung an seinen Entschei­dungen an. Sie unter­zeichnete 1997 die Nato-Russland-Grundakte und richtete 2002 gemeinsam den Nato-Russland-Rat ein. Tatsächlich war das Bündnis so sehr darauf bedacht, Russland zu besänf­tigen, dass es keine Übungen in den neuen Mitglied­staaten abhielt, keine externen Truppen dort statio­nierte und Russland ausdrücklich von seiner Bedro­hungs­be­wertung ausschloss, so dass es nicht einmal grobe Notfall­pläne für die Reaktion auf einen russi­schen Angriff gab.

Erst im Jahr 2010 änderte die Nato mit Verspätung ihr strate­gi­sches Konzept, um die Vertei­digung ihrer östlichen Mitglieder einzu­be­ziehen. Dies geschah nach einem Cyber­an­griff auf Estland im Jahr 2007, dem Krieg in Georgien 2008 und einer bedroh­lichen Militär­übung im Jahr 2009, bei der Russland einen Angriff auf die balti­schen Staaten und einen Atomschlag auf Warschau probte.

Selbst damals stand die Reaktion der Nato haupt­sächlich auf dem Papier. Erst der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 veran­lasste die Nato schließlich zur Entsendung kleinerer Truppen­kon­tin­gente in Estland (unter briti­scher Führung), Lettland, Litauen und Polen.

Ich habe die meiste Zeit dieses Jahres mit der Arbeit an einem Thinktank-Bericht über die regionale Sicherheit im Ostseeraum verbracht. Das Bild ist entmu­tigend – für uns. Die Nato-Truppen sind zahlen­mäßig stark unter­legen. Sie haben keine Luftabwehr und keine Langstre­cken­waffen. Uns fehlt eine maritime Strategie für die Region; die Komman­do­struktur gleicht einem Teller Spaghetti. Die Verstärkung wird schwierig sein und beruht auf anspruchs­vollen, bislang nicht erprobten Voraus­set­zungen. Es ist absurd, dass Russland diese mickrigen Streit­kräfte als Bedrohung darstellt. Ebenso absurd ist die Vorstellung einer Einkreisung: nur ein Sechzehntel der russi­schen Landgrenze grenzt an Nato-Länder.

Wir sollten Putin deutlich sagen, dass seine Klagen und Anschul­di­gungen gegen den Westen aus der Luft gegriffen sind, statt uns darüber zu entzweien, wie wir ihn besänf­tigen können.


Der Text ist im engli­schen Original bei The Times erschienen.

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