„Mitteleuropa“: Ein J’accuse gegen den Pessimismus
Während nationalistische Regierung den Rechtsstaat demontieren, feiert Erhard Busek unbeirrt das Europa der Freiheit: In einem neuen Buch fordert der ehemalige Vizekanzler von Österreich die mutige Erweiterung der EU nach Osten. Doch was noch vor wenigen Jahren zum europäischen common sense gehörte, wird heute mit betretenem Schweigen quittiert. „Mitteleuropa“ ist deshalb auch die Reflexion eines engagierten Europäers, warum er und seine Mitstreiter in die Rolle von politischen Träumern geraten sind.
Als in den 80er Jahren die imperiale Macht der Moskauer Kommunisten schwand, ergaben sich in vielen Satellitenstaaten der Sowjets in Europa bescheidene Spielräume für eine intellektuelle Opposition, in Polen sogar verbunden mit einer revolutionären, antikommunistischen Arbeiterbewegung. In diesen Zeiten hatten sich aber nicht nur die Parteieliten in Moskau wie in Warschau, Prag und Budapest auf ein ewiges Bestehen der Jalta-Ordnung, die Europa seit 1945 einer östlichen und einer westlichen Einflusssphäre zuteilte, eingestellt, sondern auch die Regierenden in Westeuropa: „Entspannung“ war die Strategie. Und der Erfolg lag vor allem in der Etablierung der universellen Menschenrechte im KSZE-Prozess als Berufungsinstanz der Opposition in Mittel- und Osteuropa. Allerdings sorgte der gepflegte Dialog mit den kommunistischen Staats- und Parteiführungen auch für die äußere Legitimierung dieser Regime. Die demonstrative Nähe westlicher sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien zu östlichen Staatsparteien irritierte, um es rückblickend freundlich zu sagen.
Mitteleuropa als geistiger Sauerstoff
Erhard Busek war kein Entspannungspolitiker. Seine Strategie war spannender. Österreich als blockfreier und neutraler Staat bot ihm weite Handlungsspielräume. Der liberale Christdemokrat und Wiener Vizebürgermeister Busek nutzte sie (und die Enthaltsamkeit der SPÖ auf diesem Terrain), um in wechselnden Funktionen in die Nachbarländer hineinzuwirken. Dass es sich um frühere österreichische Kronländer handelte, ist augenfällig, spielte aber für Busek im Sinne eines nostalgischen oder neoimperialen Ansatzes nie eine Rolle. Buseks subversive Außenpolitik gründete auf einem spektakulären Konzept: „Mitteleuropa“. In mehreren Schriften entfaltete der ÖVP-Politiker in den späten 80ern diese Umwidmung eines historisch belasteten Begriffs: Statt ihn als logische Einflusszone eines ostwärts strebenden deutschen Imperialismus zu verstehen, wie ihn Friedrich Naumann in seinem gleichwohl visionären Werk „Mitteleuropa“ 1915 umriss, versuchte Busek damit historisch-kulturelle Gemeinsamkeiten der Staaten im Zwischeneuropa zwischen dem Westen und der UdSSR zu unterstreichen und diese Länder aus der Betonmasse eines scheinbar monolithischen östlichen Blocks zu lösen. Das Echo war beträchtlich, und für György Konrád, den Autoren und Fürsprecher eines föderalen Europas, blieb „Mitteleuropa“ über mehr als ein Jahrzehnt das Paradigma seiner politischen Essays. „Mitteleuropäer ist der“, fasste Busek sein Bekenntnis zusammen, „dessen staatliche Existenz irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt.“ (In: Erhard Busek/Gerhard Wilfinger: „Aufbruch nach Mitteleuropa“ Wien, 1986)
Für die Dissidenten, die Busek traf, glich „Mitteleuropa“ der Zufuhr geistigen Sauerstoffs. Gegenüber dem heimischen Publikum musste der umtriebige Busek dagegen erklären, warum sich Österreich einmischt: „Wir müssen die geschichtliche Vernetzung mit Mitteleuropa und unsere geopolitische Position zu einer aktiven Gestaltung unseres Schicksals nutzen. Verzichten wir auf diese Chance, werden wir tiefste Provinz.“ (ebenda)
Das rüttelte nicht nur eine Regierungspolitik auf, an der Buseks ÖVP als Juniorpartner beteiligt war und die sich im Status quo des Wohlfahrtsstaats block- und ambitionsfrei eingerichtet hatte (abgesehen vom UN-Sitz in Wien und einigen nahostpolitischen Abenteuern Bruno Kreiskys). „Mitteleuropa“ war auch eine wichtige Grundierung des späteren EU-Beitritts Österreichs, der 1995 recht schnell nach dem Ende der Teilung Europas erfolgte. Eine zweite Schweiz wollte man nicht werden, und dass die mitteleuropäischen Staaten in Richtung der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) strebten, war mit dem Heben des Eisernen Vorhangs schon erkennbar. Busek verstand, dass sich Österreichs gewohnte geopolitische Rolle damit in Nichts auflösen würde. Er war in dieser Zeit (1991–1995) als ÖVP-Chef, Wissenschaftsminister und Vizekanzler maßgeblicher Antreiber des EU-Beitritts (per Referendum) und zugleich auf dem Zenit seiner politischen Laufbahn angelangt.
1997 veröffentlichte er mit dem Buch „Mitteleuropa. Eine Spurensicherung“ eine erste überwiegend zufriedene Bilanz seiner Aktivitäten und der politischen Entwicklung in den 90er Jahren. Die erste katastrophale Fehlentwicklung in Mitteleuropa, der blutige nationalistische Kollaps Jugoslawiens, war da allerdings noch in vollem Gange.
Seit 1996 wurde dieser Teil Mitteleuropas Buseks neues Handlungsfeld, erst als Koordinator der ‚Southeast European Cooperative Initiative‘, dann viele Jahre als Sonderkoordinator des Stabilitätspakts für den Balkan – neben seiner unermüdlichen publizistischen Tätigkeit.
Osteuropa sei nicht die Brutstätte des Populismus
Wenn Busek nun mit dem Co-Autor und Ex-Diplomaten Emil Brix den Band „Mitteleuropa revisited“ vorlegt, ist das keine nostalgische Reise durch die Zeit, auch wenn der Hinweis „Mitteleuropa ist die größte europäische Erfolgsgeschichte der Jahrtausendwende“ vieles für sich hat. Busek durchstreift die bis 1989 unterdrückten Länder als kundiger und einfühlsamer Anwalt.
Bei oberflächlichem Blick mag es erscheinen, als hätte sich eine Reihe westlicher Modellstaaten bei der voreiligen Öffnung der Hintertreppe mit der schon erfolgreich ausgerottet geglaubten autoritär-nationalistischen Seuche infiziert. Doch Busek insistiert, dass nicht in Mitteleuropa Nationalismus und Populismus erfunden und von dort in die EU getragen worden sind, sondern dass der Populismus auch früh in westlichen Kernländern wie Frankreich, Belgien und den Niederlanden um sich griff. Bloß gelangten Populisten dort nicht in Machtpositionen, während sie in Polen und Ungarn instabile Parteienlandschaften und weniger widerstandsfähige Zivilgesellschaften vorfanden und ein vergleichsweise leichtes Spiel hatten. Auch zeigten die fatale Brexit-Entscheidung und die Bildung einer Regierung aus EU-Gegnern und Fremdenhassern in Italien, dass keine offene Gesellschaft vor populistischen Aufwallungen geschützt ist.
Busek macht seine Punkte, wenn er statt Schelte für Warschau und Budapest eher die Versäumnisse der „alten“ EU-Staaten aufreiht: Warum habe man einfach weitergemacht wie bisher, warum nicht eine Stadt wie Krakau zur zweiten europäischen Hauptstadt und eine slawische Sprache zur weiteren Arbeitssprache gemacht? Die Mitteleuropäer fragt er, warum sie sich ihre Gemeinsamkeit der 80er und 90er Jahre nicht bewahrt hätten; Österreich, warum es nicht (natürlich vor dem nationalistischen Abdriften dieser Staaten) der Visegrad-Kooperation beigetreten ist.
Das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, die immer neu aufgelegte deutsch-französische Dominanz, werde in Mitteleuropa als Zumutung empfunden: „Ein friedliches und erfolgreiches Europa braucht anderes als einen karolingischen Kern und zweiklassige Peripherien. Es braucht faire Gemeinsamkeiten, die auch mitteleuropäische Traditionen und Vorschläge berücksichtigen, und nicht nur in Brüssel, Paris oder Berlin ausgedacht werden.“ Busek wundert sich, das ganz Europa über die Bedeutung von Grenzen und die Balance von europäischer und nationaler Identität diskutiert, während die historische Expertise dafür eigentlich in Mitteleuropa liegt, wo kleine Nationen nicht nur immer wieder Objekt von Grenzziehungen und ‑verschiebungen wurden, sondern sich auch im Abwehr- und Befreiungskampf gegen Imperien mit ihren Zentralen in Wien, in Istanbul und in Moskau ihre Identität erhalten mussten.
Wie gesagt, es läge nahe, die nun gegenüber Brüssel gepflegten Abwehrreflexe als Fehlverhalten pubertierender Jungdemokratien abzutun, die ein übersteigertes Bedürfnis nach kultureller oder gar völkischer Unterscheidbarkeit antreibt. Aber die Hasskriminalität gegen Migranten nimmt vor allem in Italien zu, der Populismus grassiert auch in eingefleischten Anti-Europaparteien in Deutschland, und es war der Brite Cameron, der sein Land aus dem Solidarverbund europäischer Demokratien steuerte. Busek ruft zu Recht in Erinnerung, dass die inzwischen fast vergessene EU-Verfassung von 2004 am schnellsten in Litauen, Ungarn (!) und Slowenien ratifiziert wurde, ehe sie in den Referenden in den Niederlanden und Frankreich scheiterte.
Busek stellt fest, dass ein neues Mitteleuropa entstanden ist: Jene Staaten, die nun zwischen EU und Russland liegen, die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und der Westbalkan. Mitteleuropa dehne sich seit dem Ende des Kalten Krieges kontinuierlich nach Osten und Südosten aus, und Busek zitiert dazu den ukrainischen Essayisten Jurko Prohasko, wonach „der Maidan ein Erweckungserlebnis für die Mitteleuropa-Idee“ gewesen sei. Busek bilanziert: „Mit der Annexion der Krim und dem militärischen Konflikt in der Ostukraine hat Putin dazu beigetragen, dass die nationale Identität im nicht besetzten Teil der Ukraine erstens gefestigt wurde und zweitens mitteleuropäisch ausgerichtet ist.“
Ein europäischer Islam?
Mit Blick auf den Balkan lobt Busek zaghafte – und von ihm selbst in vielen Formaten mit vorangetriebene – regionale Kooperationen, beklagt aber zugleich eine „Erweiterungsmüdigkeit auf Seiten der EU“ und verlangt vor allem mit Blick auf die Auswanderung junger Menschen eine erkennbare Beitrittsperspektive. „Europa könnte von der Begeisterung leben, durch die Verwandlung des Balkans wirklich eine Gemeinsamkeit des Kontinents geschaffen zu haben um damit für alle Nachbarstaaten (letztlich sogar für Russland) trotz einer komplizierten Struktur der Vielfalt attraktiv geworden zu sein.“ Solcher Missionsdrang scheint der verzagten EU derzeit eher wesensfremd zu sein.
Und an dieser Stelle fügen Busek und Brix einen noch kühneren Gedanken an: Die Erweiterung um Serbien, Mazedonien, Albanien, schließlich Bosnien-Herzegowina und Kosovo bietet der EU eine Chance, die Rolle des Islam in Europa mithilfe der überall dort lebenden autochthonen Muslime auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. „Es müsste in Mitteleuropa ein Interesse daran geben, sich mit EU-weit tragfähigen, institutionell abgesicherten Lösungen für den Umgang mit dem Islam, wenn man so will mit der institutionellen Basis eines ‚europäischen Islam‘ auseinanderzusetzen.“
Das wäre nicht ohne historisches Vorbild, und Busek verweist genüsslich darauf: Österreich beschloss 1912, nach der Annexion Bosniens, ein (bis heute fortentwickeltes) Islamgesetz, das die religiösen Rechte der neuen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens als öffentlich-rechtlicher Gemeinschaft regelte und verbriefte.
Busek ist kein Illusionist, er weiß um die Gefahr des Scheiterns Europas, und als administrativer Praktiker kennt er die Mühen der Ebene, aber er sieht neben all den Problemen in Mitteleuropa einen Teil der Lösung.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.