„Mittel­europa“: Ein J’accuse gegen den Pessimismus

Evgeny Feldman [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)] via Wikimedia

Während natio­na­lis­tische Regierung den Rechts­staat demon­tieren, feiert Erhard Busek unbeirrt das Europa der Freiheit: In einem neuen Buch fordert der ehemalige Vizekanzler von Öster­reich die mutige Erwei­terung der EU nach Osten. Doch was noch vor wenigen Jahren zum europäi­schen common sense gehörte, wird heute mit betre­tenem Schweigen quittiert. „Mittel­europa“ ist deshalb auch die Reflexion eines engagierten Europäers, warum er und seine Mitstreiter in die Rolle von politi­schen Träumern geraten sind.

Als in den 80er Jahren die imperiale Macht der Moskauer Kommu­nisten schwand, ergaben sich in vielen Satel­li­ten­staaten der Sowjets in Europa bescheidene Spiel­räume für eine intel­lek­tuelle Opposition, in Polen sogar verbunden mit einer revolu­tio­nären, antikom­mu­nis­ti­schen Arbei­ter­be­wegung. In diesen Zeiten hatten sich aber nicht nur die Partei­eliten in Moskau wie in Warschau, Prag und Budapest auf ein ewiges Bestehen der Jalta-Ordnung, die Europa seit 1945 einer östlichen und einer westlichen Einfluss­sphäre zuteilte, einge­stellt, sondern auch die Regie­renden in Westeuropa: „Entspannung“ war die Strategie. Und der Erfolg lag vor allem in der Etablierung der univer­sellen Menschen­rechte im KSZE-Prozess als Berufungs­in­stanz der Opposition in Mittel- und Osteuropa. Aller­dings sorgte der gepflegte Dialog mit den kommu­nis­ti­schen Staats- und Partei­füh­rungen auch für die äußere Legiti­mierung dieser Regime. Die demons­trative Nähe westlicher sozial­de­mo­kra­ti­scher und sozia­lis­ti­scher Parteien zu östlichen Staats­par­teien irritierte, um es rückbli­ckend freundlich zu sagen.

Mittel­europa als geistiger Sauerstoff

Erhard Busek war kein Entspan­nungs­po­li­tiker. Seine Strategie war spannender. Öster­reich als block­freier und neutraler Staat bot ihm weite Handlungs­spiel­räume.  Der liberale Christ­de­mokrat und Wiener Vizebür­ger­meister Busek nutzte  sie (und die Enthalt­samkeit der SPÖ auf diesem Terrain), um in wechselnden Funktionen in die Nachbar­länder hinein­zu­wirken. Dass es sich um frühere öster­rei­chische Kronländer handelte, ist augen­fällig, spielte aber für Busek im Sinne eines nostal­gi­schen oder neoim­pe­rialen Ansatzes nie eine Rolle. Buseks subversive Außen­po­litik gründete auf einem spekta­ku­lären Konzept: „Mittel­europa“. In mehreren Schriften entfaltete der ÖVP-Politiker in den späten 80ern diese Umwidmung eines histo­risch belas­teten Begriffs: Statt ihn als logische Einflusszone eines ostwärts strebenden deutschen Imperia­lismus zu verstehen, wie ihn Friedrich Naumann in seinem gleichwohl visio­nären Werk „Mittel­europa“ 1915 umriss, versuchte Busek damit histo­risch-kultu­relle Gemein­sam­keiten der Staaten im Zwischen­europa zwischen dem Westen und der UdSSR zu unter­streichen und diese Länder aus der Beton­masse eines scheinbar monoli­thi­schen östlichen Blocks zu lösen. Das Echo war beträchtlich, und für György Konrád, den Autoren und Fürsprecher eines föderalen Europas, blieb „Mittel­europa“ über mehr als ein Jahrzehnt das Paradigma seiner politi­schen Essays. „Mittel­eu­ropäer ist der“, fasste Busek sein Bekenntnis zusammen, „dessen staat­liche Existenz irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Reali­täts­emp­finden entspricht. Mittel­eu­ropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt.“  (In: Erhard Busek/​Gerhard Wilfinger: „Aufbruch nach Mittel­europa“ Wien, 1986) 

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Für die Dissi­denten, die Busek traf, glich „Mittel­europa“ der Zufuhr geistigen Sauer­stoffs. Gegenüber dem heimi­schen Publikum musste der umtriebige Busek dagegen erklären, warum sich Öster­reich einmischt: „Wir müssen die geschicht­liche Vernetzung mit Mittel­europa und unsere geopo­li­tische Position zu einer aktiven Gestaltung unseres Schicksals nutzen. Verzichten wir auf diese Chance, werden wir tiefste Provinz.“  (ebenda)

Das rüttelte nicht nur eine Regie­rungs­po­litik auf, an der Buseks ÖVP als Junior­partner beteiligt war und die sich im Status quo des Wohlfahrts­staats block- und ambiti­onsfrei einge­richtet hatte (abgesehen vom UN-Sitz in Wien und einigen nahost­po­li­ti­schen Abenteuern Bruno Kreiskys). „Mittel­europa“  war auch eine wichtige Grundierung des späteren EU-Beitritts Öster­reichs, der 1995 recht schnell nach dem Ende der Teilung Europas erfolgte. Eine zweite Schweiz wollte man nicht werden, und dass die mittel­eu­ro­päi­schen Staaten in Richtung der damaligen Europäi­schen Gemein­schaft (EG) strebten, war mit dem Heben des Eisernen Vorhangs schon erkennbar. Busek verstand, dass sich Öster­reichs gewohnte geopo­li­tische Rolle damit in Nichts auflösen würde. Er war in dieser Zeit (1991–1995) als ÖVP-Chef, Wissen­schafts­mi­nister und Vizekanzler maßgeb­licher Antreiber des EU-Beitritts (per Referendum) und zugleich auf dem Zenit seiner politi­schen Laufbahn angelangt.

1997 veröf­fent­lichte er mit dem Buch „Mittel­europa. Eine Spuren­si­cherung“ eine erste überwiegend zufriedene Bilanz seiner Aktivi­täten und der politi­schen Entwicklung in den 90er Jahren. Die erste katastro­phale Fehlent­wicklung in Mittel­europa, der blutige natio­na­lis­tische Kollaps Jugosla­wiens, war da aller­dings noch in vollem Gange.

Seit 1996 wurde dieser Teil Mittel­eu­ropas Buseks neues Handlungsfeld, erst als Koordi­nator der ‚Southeast European Coope­rative Initiative‘, dann viele Jahre als Sonder­ko­or­di­nator des Stabi­li­täts­pakts für den Balkan – neben seiner unermüd­lichen publi­zis­ti­schen Tätigkeit.

Osteuropa sei nicht die Brutstätte des Populismus

Wenn Busek nun mit dem Co-Autor und Ex-Diplo­maten Emil Brix den Band „Mittel­europa revisited“ vorlegt, ist das keine nostal­gische Reise durch die Zeit, auch wenn der Hinweis „Mittel­europa ist die größte europäische Erfolgs­ge­schichte der Jahrtau­send­wende“ vieles für sich hat. Busek durch­streift die bis 1989 unter­drückten Länder als kundiger und einfühl­samer Anwalt.

Bei oberfläch­lichem Blick mag es erscheinen, als hätte sich eine Reihe westlicher Modell­staaten bei der vorei­ligen Öffnung der Hinter­treppe mit der schon erfolg­reich ausge­rottet geglaubten autoritär-natio­na­lis­ti­schen Seuche infiziert. Doch Busek insis­tiert, dass nicht in Mittel­europa Natio­na­lismus und Populismus erfunden und von dort in die EU getragen worden sind, sondern dass der Populismus auch früh in westlichen Kernländern wie Frank­reich, Belgien und den Nieder­landen um sich griff. Bloß gelangten Populisten dort nicht in Macht­po­si­tionen, während sie in Polen und Ungarn instabile Partei­en­land­schaften und weniger wider­stands­fähige Zivil­ge­sell­schaften vorfanden und ein vergleichs­weise leichtes Spiel hatten. Auch zeigten die fatale Brexit-Entscheidung und die Bildung einer Regierung aus EU-Gegnern und Fremden­hassern in Italien, dass keine offene Gesell­schaft vor populis­ti­schen Aufwal­lungen geschützt ist.

Busek macht seine Punkte, wenn er statt Schelte für Warschau und Budapest eher die Versäum­nisse der „alten“ EU-Staaten aufreiht: Warum habe man einfach weiter­ge­macht wie bisher, warum nicht eine Stadt wie Krakau zur zweiten europäi­schen Haupt­stadt und eine slawische Sprache zur weiteren Arbeits­sprache gemacht? Die Mittel­eu­ropäer fragt er, warum sie sich ihre Gemein­samkeit der 80er und 90er Jahre nicht bewahrt hätten; Öster­reich, warum es nicht (natürlich vor dem natio­na­lis­ti­schen Abdriften dieser Staaten) der Visegrad-Koope­ration beigetreten ist.

Das „Europa der zwei Geschwin­dig­keiten“, die immer neu aufge­legte deutsch-franzö­sische Dominanz, werde in Mittel­europa als Zumutung empfunden: „Ein fried­liches und erfolg­reiches Europa braucht anderes als einen karolin­gi­schen Kern und zweiklassige Peripherien. Es braucht faire Gemein­sam­keiten, die auch mittel­eu­ro­päische Tradi­tionen und Vorschläge berück­sich­tigen, und nicht nur in Brüssel, Paris oder Berlin ausge­dacht werden.“ Busek wundert sich, das ganz Europa über die Bedeutung von Grenzen und die Balance von europäi­scher und natio­naler Identität disku­tiert, während die histo­rische Expertise dafür eigentlich in Mittel­europa liegt, wo kleine Nationen nicht nur immer wieder Objekt von Grenz­zie­hungen und ‑verschie­bungen wurden, sondern sich auch im Abwehr- und Befrei­ungs­kampf gegen Imperien mit ihren Zentralen in Wien, in Istanbul und in Moskau ihre Identität erhalten mussten.

Wie gesagt, es läge nahe, die nun gegenüber Brüssel gepflegten Abwehr­re­flexe als Fehlver­halten puber­tie­render Jungde­mo­kratien abzutun, die ein  überstei­gertes Bedürfnis nach kultu­reller oder gar völki­scher Unter­scheid­barkeit antreibt.  Aber die Hasskri­mi­na­lität gegen Migranten nimmt vor allem in Italien zu, der Populismus grassiert auch in einge­fleischten Anti-Europa­par­teien in Deutschland, und es war der Brite Cameron, der sein Land aus dem Solidar­verbund europäi­scher Demokratien steuerte. Busek ruft zu Recht in Erinnerung, dass die inzwi­schen fast vergessene EU-Verfassung von 2004 am schnellsten in Litauen, Ungarn (!) und Slowenien ratifi­ziert wurde, ehe sie in den Referenden in den Nieder­landen und Frank­reich scheiterte.

Busek stellt fest, dass ein neues Mittel­europa entstanden ist: Jene Staaten, die nun zwischen EU und Russland liegen, die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und der Westbalkan. Mittel­europa dehne sich seit dem Ende des Kalten Krieges konti­nu­ierlich nach Osten und Südosten aus, und Busek zitiert dazu den ukrai­ni­schen Essay­isten Jurko Prohasko, wonach „der Maidan ein Erweckungs­er­lebnis für die Mittel­europa-Idee“ gewesen sei. Busek bilan­ziert: „Mit der Annexion der Krim und dem militä­ri­schen Konflikt in der Ostukraine hat Putin dazu beigetragen, dass die nationale Identität im nicht besetzten Teil der Ukraine erstens gefestigt wurde und zweitens mittel­eu­ro­päisch ausge­richtet ist.“

Ein europäi­scher Islam?

Mit Blick auf den Balkan lobt Busek zaghafte – und von ihm selbst in vielen Formaten mit voran­ge­triebene – regionale Koope­ra­tionen, beklagt aber zugleich eine „Erwei­te­rungs­mü­digkeit auf Seiten der EU“ und verlangt vor allem mit Blick auf die Auswan­derung junger Menschen eine erkennbare Beitritts­per­spektive. „Europa könnte von der Begeis­terung leben, durch die Verwandlung des Balkans wirklich eine Gemein­samkeit des Konti­nents geschaffen zu haben um damit für alle Nachbar­staaten (letztlich sogar für Russland) trotz einer kompli­zierten Struktur der Vielfalt attraktiv geworden zu sein.“ Solcher Missi­ons­drang scheint der verzagten EU derzeit eher wesens­fremd zu sein.

Und an dieser Stelle fügen Busek und Brix einen noch kühneren Gedanken an: Die Erwei­terung um Serbien, Mazedonien, Albanien, schließlich Bosnien-Herze­gowina und Kosovo bietet der EU eine Chance, die Rolle des Islam in Europa mithilfe der überall dort lebenden autochthonen Muslime auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. „Es müsste in Mittel­europa ein Interesse daran geben, sich mit EU-weit tragfä­higen, insti­tu­tionell abgesi­cherten Lösungen für den Umgang mit dem Islam, wenn man so will mit der insti­tu­tio­nellen Basis eines ‚europäi­schen Islam‘ auseinanderzusetzen.“

Das wäre nicht ohne histo­ri­sches Vorbild, und Busek verweist genüsslich darauf: Öster­reich beschloss 1912, nach der Annexion Bosniens, ein (bis heute fortent­wi­ckeltes) Islam­gesetz, das die religiösen Rechte der neuen Staats­an­ge­hö­rigen musli­mi­schen Glaubens als öffentlich-recht­licher Gemein­schaft regelte und verbriefte.
Busek ist kein Illusionist, er weiß um die Gefahr des Schei­terns Europas, und als adminis­tra­tiver Praktiker kennt er die Mühen der Ebene, aber er sieht neben all den Problemen in Mittel­europa einen Teil der Lösung.

Textende

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