Geschichte, die nicht vergeht

Diskussion mit Bernd Wagner, Ines Geipel, Norbert Frei, Petra Pau, Ralf Fücks, Foto: LibMod

Vergan­gen­heits­po­litik und Rechts­extre­mismus in Ost und West. Ein Veranstaltungsbericht.

Ist der Rechtsruck in Ostdeutschland und die ausge­prägte Distanz zur parla­men­ta­ri­schen Demokratie die Folge der „Demüti­gungs­er­fahrung“ nach der Wieder­ver­ei­nigung? Ist der Aufstieg der AfD eine Reaktion auf wirtschaft­liche Umbrüche und soziale Deklas­sierung von Teilen der ostdeut­schen Bevöl­kerung? Oder gibt tiefer­lie­gende Ursachen, die in der nicht bearbei­teten doppelten Dikta­tur­ge­schichte und Gewalt­er­fah­rungen liegen, die auch nach 30 Jahren Einheit, Demokratie und Markt­wirt­schaft im Osten fortwirken? Diesen Fragen widmete sich am 19. Oktober 2020 ein Podium mit der Schrift­stel­lerin Ines Geipel, der Bundes­tags­ab­ge­ord­neten Petra Pau, dem Histo­riker Norbert Frei, dem Rechts­extre­mismus-Experten Bernd Wagner, moderiert von Ralf Fücks, dem Direktor des Zentrums Liberale Moderne.

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Fücks eröffnete die Veran­staltung mit der Frage nach den Paral­lelen und Unter­schieden im Umgang mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Erbe in der alten Bundes­re­publik und der DDR. Die Dinge seien keineswegs so klar, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen: Hier die antifa­schis­tische DDR, gegründet von Wider­stands­kämpfern, dort die BRD als Nachfol­ge­staat des Dritten Reichs, in dem zahlreiche ehemalige Nazis hohe Funktionen in Politik, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung innehatten. Auch in der DDR habe es einen beträcht­lichen Anteil ehema­liger Nazis und Wehrmachts­of­fi­ziere im Staats­ap­parat gegeben, die umstandslos vom einen in das andere System wechselten. Während im Westen in den 60er-Jahren gegen den hinhal­tenden Wider­stand alter Kameraden ein Prozess der Aufar­beitung einsetzte, habe sich die DDR pauschal von der Last der Vergan­genheit freige­sprochen. Im Osten stand der kommu­nis­tische Wider­stand im Zentrum der Erinnerung, während im Westen die Vernichtung der europäi­schen Juden in den Mittel­punkt rückte. Die Veran­staltung solle auch der Frage nachgehen, wieweit der Umgang mit der Geschichte von Diktatur, Krieg und Vernichtung auch die heutige mentale und politische Landschaft prägt.

Rechtsruck als Folge von 50 Jahren Doppeldiktatur

Natürlich müsse man auch über Demüti­gungs­er­fah­rungen nach dem Zusam­men­bruch der DDR sprechen, meinte die Schrift­stel­lerin Ines Geipel („Umkämpfte Zone“, 2019 Klett-Cotta). Aber ohne die Geschichte der Jahrzehnte vor 1989 in den Blick zu nehmen, entstehe ein schiefes Bild. Sie sehe im Rechtsruck im Osten vor allem die nicht aufge­ar­beitete Geschichte von 50 Jahren Doppel­dik­tatur und das Fortwirken von autori­tären Prägungen. Anders als im Westen fehle im Osten die Generation, die Fragen nach Verant­wortung, Schuld und Mittä­ter­schaft im Natio­nal­so­zia­lismus und der anschlie­ßenden SED-Diktatur gestellt habe.

Antifa­schis­ti­scher Staats­mythos statt Aufar­beitung des NS

Ein Grund dafür sei, dass die Staats­gründung der DDR mit dem Antifa­schismus als Staats­mythos verbunden worden sei. Statt die Verstri­ckung in den Natio­nal­so­zia­lismus aufzu­ar­beiten, seien Staat und Gesell­schaft in den Anfangs­jahren über ein System von Terror und Angst synchro­ni­siert worden. Das habe zu katego­ri­schen „Schwei­ge­räumen“ geführt. Geipel sprach von einer „instru­men­tellen Verun­mög­li­chung zu trauern.“ Gleich­zeitig habe der verordnete Antifa­schismus auch eine Entlastung bedeutet. Die Aufar­beitung des Natio­nal­so­zia­lismus wurde in den Westen ausge­lagert. Die homoge­ni­sierte antifa­schis­tische Helden­er­zählung habe bestimmte Opfer­gruppen ins Loch fallen lassen.

Geipel beschreibt in ihrem Buch „Umkämpfte Zone“ ihre Famili­en­ge­schichte als hochpo­li­ti­sches Konstrukt: beide Großväter bei der SS, ausblei­bende Ausein­an­der­setzung mit Schuld und Verant­wortung, Karriere des Vaters als SED-Kultur­funk­tionär und Auslands­agent der Stasi, exzessive Gewalt gegen die Kinder. Eine entschei­dende Frage sei, wie der Druck der Diktatur in den Familien gewirkt habe. Jede Familie habe sich auf die eine oder andere Weise zur Diktatur verhalten müssen.

Wenn es – damals wie heute – zu einer Verklärung und Verharm­losung von Diktatur komme, führe das zur trans­ge­ne­ra­tio­nellen Weitergabe der unbear­bei­teten Erfah­rungen. Auch wenn die Enkel­ge­neration keine eigene Kriegs­er­fahrung mehr habe machen müssen, sei die Erfahrung von Krieg und Gewalt über die Großväter und Väter, die ihn als Erwachsene und Kinder erlebten, in die Psyche der Enkel hinein­ge­tragen worden. Und diese männliche Kriegs­en­kel­ge­neration stelle heute die Urwäh­ler­schaft der AfD dar.

Das Faschis­mus­problem der DDR wurde negiert

Bernd Wagner, der Ende der 1980er Jahre im Auftrag der Krimi­nal­po­lizei der DDR die Skinhead-Szene unter­suchte, berichtete, dass es in der DDR immer wieder faschis­tische Phänomene bis hinein in die Nomen­klatura gegeben habe, die von offizi­eller Seite vertuscht wurden. In der SED-Partei­führung habe ein von der Komintern übernom­mener Faschis­mus­be­griff vorge­herrscht, nach dem Faschismus in der DDR gar nicht existieren konnte. Wenn Faschismus die Folge des kapita­lis­ti­schen Imperia­lismus war, fehlten in der DDR schlicht die Voraus­set­zungen. Damit wurde das Problem fortwir­kender oder neu entste­hender faschis­ti­scher Gruppen und Einstel­lungen elegant in die BRD ausge­lagert. Es gab sie zwar auch im Osten, durfte sie aber offiziell nicht geben.

Vor allem mit der Verschlech­terung der ökono­mi­schen Situation Ende der 1970er Jahre hätten sich Gegner des Regimes zunehmend in rechts­extremen Gruppen zusam­men­ge­funden. Hier habe es den Ruf nach mehr „Volks­so­zia­lismus“ auf faschis­ti­scher Grundlage gegeben. Der antikom­mu­nis­tische Wider­stand habe im rechts­extremen Lager auf völkisch-natio­na­lis­ti­schen Ideen aufgebaut. Mit der Zeit sei es zu einer immer stärkeren Ideolo­gi­sierung und Radika­li­sierung der Gruppen gekommen. Sie hätten sich teilweise bewaffnet und auch Terror­ein­heiten gebildet, die Anschläge auf sowje­tische Truppen vorbe­rei­teten. Diese Szene habe schließlich eine große Anzie­hungs­kraft entwi­ckelt, wie sich unmit­telbar nach der Wende auf Großver­an­stal­tungen, beim Fußball, Rockkon­zerten und Volks­festen gezeigt habe. Die Szene sei in die wieder­ver­einte Bundes­re­publik einge­zogen und habe sich mit neofa­schis­ti­schen Gruppen im Westen vernetzt.

Ralf Fücks verwies auf den russi­schen Philo­sophen Alexander Dugin, einen der Chefideo­logen der Neuen Rechten, und seinen Slogan vom „roten Faschismus“. Auf die Frage, weshalb sich der Wider­stand gegen die SED-Herrschaft ausge­rechnet im Rückgriff auf natio­nal­bol­sche­wis­tische Tradi­tionen artiku­lierte, unter­schied Wagner zwischen freiheitlich-demokra­ti­schen Strömungen des Protests („auch in der DDR gab es 68er“) und der neofa­schis­ti­schen Szene, zu der auch Kinder von SED- und Stasi-Funktio­nären zählten. Der Neonazi-Szene war die DDR nicht „sozia­lis­tisch“ genug, das liberal-kapita­lis­tische Gesell­schafts­modell lehnte sie entschieden ab. Es sei um einen ethnisch reinen Staat als Überle­bens­garant gegangen. Daraus habe sich die Forderung nach einem „dritten Weg“ im Sinne eines völki­schen Sozia­lismus entwi­ckelt, der auch die histo­rische Bewertung Hitlers revidieren müsse.

Paral­lelen und Unter­schiede im Umgang mit dem NS

Der Histo­riker Norbert Frei wies darauf hin, dass der Umgang mit dem Natio­nal­so­zia­lismus in den 1950er Jahren zunächst in beiden deutschen Staaten recht ähnlich ablief. Beide Staaten hätten sich als demokra­ti­scher bzw. antifa­schis­ti­scher Neuanfang verstanden. Hier wie dort sei es zunächst um die Integration einer Bevöl­kerung in den neuen Staat gegangen, die sich bis zum Ende in hohem Maße mit dem Natio­nal­so­zia­lismus identi­fi­ziert habe.

Es sei ein Mythos, dass erst die 68er-Generation eine neue Dynamik in die Aufar­beitung des Natio­nal­so­zia­lismus gebracht habe. Dies habe in Westdeutschland bereits Anfang der 60er-Jahre mit dem Ausch­witz­prozess begonnen. Die Generation der Flak-Helfer, die als Heran­wach­sende in den Krieg gezogen wurde, hätte begonnen, gemeinsam mit kriti­schen, intel­lek­tu­ellen Mitstreitern die Älteren zu fragen: was hast Du getan? Mit 1968 und in den frühen 70er Jahren sei diese Ausein­an­der­setzung der eigenen konkreten Geschichts­er­fahrung abgelöst worden durch einen eher theore­tisch-abstrakten Antiim­pe­ria­lismus und Antifa­schismus. Der entschei­dende Unter­schied sei aber, dass im Westen ein diskur­siver Prozess einsetzen konnte, wie er durch den doktri­nären Antifa­schismus der DDR nicht möglich gewesen sei. Nicht zu vergessen sei, dass in den späten 70er und den 80er Jahren auch im Westen Rechts­extreme Zulauf erhielten. Das rote Jahrzehnt (Gerd Koenen) sei insofern auch ein braunes Jahrzehnt. Jedoch hätten die Rechts­extremen nicht die gleiche diskursive Macht entfaltet.

Offizi­eller Antifa­schismus als Alibi, um Entschä­di­gungs­for­de­rungen abzulehnen

Die Bundes­tags­vi­ze­prä­si­dentin und Abgeordnete der Linken, Petra Pau, beschrieb, dass die DDR mit dem Selbst­ver­ständnis als antifa­schis­ti­scher Staat auch eine Verant­wortung ausge­schlagen haben. Es sei auch um Entlastung von Entschä­di­gungs­leis­tungen gegenüber Jüdinnen und Juden aber auch gegenüber Israel gegangen. Ideolo­gisch sei der kommu­nis­tische Wider­stand gegen den Natio­nal­so­zia­lismus überhöht und anderen Opfer­gruppen ausge­lassen worden. So sei z.B. im Gedenken das Jüdische der Wider­stands­gruppe um Herbert Baum ignoriert worden.

Das Verhältnis der DDR zum Judentum habe sich über die Jahrzehnte gewandelt. Während anfangs die Gründung des Staats Israel im Zuge der Anerkennung durch die Sowjet­union begrüßt wurde, habe man später zunehmend eine Unter­scheidung in Freund und Feind vorge­nommen. Israel habe dabei aus Sicht der DDR-Staats­führung klar auf der Seite des sogenannten Imperia­lismus gestanden, während die Paläs­ti­nenser per se als Freiheits­kämpfer galten. Und auch die Restau­rierung der großen Synagoge in der Orani­en­burger Straße in den 1980er Jahren folgte einem antise­mi­ti­schen Muster. Erich Honecker habe im Streben nach inter­na­tio­naler Anerkennung nicht nur in der Bundes­re­publik, sondern auch in den USA empfangen werden wollen. Er sei überzeugt gewesen, sich hierfür mit den angeblich reichen und einfluss­reichen Juden gutstellen zu müssen.

Rechtsruck als Folge des Neoliberalismus?

Die von Wagner beschriebene rechts­extreme Szene der DDR sei in der Tat gut anschluss­fähig an westdeutsche rechts­extreme Struk­turen gewesen. Das habe sie im NSU-Unter­su­chungs­aus­schuss immer wieder erfahren können.

Pau verwies auf die Langzeit­studie „Deutsche Zustände“ von Wilhelm Heitmeyer, die bereits 2011 eine Zunahme gruppen­be­zo­gener Menschen­feind­lichkeit und zuneh­mender Akzeptanz von Gewalt gerade der Übersech­zig­jäh­rigen feststellte. Heitmeyer habe als Erklärung hierfür die Ökono­mi­sierung des Sozialen und die Entleerung der Demokratie angeführt. Wer dem Rechts­extre­mismus den Boden entziehen wolle, müsse deshalb gegen den Neoli­be­ra­lismus ankämpfen. Aller­dings brauche es in dieser Zeit ein Zusam­men­raufen aller Demokraten, was sie auch gegen Wider­stände in den eigenen Reihen stets vertrete. Norbert Frei wider­sprach der These, der aktuelle Rechtsruck habe vor allem sozial­öko­no­mische Ursachen. Sozio­lo­gische Unter­su­chungen der Wähler­schaft der AfD belegten, dass diese gerade nicht die „sozial Abgehängten“ seien. Allen­falls könne man von Abstiegs­ängsten sprechen. Mindestens ebenso wirkmächtig seien Faktoren wie die Vorstellung von einer ethnisch und kulturell homogenen Nation und die Abwehr gegen Migration und ein postna­tio­nales Europa.

Geschichts­be­wäl­tigung mit Rückschlägen

Auf die Frage von Ralf Fücks, welche Rolle die histo­rische Aufar­beitung des NS für die heutige Haltung zur liberalen Demokratie spiele, entgegnete Norbert Frei, dass die Ausein­an­der­setzung mit dem Natio­nal­so­zia­lismus nie abgeschlossen sei. Der Holocaust-Begriff sei erst Ende der 70er Jahre über die gleich­namige US-Fernseh­serie in das öffent­liche Bewusstsein gelangt. Martin Walser habe die deutsche Erinne­rungs­po­litik dann 1989 mit seiner berühmten Rede in Frage gestellt. Insofern gebe es keine Entwicklung vom Dunklen ins Licht, sondern ein ständiges vor und zurück.

Die Befürch­tungen vieler Intel­lek­tu­eller, mit der Wieder­ver­ei­nigung könne ein neuer Natio­na­lismus aufkommen, sei so nicht einge­treten. Die deutsche Politik sei pro-europäisch und zivil geblieben. Aber unter­schwellig hätten sich rechts­ra­dikale Gewalt­aus­brüche verstärkt.

Neue Spaltungs­ten­denzen zwischen Ost und West

Ines Geipel warnte davor, zum 30. Jahrestag der Einheit zu sehr einen inner­deut­schen Konsens zu beschwören. Sie beobachte in den letzten Jahren wieder zuneh­menden Spaltungs­ten­denzen zwischen Ost und West. Im Westen habe man vieles vom Osten nicht mitbe­kommen und verfalle in eine nostal­gische Sehnsucht nach der alten Bundes­re­publik der 1970er Jahre, während im Osten eine schön­ge­färbte DDR-Nostalgie gehegt werde. Die Diffe­renzen müssten auf den Tisch. Man brauche Leben­digkeit der Debatte statt Bräsigkeit und müsse sich wieder neu kennenlernen.

Ralf Fücks bedankte sich abschließend bei den Diskussionsteilnehmer/​innen für das Gespräch. Die Veran­staltung habe ihm auch deshalb gefallen, weil sie ein Beispiel für den konstruk­tiven Umgang mit unter­schied­lichen Sicht­weisen war. Im Streit um die Vergan­genheit gehe es immer auch um die Zukunft, die wir wollen.

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Die Veran­staltung war Teil einer Gesprächs­reihe zu 30 Jahren Deutsche Einheit und wurde gefördert von der Bundes­stiftung Aufar­beitung der SED-Diktatur. Einen Bericht der ersten Diskus­si­ons­ver­an­staltung vom 14. September 2020 mit Wolf­gang Schäuble, Angela Mar­quardt, Werner Schulz, Richard Schrö­der und Ralf Fücks über fort­wir­kende Irri­ta­tio­nen und Dis­kre­pan­zen 30 Jahre nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung finden Sie hier.

 

 


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