Comeback der Centerpartiet (2/2): Eine Bauernpartei für Hipster
Der Konflikt zwischen Autoritären und Liberalen ist häufig auch ein Konflikt zwischen Land und Stadt. Umso erstaunlicher, dass mit der öko-liberalen Zentrumspartei ausgerechnet eine traditionelle Bauernpartei in den schwedischen Großstädten reüssiert. Ihr Programm spricht libertäre Farmer, konservative Umweltschützer und moderne Großstädter gleichermaßen an. Wie gelingt dieser Brückenschlag? Und weshalb ist die „Centerpartiet“ erfolgreicher als die schwedischen Grünen? Antworten im zweiten Teil der Reportage von Sandra Detzer und Sebastian Schaffer.
Unsere Autoren haben Schweden vor der Parlamentswahl am 9.September besucht. Die Schwedendemokraten erreichten am Wahltag 17,5 Prozent und wurden drittstärkste Kraft, die Regierungsbildung gestaltet sich kompliziert. Die Zentrumpartei konnte zulegen und erhielt 8,6 Prozent. Sie gelangte auf den vierten Platz.
Der Wiederaufstieg der Centerpartiet kann nicht erzählt werden, ohne den zeitgleichen Niedergang der schwedischen Grünen mit in den Blick zu nehmen. Miljöpartiet/De Gröna – abgekürzt MP – nennen sie sich hier. Seit vier Jahren sind sie Teil einer rot-grünen Minderheitsregierung. Und sie haben mit den deutschen Grünen neben dem Bindestrichnamen auch viele inhaltliche Positionen gemeinsam. Doch anders als ihre deutsche Schwesterpartei befindet sich die MP in einer schweren Krise. In einem Café im studentisch geprägten Stockholmer Szenestadtteil Södermalm treffen wir Maggie Strömberg, Politikkorrespondentin und Grünen-Expertin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Direkt um uns herum feierten die schwedischen Grünen vor wenigen Jahren noch große Erfolge. Bei den Kommunalwahlen 2014 wurde man auf Södermalm in manchem Wahllokal stärkste Kraft. Heute hingegen dümpelt die Miljöpartiet mit vier Prozent in der demoskopischen Todeszone. In der Hälfte aller Wahlkreise findet die Partei keine Kandidaten mehr, gleich mehrere Abgeordnete haben die Reichstagsgruppe verlassen. In der einstigen Hochburg Stockholm messen Umfrageinstitute teilweise Zustimmungsraten, die sogar noch unterhalb des Landesschnitts liegen. Wie konnte das nur passieren?
Sie wurden wie die anderen
Schweden machte die Schotten dicht. Von der asylpolitischen Kehrtwende haben die schwedischen Grünen sich bis heute nicht erholt.
Maggie Strömberg hat ein Buch geschrieben, das den Aufstieg und die Krise der Grünen analysiert. „Wir wurden wie die anderen“ lautet der Titel. Über viele Jahre hat die Führung der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung hingearbeitet, erklärt sie. Man überwand die traditionell EU-kritische Haltung. Die Wachstumskritik wurde moderater, die Inszenierung gefälliger. Doch als dann 2014 nach einem reichlich verstolperten Wahlkampf der Sprung in eine rot-grüne Minderheitsregierung gelang, wirkte die Partei unvorbereitet. Es schien fast so, als habe man zwar jeden Schritt in die Regierung genau geplant, aber dabei vergessen, auch den Spagat zwischen grünen Idealen und praktischer Regierungsverantwortung einzuüben. Dann kam die Flüchtlingskrise 2015. Während sich die deutschen Grünen aus dem Schutz der Opposition zaghaft an eine neue Realität herantasten konnten, standen die schwedischen Grünen mitten im Sturm. Sie beugten sich unter der Wucht der Ereignisse und dem massiven Druck des sozialdemokratischen Koalitionspartners. In einem scharfen U‑Turn machten die Schweden die Schotten dicht und schlossen die Grenzen für Asylsuchende. Als die Grüne Parteivorsitzende Åsa Romson in einer Pressekonferenz den Kurswechsel ihrer Partei erklärte, versagte ihr die Stimme, und Tränen schossen ihr in die Augen. Von dieser asylpolitischen Kehrtwende haben sich die Grünen bis heute nicht erholt. Sie wurden zum beliebten Gegenstand satirischen Spotts. „Wisst Ihr, womit der Chef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten seine Wahlkampfreden beginnt?“, fragt uns Maggie Strömberg. Und sie antwortet selbst: „Er sagt nur ein Wort: Miljöpartiet. Dann macht er eine Kunstpause, und die Menge johlt höhnisch.“
Gerade hier in der urbanen Hochburg wirkt der grüne Glaubwürdigkeitsverlust nuklear. Wohin gehen die Wähler der Grünen, wollen wir wissen? Ein gewisser Teil wandert zur Linken und zu den Sozialdemokraten ab, aber ein großer Teil wechselt auch direkt zur bürgerlichen Centerpartiet, meint Strömberg. Die schwedischen Millenials von heute wuchsen unter einer bürgerlichen Regierung auf und seien weitgehend unideologisch. Der Sprung über die politische Lagergrenze von Hellgrün zu Dunkelgrün falle da vielen nicht schwer. Zumal die Centerpartiet sich mit klaren proeuropäischen und einwanderungsfreundlichen Positionen auch im urbanen Milieu wählbar mache. Bei der letzten Kommunalwahl erreichte die Centerpartiet hier in der Gegend gerade einmal gut vier Prozent der Stimmen. Die schwedische Hauptstadt war traditionell ihr schwierigstes Pflaster. Nun sagen die Umfragen für Stockholm ihr 10 Prozent und mehr voraus. „Sie gilt vielen mittlerweile als die sympathischere grüne Großstadtpartei“, meint Strömberg.
Dabei entbehrt die Krise der „echten“ schwedischen Grünen nicht einer gewissen Tragik, denn gerade in ihrem Kernthema Umweltschutz haben sie durchaus beachtliche Erfolge wie ein modernes Klimaschutzgesetz vorzuweisen.
Die Beziehungen zwischen der Miljöpartiet und der Centerpartiet gelten als angespannt, aber inhaltlich ziehen beide Parteien doch in wichtigen Fragen am gleichen Strang. Das gilt beispielweise für den Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken im Schienenverkehr, um die Emissionen im Flug- und PKW-Verkehr zu senken. In einer wichtigen Frage wie dem Stopp des schwedischen Uranabbaus war man sich ebenso einig wie beim Ausbau der Windkraft. Auch beim Verbot von Mikroplastik und innerstädtischen Beschränkungen für den Autoverkehr sind die Parteien oft nahe beieinander. Das Verbot für die Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2030 schrieb die Centerpartiet sich schon lange vor den deutschen Grünen ins Programm.
Gleichwohl gibt es Unterschiede. Die Centerpartiet ist im Kern noch immer eine Bauern- und Forstwirtschaftspartei. Wenn es um die Interessen ihrer Klientel geht, ist sie knallhart. Die Dunkelgrünen vom Verbot der Wolfsjagd zu überzeugen ist etwa so erfolgversprechend wie der Versuch, Christian Lindner für eine Vermögenssteuer zu gewinnen.
Zwischen Hellgrün und Dunkelgrün
Einer, der besser als jeder andere über das Verhältnis zwischen Centerpartiet und Grünen Bescheid weiß, ist Mattias Goldmann. Der 46jährige Familienvater ist der Chef des ökoliberalen Thinktanks FORES. Früher war er Kommunikationschef der schwedischen Grünen. Der umtriebige Goldmann ist ein international gefragter Redner, und der Klimaschutz ist sein politisches Lebensthema. Wir sitzen mit ihm im Stockholmer Traditionslokal Pelikan.
FORES – kurz für Forum for Reforms, Entrepreneurship and Sustainability – versteht sich selbst als ein überparteilich arbeitender Think Tank, der alle politischen Parteien und Unternehmen in ökologischen Fragen berät. Er fühlt sich den Grundsätzen von Nachhaltigkeit und Liberalismus gleichermaßen verpflichtet. Klingt nach Centerpartiet, und es steckt auch ziemlich viel Centerpartiet drin. Denn wenngleich der Anspruch der Überparteilichkeit ernstgemeint scheint – Hauptgeldgeber ist seit Beginn die Partei von Annie Lööf.
Als Grünem war ihm die Centerpartiet früher eher suspekt, gesteht er. Doch natürlich sah sich Goldmann in seiner neuen Funktion bei FORES verpflichtet, dem Geldgeber gelegentlich die Aufwartung zu machen. „Einmal bin ich zu einer dieser typischen Center-Versammlungen auf dem Land gefahren. Einige Leute trugen Trachten, und dann wurden auch noch schwedische Volkslieder gesungen. Ich hasse schwedische Volkslieder.“ Aber schließlich kam er mit einer jener typischen „Center-Muttis“ ins Gespräch. Es war 2015, die Zeit der großen Fluchtbewegung. Er fragte sie, wie sie in ihrer Kommune zurechtkämen mit der Integration der vielen Asylsuchenden. Und sie antwortete: „So wie wir mit Herausforderungen immer umgegangen sind. Wir spucken in die Hände und packen an. Die gewöhnen sich schon an uns. Wir können ja bei uns auf dem Land die Leute gut gebrauchen.“ Da begann er, einen neuen Respekt zu entwickeln vor dem inneren Anstand dieser Partei, meint Goldmann. Die Centerpartiet mag ein von außen nur schwer durchdringbarer Kosmos sein. Aber sie ist kein Fake. Sie ist eine Partei, die es ehrlich meint. Davon ist er überzeugt.
Ungeduld als Ökologenpflicht?
Ein Thema, in dem Centerpartiet und Grüne völlig über Kreuz liegen, ist der Flugverkehr. Binnen zehn Jahren hat sich das Verkehrsaufkommen in der schwedischen Luftfahrt verdoppelt. Diese Entwicklung trägt damit einen erheblichen Anteil daran, dass die CO2-Emissionen des Landes steigen statt zu sinken. Keine ernsthafte ökologische Partei kann das ruhen lassen. Die Grünen haben deshalb in der Regierung eine Ticketabgabe eingeführt, die Inlandsflüge mit einer moderaten Pauschalabgabe belastet und Passagiere bei Interkontinentalflügen deutlich spürbar zur Kasse bittet. Die Centerpartiet leistet erbosten Widerstand gegen diese Abgabe und verspricht, sie nach der Wahl wieder abzuschaffen. Im Land der langen Wege haben Inlandsflüge für die Erreichbarkeit entfernter ländlicher Regionen eine hohe Bedeutung. Und diese Regionen wiederum haben bekanntermaßen eine hohe Bedeutung für die Centerpartiet.
Statt der Ticketabgabe schlägt die Partei von Annie Lööf vor, einen schrittweise steigenden Pflichtanteil von Biokerosin und synthetischen Kraftstoffen im Tank jedes Flugzeuges vorzuschreiben, das in Schweden startet oder landet. Die Mittel für die Erforschung alternativer Antriebe will sie dafür deutlich steigern. Gibt es entsprechende Kraftstoffe überhaupt in marktfähigen Mengen, wollen wir wissen? „Und ob!“, entgegnet Goldmann. Das Unternehmen AltAir in Kalifornien beliefere bereits mehrere internationale Fluggesellschaften mit Bioethanol. Das staatliche Unternehmen Swedavia, das alle wichtigen schwedischen Flughäfen betreibe, plane einen fossilfreien inländischen Flugverkehr ab 2030 auf der Grundlage realistischer Zahlen. Das Ziel, sämtliche schwedischen Flughäfen C02-neutral zu betreiben, erreiche Swedavia sogar schon in diesem Jahr. Die schwedische Fluggesellschaft SAS habe gerade erst mit dem Mineralölkonzern Preem gemeinsam eine Biotreibstoff-Fabrik eröffnet. Viele weitere Beispiele ließen sich nennen. „Es gibt nur einen Fakt, den die Centerpartiet ganz gerne auslässt“, meint Goldmann: „Wenn sie befürchtet, dass eine Ticketabgabe die Flugverbindungen in ländliche Gegenden belastet, gehört zur ganzen Wahrheit, dass Biokerosin mindestens dreimal so teuer ist wie herkömmlicher Treibstoff. Natürlich kann man dies zum Teil durch geringere Start- und Landegebühren für diese Flüge ausgleichen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Flugpreise auf diese Weise nicht steigen.“ Biokerosin, so meint Goldmann, könne durchaus einen positiven Effekt auf die CO2-Bilanz entwickeln. Aber die echte Zukunft sei elektrisch. „Die Betreibergesellschaft aller norwegischen Flughäfen AviNor hat sich zum Ziel gesetzt, ab 2040 sämtliche Inlandsflüge rein elektrisch zu betreiben. Da erklären jetzt auch wieder viele Experten, das sei nicht möglich. Aber Boeing, Airbus und andere investieren große Summen in die Entwicklung von E‑Flugzeugen.“
Erste Untersuchungen zeigen laut Mattias Goldmann, dass die derzeitige Ticketabgabe weder die Hoffnungen der Grünen erfülle noch die Befürchtungen der Centerpartiet. Die Schweden fliegen in etwa so viel wie zuvor. Aber der Konflikt zeigt doch die unterschiedliche Herangehensweise beider grüner Parteien. Wo ökologische Politik ungemütlich wird und sich direkt auf den individuellen Konsum richtet, wird die Centerpartiet rasch eine unsichere Kantonistin. Oft und gerne verweist sie dann auf internationale Zusammenhänge: Was beeindrucke die steigenden Flugverkehrsraten in Asien oder Afrika eine schwedische Ticketabgabe? Nur eine Zwangsbeimischung von Biokraftstoffen würde auch Maschinen aus dem Ausland erfassen. Ähnliche Muster gibt es auch in anderen Zusammenhängen: Was nütze eine höhere Pestizidbesteuerung, wenn die landwirtschaftliche Produktion dann nach Osteuropa verdrängt würde, wo man mit erheblich höherem Pestizideinsatz arbeite? Die Hinweise mögen begründet sein. Doch sie werden wohlfeil, wenn keine praktischen Alternativen in Sicht sind.
Noch lieber verweist die Centerpartiet in diesen Momenten auf den technischen Fortschritt. Doch so richtig das auch ist – kann das Weltklima noch länger warten? Geht Umweltschutz wirklich ohne Einschränkungen beim Konsum? Ist Ungeduld nicht die erste Ökologenpflicht? Richtig, meint Mattias Goldmann. Aber er weist darauf hin, dass zur ökologischen Durchsetzungsstrategie immer auch die Breitenwirksamkeit des ökologischen Arguments gehöre. Und hier könnten die Grünen manchmal etwas von der Centerpartiet lernen. Vor einigen Jahren gab sich die Centerpartiet ihren aktuellen Slogan: „närodlad politik“. Direkt übersetzt bedeutet es „lokalproduzierte Politik“. Er fand es ein bisschen spießig. Aber mittlerweile muss er anerkennen, dass es genau dieser Ansatz sei, der funktioniere. Man könne Menschen erklären, dass sie in der Verantwortung für ihren eigenen „carbon footprint“ bewusst konsumieren sollten. Man könne aber auch genauso gut sagen: „Kauf deine Lebensmittel vor Ort. Dann weißt du, woher sie kommen. Sie sind gesund und schmecken besser.“ Das letztere sei oft erfolgversprechender. Und so sei der Ansatz der Centerpartiet in vielem, erklärt Goldmann. Vielleicht liege gerade darin auch ein spezifisch ökoliberaler Ansatz. Annie Lööf würde sagen: „Es muss einfacher sein, das Richtige zu tun. Es muss billiger sein, das Richtige zu tun.“ Und sie wird nicht müde zu erwähnen, dass die CO2-Emissionen in Schweden sanken, als die Centerpartiet noch die Wirtschaftsministerin und Umweltministerin stellten. Alleine die Windenergieerzeugung stieg in den acht Jahren ihrer Regierung um das Siebenfache.
„Ländliche Räume brauchen Freiheit“
Ein Haus an diesem Fluss in Nordschweden? Die Centerpartiet macht’s möglich. Sie will Bauvorschriften lockern.
Das landesweite Hauptquartier der Centerpartiet liegt in einem hübschen Geschäftshaus in der malerischen Stockholmer Altstadt. Hier sind wir mit Karin Carlesten und Martin Ådahl verabredet. Sie ist die Referentin für internationale Beziehungen beim Parteivorstand. Er ist der Chefökonom seiner Partei. Ådahl gehört zu jener Sorte Intellektueller, die sich selten den Namen ihres Gesprächspartners merken, aber dafür immer dessen relevante Argumente. Carlesten ist die vollendete liberale Diplomatin. Wir fragen die beiden, ob sie etwa auch aus Landwirtsfamilien stammen. Carlesten schüttelt den Kopf. Sie komme aus einer klassischen schwedischen Mittelschichtsfamilie und sei in einer Kleinstadt aufgewachsen, die allerdings von Feldern und Bauernhöfen umgeben war. In der Schule besuchten sie regelmäßig Bauernhöfe. Tatsächlich hätten viele ihrer Parteifreunde eine ländliche Sozialisation. Aber es gebe auch eine neue Welle von Parteimitgliedern, die im urbanen Milieu aufgewachsen seien und in ihrer Kindheit vor allem die Kühe von der Milchpackung kannten. Die Zahl der Parteimitglieder in Stockholm hat sich in den Lööf-Jahren verdreifacht.
Auch Ådahl kommt nicht vom Bauernhof, sondern ist in Stockholm zuhause. Aber ihm ist wichtig, dass die Partei den praktischen Bezug zum ländlichen Raum nicht verliert: „Nehmen wir ein Beispiel wie den Ufer- und Gewässerschutz. Die strenge Regulierung in diesem Bereich ist von urbanem Denken geprägt. Im Norden Schwedens gibt es aber mehr Flüsse als Einwohner. Wer hier zu rigide Bauvorschriften im Uferbereich erlässt, macht Ansiedlungen im ländlichen Raum praktisch unmöglich.“ Durch die städtische Brille meine die Politik oft, es bedürfe zusätzlicher Regulierung oder Aktionsprogramme für den ländlichen Raum. Meist sei aber das exakte Gegenteil richtig. Existenzgründungen und Unternehmensansiedlungen seien der Schlüssel zu allem. Und ja – dafür brauche es leistungsfähige Breitbandanbindung im ganzen Land ebenso wie eine gute Verkehrsinfrastruktur. Aber vor allem brauche es Freiräume. Wer zum Beispiel eine brachliegende Fläche neu erschließe oder wieder Licht in die kaputten Fenster leerstehender Gebäude bringe, solle steuerlich entlastet werden. Mehr „machen lassen“. Mehr Freiheit. Darum gehe es.
Grenzen auf, Arbeitsmarkthürden runter?
Was uns immer wieder fasziniere an der Centerpartiet, das sei ihre Position in der Einwanderungsfrage, erklären wir. Für gewöhnlich gebe es schließlich eine höhere Aufgeschlossenheit für kulturelle Vielfalt in den Städten. Und von einer Partei des ländlichen Raums würde man entsprechende Skepsis erwarten. Wie könne es da sein, dass ausgerechnet die Centerpartiet bei der Flüchtlingspolitik die Speerspitze der Offenheit bilde? Ådahl wird fast zärtlich in der Stimme, als er sagt: „Diese Partei hat seit jeher eine zutiefst soziale Grundorientierung. Das ist elementar wichtig, um uns zu verstehen. Wir sind keine sozialdemokratische Umverteilungspartei, aber in uns steckt die Überzeugung, dass eine Gesellschaft die Schwächeren nicht zurücklassen darf. Man sieht es auch an unserer Mitgliedschaft. In keiner anderen Partei gibt es ein so hohes Maß an sozialer Verwurzelung. Wer Mitglied der Centerpartiet ist, der engagiert sich in mindestens einem weiteren Ehrenamt, sei es im Roten Kreuz oder in der Nachbarschaftshilfe. Diese Mitmenschlichkeit trägt auch unsere Asylpolitik.“
Karin Carlesten räumt ein, dass auch die Centerpartiet sich in Anbetracht der Entwicklungen seit 2015 in Teilen neu sortieren musste. Man spreche heute nicht mehr so leichthin über offene Grenzen wie noch vor einigen Jahren. Man habe sich auch um überparteiliche Einigungen in der Flüchtlingspolitik bemüht und dafür Kompromisse gemacht. Aber die Centerpartiet habe schneller als andere Parteien begriffen, dass die Integration der Neuankommenden jetzt die Priorität Nummer eins sei. Man habe zügig und beharrlich immer neue Vorschläge vorgelegt, um Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Unter anderem habe man ein Konzept für Einstiegslöhne entwickelt. Arbeitslose Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderungen und Flüchtlinge sollen demnach drei Jahre lang zwanzig Prozent unter Tariflohn bezahlt werden können, der Staat übernehme die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Nicht zum ersten Mal hören wir den Hinweis auf die deutschen Hartz-Reformen. Hier bewundert man uns dafür.
Die Menschen, die neu nach Schweden kämen, wollten für sich selbst sorgen, sagt Carlesten. Und es müsse ihnen auch ermöglicht werden. Natürlich würden sie weniger verdienen als andere schwedische Arbeitnehmer. Aber sie seien in Sicherheit und könnten ihre Familien versorgen. Manchmal müsse man die Dinge auch durch die Augen derjenigen betrachten, über die man rede. Und wenn man die frage, ob sie lieber einen schlecht bezahlten oder gar keinen Job wollen, wäre die Antwort klar. Wer Tausenden Syrern die Möglichkeit geben wolle, sich hier ein Leben aufzubauen, müsse auch bereit sein, eine größere soziale Ungleichheit der Gesellschaft in Kauf zu nehmen. Die Sozialdemokraten meinten, man müsse die Einwanderer ändern, damit sie ins schwedische System passen. Die Centerpartiet spreche offen aus, dass auch das System sich ändern müsse, um die Einwanderer aufnehmen zu können. Ådahl ergänzt: Man habe jetzt bei den Sozialdemokraten vier Jahre lang den Versuch erlebt, die Integrationsprobleme einfach mit immer mehr Geld zuzuschütten. Dieser Versuch habe erkennbar nicht funktioniert. Natürlich sei Schweden kein Land, in dem es eine gesellschaftliche Akzeptanz für „trailer parks“ gebe. Aber es sei an der Zeit, es mal mit mehr Freiheit, Eigenverantwortung, Chancen zu versuchen.
Wer soll ein solches toxisches politisches Angebot wählen, fragen wir. Zunächst komme die Centerpartiet und fordere eine deutlich humanere Asylpraxis, unter anderem das Recht auf Familiennachzug. Alle rechten Wähler liefen weg. Sodann verlange sie eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Und alle linken Wähler liefen weg. Martin Ådahl antwortet: „Natürlich haben wir das damals auch diskutiert. Aber wir kamen zum Ergebnis: Es ist in der Sache die richtige Politik, also vertreten wir das auch. Wer die Menschen ins Land lässt, der muss ihnen auch einen Zugang in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Einige Wochen später fragte eine große Tageszeitung dann in einer Umfrage, was die Schweden von unserem Konzept der Einstiegslöhne halten. Das Ergebnis war, dass die Mehrheit der Anhänger aller Parteien uns in dieser Forderung unterstützte. Nur die Wähler der Schwedendemokraten und der Linkspartei waren dagegen. Die Mehrheit ist durchaus für vernünftige Argumente zugänglich. Also muss man auch mal öffentlich vorangehen.“
„Framåt!”
„Vorwärts“ – „Framåt“, das ist auch der aktuelle Center-Kampagnenslogan. „Wir wollen einen Wahlkampf führen wie Macron“, sagt Ådahl. „Wenn alle nur noch über Probleme reden, muss auch noch jemand da sein, der über Lösungen redet. Man gewinnt keine Wähler, wenn man ihnen nur Angst einjagt.“ Eine zutiefst optimistische und mitfühlende Kampagne wolle man führen. Und im Mittelpunkt stünde die Botschaft: „Schweden darf nicht auseinanderbrechen.“ Das gelte für Stadt und Land genauso wie für Inländer und Einwanderer.
Schon jetzt ist zumindest eines klar: Die Botschaft der Centerpartiet verfängt längst nicht mehr nur auf dem Land. Tatsächlich entspricht die Wählerschaft der Partei unter Annie Lööf zunehmend einem „U“. Gute Ergebnisse im ländlichen Raum und gute Ergebnisse in den großen Städten. Nur in den Mittelzentren schwächeln die Ökoliberalen weiterhin – wenngleich auch hier die Kurve nach oben zeigt.
Wieviel Kraft und Ressource die Partei für ihren Aufstieg in den Städten aufwendet, lässt sich im frisch eröffneten Wahlkampfhauptquartier der Stockholmer Centerpartiet besichtigen. In dem großen Ladenlokal werden in der heißen Wahlkampfphase für die kombinierte Reichstags- und Kommunalwahl bis zu 20 Hauptamtliche den Kampf um die Stimmen von 2,4 Millionen Bürgern in Stadt und Umland organisieren. Viele junge gutaussehende Leute, die um Pappaufsteller von Annie Lööf herumwuseln. Die Centerpartiet – sie ist die Partei der „beautiful people“.
„Früher mussten wir in Stockholm noch unsere komplett eigenen Kampagnen stricken, weil die Themen von nationaler Ebene einfach nicht zu einem Großstadtwahlkampf passten“, erklärt Karin Ernlund, die junge Stadtverbandsvorsitzende der Stockholmer Centerpartiet. „Aber heute ist das anders. Wir formulieren unsere nationalen Hauptbotschaften so, dass sie für Stadt und Land gleichermaßen anschlussfähig sind.“
Die Förderung von Existenzgründungen passe zum Beispiel in Stadt und Land gleichermaßen. Gesundes regionales Essen schätze man auf dem Land, wo man davon lebe, und in der Stadt, wo man ebenfalls davon lebe. „Schweden darf nicht auseinanderbrechen“ bedeute für den ländlichen Raum, dass er nicht abgehängt werden solle. Innerhalb der Großstadt gehe es darum, soziale Problembezirke am Stadtrand aus der Hoffnungslosigkeit zu holen.
Auf der Suche nach den Suchenden
Gleichwohl wäre die Centerpartiet keine typisch schwedische Partei, wenn sie nicht hochgradig datenbasiertes Campaigning betreiben würde. Die Fäden der Stockholmer Kampagne laufen bei den beiden Geschäftsführern zusammen. Der flachsblonde Anfangdreißiger Gustaf Arnander betreut den Stadtverband. Sein etwas älterer und situierter wirkender Kollege Patrik Lundholm ist für das ländlichere Umland zuständig. Beide könnten optisch für ihre Rollen gecastet sein. Und sie kennen nicht nur ihre Zielgruppen, sondern wissen auch, wo sie wohnen und was sie überzeugt. Während für Lundholms Region die Traditionswähler der Centerpartiet noch eine wichtige Rolle spielen, sind Arnanders wichtiges Wählerpotenzial die „Suchenden“ – Studierende, Kreativarbeitende, urbane Hipster im Innenstadtbereich. Beide treffen sich schließlich wieder bei den „Etablierten“ – den Doppelverdiener-Eltern mit Volvo Kombi und Labrador. Botschaften und Wahlkampfmittel sind auf die jeweiligen Zielgruppen präzise abgestimmt. Die liberale Grundhaltung verbinde alle Wähler der Partei. Und bestimmte Themen wie der Schutz der Gewässer vor Mikroplastik oder die Förderung des Radverkehrs funktionierten hier wie dort. Aber generell müsse man den Wählern in Land und Stadt die gleiche Politik schon noch etwas anders nahebringen.
Die Schnittmenge zum Wählerreservoir der Grünen ist groß, aber nach Einschätzung von Arnander und Lundholm weitestgehend ausgeschöpft. Der zentrale Kampf um die Stimmen findet im Endspurt zwischen der Centerpartiet und den konservativen Moderaten statt. Hier holen die Ökoliberalen über die Hälfte ihrer zusätzlichen Stimmen, und gerade diese Gruppe ist wankelmütig. Ihre Unterstützung basiert auf der einwanderungsfreundlichen und weltoffenen Grundhaltung, die sie derzeit stärker durch die Centerpartiet als durch die Moderaten vertreten sehen. Und sie basiert auf Annie Lööf. „Annie ist der Grund, weshalb wir heiß sind“, fasst Arnander zusammen.
Als wichtigste Themen für die Wähler in Stockholm und Umland hat die Partei den Erhalt von Grünflächen, die Verkehrspolitik und die Integration identifiziert. „Der Schutz des städtischen Grüns hat für unsere Wähler eine enorme Bedeutung“, erklärt Arnander. Aber natürlich wollten gerade die jüngeren Wähler aus der Gruppe der „Suchenden“ auch bezahlbare Mieten. „Hier hilft uns, dass wir in Stockholm schon lange als die Partei der Hochhäuser gelten. Wer Natur und Naherholung erhalten will, muss in die Höhe bauen.“ Außerdem gehe es darum, dass die Stadt den Verkauf öffentlichen Grunds an Kriterien für bezahlbaren Wohnraum knüpfe.
Die innerstädtische Verkehrspolitik bleibe für eine ökologische Partei immer ein heißes Eisen, erläutert er: „Je weiter wir uns von unserer Kernwählerschaft entfernen, desto mehr lieben die Wähler ihre SUVs.“ Aber oft ginge es auch darum, die Politik einfach richtig zu erklären. So habe die Centerpartiet erst kürzlich Tempo 30 im gesamten Stockholmer Innenstadtbereich gefordert. „Natürlich sind damit nicht alle einverstanden. Aber wenn wir fragen: Wäre es nicht schön, wenn in Stockholm so wie früher mal wieder Kinder sicher auf der Straße spielen könnten? – Dann kommt schon so mancher ins Grübeln.“
Bei der Integration gehe es schließlich stark um die Wertevermittlung und Einhaltung gemeinsamer Regeln. Aber von enormer Bedeutung für die Wähler der Centerpartiet sei auch die verlässliche Absage an jede Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten.
Die Centerpartiet auf dem Weg zur Macht?
„Vorwärts!“, das Motto der Centerpartiet
Wir verlassen die Stockholmer Kampagnenzentrale in der Gewissheit: Diese Partei hat Rückenwind. Doch wohin wird er sie führen? Das fragen wir auch den Politikjournalisten Stikkan Andersson, während wir in einem Caféhaus im Geschäftsviertel Norrmalm zusammensitzen. Die nationalen Meinungsumfragen machen deutlich, dass keines der traditionellen politischen Lager auf eine Mehrheit nach der Wahl hoffen darf. Die Rechtsextremen blockieren jede Mehrheitsbildung. Sozialdemokraten, Grüne und Linkspartei auf der einen Seite und die bürgerliche Allianz auf der anderen Seite liefern sich ein Kopf an Kopf-Rennen, nur kommen sie niemals über die Ziellinie. „Annie Lööf hat durch ihre Position in der Einwanderungs- und Integrationspolitik an Statur gewonnen“, konstatiert Andersson. Aber das bürgerliche Lager wirke dadurch auch zerrissener als seit vielen Jahren. Insbesondere die klare Absage von Lööf an jede Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten habe den leichtesten Weg der Bürgerlichen zurück an die Macht versperrt. „Denkbar ist jetzt nur noch eine Minderheitsregierung der Moderaten unter Tolerierung der Schwedendemokraten – ohne die Centerpartiet“, meint Andersson. Aber vielleicht gelinge es den Sozialdemokraten auch noch, die Centerpartiet und die Liberalen hinüberzuziehen und sich so eine Mehrheit zu beschaffen. Sie versuchten es zumindest eifrig, auch wenn Lööf ihnen bewusst die kalte Schulter zeige. Und wenn weder das eine noch das andere funktioniere, wollen wir wissen? Dann gebe noch eine dritte Variante, die derzeit wenige auf dem Schirm hätten, erklärt Andersson: „2001 waren wir schon einmal nahe dran an einer Minderheitsregierung der kleinen Mitteparteien. Grüne, Liberale und Centerpartiet. Ich halte das auch diesmal nicht für undenkbar, wenn die Lage verfahren sein sollte.“ In einem solchen Bündnis wäre die Centerpartiet deutlich die stärkste Partei. Eine Staatsministerin Lööf in einem grün-grün-gelben Bündnis also? Wahrscheinlich ist es wohl nicht. Unmöglich aber auch nicht.
Wir spazieren durch das sommerliche Stockholm zum Nobelkaufhaus „NK“. Annie Lööf stellt hier ihr neues Buch vor. „Augenblick der Wahrheit“ heißt es. Es ist eines jener Bücher, die Politiker schreiben, wenn sie wegen der Karriere noch nichts riskieren wollen, aber für den Wahlkampf eine Lesereise gebrauchen können. In der Buchhandlung des Kaufhauses tragen sie Stühle heran, weil sie von der Zahl der Besucher überrascht wurden. Nicht nur Lööf liest hier heute. Auch das populäre Urgestein der Liberalen Lars Leijonborg hat sich mit neuem Buch angekündigt.
Lööf lässt sich routiniert vom Buchhändler interviewen. Sie spricht über die „metoo“-Debatte. Sie spricht über ihre kleine Tochter, ihre Ehe und den Tod der Großeltern. Sie spricht – natürlich – über die Bedeutung des Unternehmertums und darüber, dass Schweden nicht auseinanderbrechen darf. Sie spricht über die Gefahr von Rechts und darüber, dass Schweden seine Werte verteidigen muss.
Danach kommt ihr liberaler Kollege an die Reihe. Und er bestätigt jedes Klischee von älteren Herren, die sich selbst gerne reden hören. Annie Lööf lächelt höflich und nickt hin und wieder, taxiert immer wieder die Gesichter des Publikums. Niemals würde sie der Versuchung nachgeben und auf ihre Armbanduhr oder ihr Smartphone schauen, während hunderte Augenpaare auf sie gerichtet sind. Annie Lööf ist eine Frau mit einem Plan und der Disziplin, ihn bis zum Ziel zu verfolgen. Keine Fehler. Nicht jetzt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt Leijonborg dann doch zum Ende. Beide stellen sich nebeneinander zum Büchersignieren an zwei Bistrotische. Das Publikum springt auf und bildet eine Schlange. Vor dem Tisch von Annie Lööf.
Schweden im Sommer 2018 ist ein Land, in dem viel in Bewegung geraten ist. Wenn es gut läuft, dann bewegt es sich in die Richtung von Annie Lööf und ihrer Centerpartiet. Framåt. Vorwärts.
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