On the road: Taiwan und die Entde­ckung der Zivilgesellschaft

tomscy2000/​Flickr

Während der Westen auf das autoritär expan­die­rende China starrt, wird Taiwans erfolg­reiche Trans­for­mation von einer Diktatur zu einem liberalen Rechts- und Wohlfahrts­staat übersehen. Notizen über eine bedrohte Insel der Freiheit.

Eine der belieb­testen autori­tären Erzäh­lungen geht so: der Menschen­rechts-Univer­sa­lismus sei eine westliche Ideologie, die dessen Hegemonie stütze und obendrein abstrakt und vage sei. Was „die Völker“ im Inneren zusam­men­halte sei in Wahrheit eine „autochthone Kultur“.

Die Öffent­lichkeit disku­tierte, bis sie ein chine­sische Äquivalent für „Zivil­ge­sell­schaft“ gefunden hatte. 

Wer im gegen­wär­tigen Taiwan unterwegs ist, kann die Probe aufs Exempel machen – und wird ein immenses Gelächter als Antwort bekommen. Wenn jemand erfahren hat, dass sich autoritäre Herrschaft durch den Rekurs auf Kultur recht­fertigt, dann ist es die 23-Millionen-Bevöl­kerung des ostasia­ti­schen Insel­staates von der Größe des Bundes­landes Baden-Württemberg.

Kultur­kampf mit den Kommunisten

Als 1949 die natio­nal­chi­ne­si­schen Kuomintang – Maos unter­legene Bürger­kriegs­gegner – auf der Flucht vom Festland hierher auf die Insel gekommen waren, hatten sie unter General Chiang Kai-shek sogleich ein repres­sives System instal­liert, das sich von dem der Rotchi­nesen aller­dings durch die Beibe­haltung der Privat­wirt­schaft unter­schied. (Ein Glücksfall, denn gerade die private Wirtschaft erwies sich zu Beginn der achtziger Jahre als einer der Motoren der pragma­ti­schen Demokra­ti­sierung, ähnlich wie in Spanien, Südkorea und Chile.) Zugleich wurde ein Kriegs­recht ausge­rufen, das bis 1987 gültig sein sollte, und jegliche Opposition unter dem Vorwand zu unter­drücken half, sie sei „kommu­nis­tisch subversiv“. Der Gegensatz zur kommu­nis­ti­schen Volks­re­publik wurde nicht etwa politisch buchsta­biert, sondern als ein kultu­reller Kampf um die „wahre Seele Chinas“ darge­stellt, den die Chiang Kai-shek-Partei KMT angeblich ausfocht. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Bedrohung durch China

Inzwi­schen ist Taiwan eine stabile Demokratie. Auf die ersten freien Wahlen im Jahr 1992 folgten regel­mäßige Fortset­zungen, und die einst allmächtige KMT befindet sich inzwi­schen in der Opposition – und beschimpft die regie­rende bürger­rechts­li­berale DPP, sie verrate die „chine­sische Kultur“. Ironi­scher- oder besser: logischer­weise wird der gleiche Vorwurf auch aus Peking erhoben, wo man alles versucht, das längst de facto unabhängige Taiwan zu kujonieren, mit militä­ri­schen Manövern einzu­schüchtern und westliche Unter­nehmen zu zwingen, auf ihren Websites die Insel als Teil Chinas zu dekla­rieren. Unter den ersten Fluglinien, die deshalb die Bezeichnung „Taipeh/​Taiwan“ cancelten, befand sich die eilfertige deutsche Lufthansa.

Faszi­nierend, wie Taiwans Bevöl­ke­rungs­mehrheit mit dem kultu­ra­lis­ti­schen Schul­ter­schluss zwischen Pekinger Partei-Kommu­nisten und „nationalchinesisch“-reaktionären Antikom­mu­nisten umgeht – nämlich mit oben erwähntem Gelächter und einem unbeküm­merten wie effizi­enten Weiter­werken am Erfolgs­modell Taiwan.

Liberale Werte als gesell­schaft­licher Kitt

Gerade der Menschen­rechts­uni­ver­sa­lismus erweist sich in Taiwan als gesell­schaft­licher Kitt. Keineswegs sind es lediglich Intel­lek­tuelle, progressive Politik­wis­sen­schaftler oder Queer-Aktivisten, die das Hohelied auf freie Wahlen, angst­freie Debatten, insti­tu­tio­na­li­sierte Minder­hei­ten­rechte, hohe Umwelt- und Sozial­stan­dards und eine plurale Medienwelt singen. Taiwa­nesen, aufgrund des avancierten Bildungs­systems auch außerhalb der Haupt­stadt Taipeh bis zu den Mittfünf­zig­jäh­rigen beinah ausnahmslos englisch­sprachig, sind durch alle Bevöl­ke­rungs­schichten verblüffend kommu­ni­kativ. Und selbst die KMT-Wähler wollen weder zurück zur Diktatur noch eine Wieder­ver­ei­nigung mit China. Befragt, was das Besondere an ihrer Insel sei, werden genau jene längst im Lebens­welt­lichen veran­kerten Werte aufge­zählt, die – glaubt man den autori­tären Kultu­ra­listen der Region und diversen „China-Verstehern“ im Westen – doch eher unasia­tisch sind.

Wahr an solchen Zuschrei­bungen, so der Soziologe Michael Hsin-huang Hsiao, sei allein die Tatsache, dass bis in die achtziger Jahre hinein kein chine­si­sches Wort für „Zivil­ge­sell­schaft“ existierte: „Aber bedeutet das, dass eine Zivil­ge­sell­schaft ´Un-Chine­sisch´ ist oder gar vom westlichen Ausland aufge­pfropft? Bullshit!“

Die Erfindung der Zivilgesellschaft

Der gutge­launt wirkende Professor erinnert daran, dass das erste Wider­stands­signal gegen das KMT-Regime von einer vermeintlich unpoli­ti­schen Verbraucher-Initiative gekommen war, die gegen gesund­heits­schäd­liche Produkte und irrefüh­rende Konsu­menten-Infor­mation auf Verpa­ckungen stritt. Danach schlossen sich Frauen zusammen, um gegen ihre Diskri­mi­nierung auf dem Arbeits­markt zu protes­tieren. 1983 begann das lesefreudige Land sogar über einen emanzi­pa­to­risch-schwulen Roman zu disku­tieren, der unter dem Radar der Zensur hindurch­ge­schlüpft war. „Stück für Stück haben wir Taiwa­nesen uns die Freiheit erobert. Es fehlte dann nur noch die einhei­mische Vokabel für jene ´Zivil­ge­sell­schaft‚, die de facto längst existierte.“ Herr Hsiao beriet sich damals mit Kollegen und disku­tierte in der engagierten Öffent­lichkeit – bis sie das chine­sische Äquivalent für „Zivil­ge­sell­schaft“ schließlich gefunden hatten.

Folge­richtig, dass Festland-China in seiner Region das Beispiel einer gelun­genen Trans­for­mation in eine liberale Demokratie fürchtet – umso mehr, da Taiwan angesichts der äußeren Bedrohung den China den innen­po­li­ti­schen Streit und Debatten (wie etwa die jetzige im Vorfeld des Referendums zur Legali­sierung gleich­ge­schlecht­licher Ehen) nicht zur quantité negli­géable erklärt und Vielfalt im Inneren lebt.

Fazit: Eine wirtschaftlich und militä­risch vom übermäch­tigen Nachbarn bedrohte Insel weigert sich gewitzt, den autori­tären Schablonen zu entsprechen. Angesichts des Unmuts und der apoka­lyp­ti­schen Unter­gangs­stimmung, die aufgrund gerin­gerer Probleme durch Westeuropa wabert, wäre Taiwans wachsame Gelas­senheit durchaus nachahmenswert.

Textende

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.