On the road: Taiwan und die Entdeckung der Zivilgesellschaft
Während der Westen auf das autoritär expandierende China starrt, wird Taiwans erfolgreiche Transformation von einer Diktatur zu einem liberalen Rechts- und Wohlfahrtsstaat übersehen. Notizen über eine bedrohte Insel der Freiheit.
Eine der beliebtesten autoritären Erzählungen geht so: der Menschenrechts-Universalismus sei eine westliche Ideologie, die dessen Hegemonie stütze und obendrein abstrakt und vage sei. Was „die Völker“ im Inneren zusammenhalte sei in Wahrheit eine „autochthone Kultur“.
Die Öffentlichkeit diskutierte, bis sie ein chinesische Äquivalent für „Zivilgesellschaft“ gefunden hatte.
Wer im gegenwärtigen Taiwan unterwegs ist, kann die Probe aufs Exempel machen – und wird ein immenses Gelächter als Antwort bekommen. Wenn jemand erfahren hat, dass sich autoritäre Herrschaft durch den Rekurs auf Kultur rechtfertigt, dann ist es die 23-Millionen-Bevölkerung des ostasiatischen Inselstaates von der Größe des Bundeslandes Baden-Württemberg.
Kulturkampf mit den Kommunisten
Als 1949 die nationalchinesischen Kuomintang – Maos unterlegene Bürgerkriegsgegner – auf der Flucht vom Festland hierher auf die Insel gekommen waren, hatten sie unter General Chiang Kai-shek sogleich ein repressives System installiert, das sich von dem der Rotchinesen allerdings durch die Beibehaltung der Privatwirtschaft unterschied. (Ein Glücksfall, denn gerade die private Wirtschaft erwies sich zu Beginn der achtziger Jahre als einer der Motoren der pragmatischen Demokratisierung, ähnlich wie in Spanien, Südkorea und Chile.) Zugleich wurde ein Kriegsrecht ausgerufen, das bis 1987 gültig sein sollte, und jegliche Opposition unter dem Vorwand zu unterdrücken half, sie sei „kommunistisch subversiv“. Der Gegensatz zur kommunistischen Volksrepublik wurde nicht etwa politisch buchstabiert, sondern als ein kultureller Kampf um die „wahre Seele Chinas“ dargestellt, den die Chiang Kai-shek-Partei KMT angeblich ausfocht.
Bedrohung durch China
Inzwischen ist Taiwan eine stabile Demokratie. Auf die ersten freien Wahlen im Jahr 1992 folgten regelmäßige Fortsetzungen, und die einst allmächtige KMT befindet sich inzwischen in der Opposition – und beschimpft die regierende bürgerrechtsliberale DPP, sie verrate die „chinesische Kultur“. Ironischer- oder besser: logischerweise wird der gleiche Vorwurf auch aus Peking erhoben, wo man alles versucht, das längst de facto unabhängige Taiwan zu kujonieren, mit militärischen Manövern einzuschüchtern und westliche Unternehmen zu zwingen, auf ihren Websites die Insel als Teil Chinas zu deklarieren. Unter den ersten Fluglinien, die deshalb die Bezeichnung „Taipeh/Taiwan“ cancelten, befand sich die eilfertige deutsche Lufthansa.
Faszinierend, wie Taiwans Bevölkerungsmehrheit mit dem kulturalistischen Schulterschluss zwischen Pekinger Partei-Kommunisten und „nationalchinesisch“-reaktionären Antikommunisten umgeht – nämlich mit oben erwähntem Gelächter und einem unbekümmerten wie effizienten Weiterwerken am Erfolgsmodell Taiwan.
Liberale Werte als gesellschaftlicher Kitt
Gerade der Menschenrechtsuniversalismus erweist sich in Taiwan als gesellschaftlicher Kitt. Keineswegs sind es lediglich Intellektuelle, progressive Politikwissenschaftler oder Queer-Aktivisten, die das Hohelied auf freie Wahlen, angstfreie Debatten, institutionalisierte Minderheitenrechte, hohe Umwelt- und Sozialstandards und eine plurale Medienwelt singen. Taiwanesen, aufgrund des avancierten Bildungssystems auch außerhalb der Hauptstadt Taipeh bis zu den Mittfünfzigjährigen beinah ausnahmslos englischsprachig, sind durch alle Bevölkerungsschichten verblüffend kommunikativ. Und selbst die KMT-Wähler wollen weder zurück zur Diktatur noch eine Wiedervereinigung mit China. Befragt, was das Besondere an ihrer Insel sei, werden genau jene längst im Lebensweltlichen verankerten Werte aufgezählt, die – glaubt man den autoritären Kulturalisten der Region und diversen „China-Verstehern“ im Westen – doch eher unasiatisch sind.
Wahr an solchen Zuschreibungen, so der Soziologe Michael Hsin-huang Hsiao, sei allein die Tatsache, dass bis in die achtziger Jahre hinein kein chinesisches Wort für „Zivilgesellschaft“ existierte: „Aber bedeutet das, dass eine Zivilgesellschaft ´Un-Chinesisch´ ist oder gar vom westlichen Ausland aufgepfropft? Bullshit!“
Die Erfindung der Zivilgesellschaft
Der gutgelaunt wirkende Professor erinnert daran, dass das erste Widerstandssignal gegen das KMT-Regime von einer vermeintlich unpolitischen Verbraucher-Initiative gekommen war, die gegen gesundheitsschädliche Produkte und irreführende Konsumenten-Information auf Verpackungen stritt. Danach schlossen sich Frauen zusammen, um gegen ihre Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu protestieren. 1983 begann das lesefreudige Land sogar über einen emanzipatorisch-schwulen Roman zu diskutieren, der unter dem Radar der Zensur hindurchgeschlüpft war. „Stück für Stück haben wir Taiwanesen uns die Freiheit erobert. Es fehlte dann nur noch die einheimische Vokabel für jene ´Zivilgesellschaft‚, die de facto längst existierte.“ Herr Hsiao beriet sich damals mit Kollegen und diskutierte in der engagierten Öffentlichkeit – bis sie das chinesische Äquivalent für „Zivilgesellschaft“ schließlich gefunden hatten.
Folgerichtig, dass Festland-China in seiner Region das Beispiel einer gelungenen Transformation in eine liberale Demokratie fürchtet – umso mehr, da Taiwan angesichts der äußeren Bedrohung den China den innenpolitischen Streit und Debatten (wie etwa die jetzige im Vorfeld des Referendums zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen) nicht zur quantité negligéable erklärt und Vielfalt im Inneren lebt.
Fazit: Eine wirtschaftlich und militärisch vom übermächtigen Nachbarn bedrohte Insel weigert sich gewitzt, den autoritären Schablonen zu entsprechen. Angesichts des Unmuts und der apokalyptischen Untergangsstimmung, die aufgrund geringerer Probleme durch Westeuropa wabert, wäre Taiwans wachsame Gelassenheit durchaus nachahmenswert.
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