Sachsen: Vom Erfolgsmodell zum Problemfall
Kurt Biedenkopf hat Sachsen wirtschaftlich modernisiert. Doch sein Regierungsstil förderte die Untertanenmentalität und schadete der kritischen Zivilgesellschaft. Für Rechtspopulisten ist das heute ein idealer Nährboden.
Als die DDR untergegangen war, und sich das neue Deutschland formierte, galt Sachsen als Hoffnungsträger. Die Voraussetzungen im Südosten waren besser als anderswo in Ostdeutschland – der Transformationsprozess von der zentralen Verwaltungswirtschaft zum Kapitalismus, vom Kasernenhofsozialismus in eine demokratische Gesellschaft: Hier könnte er gelingen.
Sachsen war ein Industrieland mit einer über 100jährigen Tradition, ein Land der Ingenieure und Tüftler. Zudem kannte die Welt den Landstrich, zumindest zwei seiner Großstädte: Leipzig wegen der Messe, als Drehscheibe des Ost-West-Handels und Dresden, die alte Residenzstadt an der Elbe mit ihren einmaligen Gemäldesammlungen und Museen.
In der Biedenkopf-Ära wurde vieles gefördert, nur eines nicht: der kritische, partizipationsfähige Bürger.
Sachsen startete schnell. Während andere noch marode DDR-Betriebe abwickelten und der verblichenen Industriemoderne nachtrauerten, entstanden in Dresden die ersten Halbleiterwerke. Wissenschaftler aus aller Welt zog es nach Sachsen in die neugegründeten Forschungseinrichtungen. Das Schulsystem wurde umgekrempelt, passgenau für die Erfordernisse der neuen Zeit. Wenige Jahre nach dem Fall der Mauer sah das Land schon ganz schön modern aus.
Doch dann kam erst die rechtsextreme NPD, später die rassistische PEGIDA und die rechtspopulistische AfD. Sachsen wurde zum Symbol eines gestrigen, hässlichen Deutschlands: national, provinziell, ausländerfeindlich und kulturreaktionär.
Doch wieso kippte die Stimmung ausgerechnet in Sachsen? Es hat viel zu tun mit dem Mann, der das Land nach 1989 prägte, wie kaum ein andere: Kurt Biedenkopf, der erste Ministerpräsident nach der Einheit.
Von Beginn an ist die Beziehung zwischen Sachsen und Biedenkopf symbiotisch. Die Sachsen brauchten einen wie Biedenkopf. Und Biedenkopf brauchte ein Land wie Sachsen.
Im Westen war der CDU-Politiker auf dem Abstellgleis gelandet. Als der Ostblock erodierte war der kluge Professor nur noch Zaungast. Ganz am Rand der politischen Bühne musste er verfolgen, wie sein alter Widersacher Helmut Kohl mit der Vorbereitung der deutschen Einheit Geschichte schrieb. Biedenkopf, in den siebziger Jahren CDU-Generalsekretär, Wahlkampfmanager, Vor- und Querdenker seiner Partei, hatte abgeschlossen mit der aktiven Politik. Sein vorerst letzter Versuch in der Landespolitik Nordrhein-Westfalens war jämmerlich gescheitert. Biedenkopf zog sich zurück in eine kleine aber mit lukrativen Mandaten ausgestattete Anwaltskanzlei in Bonn, schrieb Bücher über die Zukunft der Rente und die Probleme in einer überalterten Gesellschaft.
Dann sollte eine von vermögenden Freunden subventionierte Gastprofessur für Volkswirtschaft an der Karl-Marx-Universität in Leipzig alles ändern. Im Osten, wo alles im Umbruch war, der Sozialismus abgewirtschaftet und der Kapitalismus sich noch ungewohnt und fremd anfühlte, fand Biedenkopf wieder aufmerksame Zuhörer. Sein Rat war gefragt, bei alten SED-Genossen, die sich zum persönlichen Wohlergehen wenden wollten, genauso wie bei ehemaligen Montagsdemonstranten, die eine reformierte DDR längst in der Sehnsucht nach einem vereinten Deutschland und einem auferstandenen Sachsen vergessen hatten. Biedenkopf versprach keine Wunder, erklärte immer wieder, wie steinig der Weg zu Wohlstand und Wohlergehen sein werde. Doch wenn es ein Volk schaffen könnte, dann die Sachsen, die in der Vergangenheit prächtige Reiche gegründet hatten und im 19.Jahrhundert den Takt der Industrialisierung vorgaben.
Und irgendwie war Biedenkopf ja auch einer von Ihnen. Er war in Ludwigshafen geboren, aber seine Kindheit und frühe Jugend hat er in Schkopau verbracht, das damals, in den dreißiger Jahren, noch zu Sachsen gehörte.
Wer also, wenn nicht er, könnte Sachsen wieder zur alten Größe führen. Kurt Biedenkopf, der Sohn eines Buna-Betriebsleiters, der in den USA studiert hatte, Präsident der Ruhr-Universität war, beim Waschmittelkonzern Henkel im Vorstand saß und die Union mit einem demagogischen Freiheit-statt-Sozialismus-Wahlkampf zur stärksten Partei machte.
Als die DDR sich in Abwicklung befand, saß Biedenkopf in mehreren Aufsichtsräten ehemaliger volkseigener Betriebe und Kombinate. An einem Tag im August 1990 war er auf dem Rückweg von der Aufsichtsratssitzung der Buna-Werke nach Leipzig in die Universität. Die Gewerkschaft ÖTV hatte den Verkehr lahmgelegt, der Platz vor der Hochschule war gesperrt. Biedenkopf parkierte seinen Wagen vor dem Gewandhaus, ausgerechnet auf jenem Stellplatz, der für den Chefdirigenten Kurt Masur reserviert war. Doch der aufgeregt herbeieilende Pförtner war nicht etwa ungehalten, sondern erfreut und schon ein wenig huldvoll, als er den Falschparker erkannte: „Ei verbibsch. Der neie sächs‘sche Kenich“.
Wie die Mehrheit der Sachsen wollte auch Biedenkopf niemals reformieren, sondern restaurieren. Gemeinsames Ziel war die Wiederherstellung einer präsozialistischen Bürgerlichkeit.
Die Geburtsstunde von König Kurt. Am 14.Oktober, einem sonnigen Herbstsonntag ist Landtagswahl in Sachsen. Die Prognosen versprechen einen fulminanten Wahlsieg für die CDU und ihren Spitzenkandidaten. Am Ende waren es 53,8 Prozent, das beste Ergebnis für die CDU bei den ersten Landtagswahlen im Osten.
Dabei war der Wessi, der sich sogar noch in die DDR hat einbürgern lassen, alles andere als erste Wahl für Sachsens CDU. Andere CDU-Politiker waren im Gespräch. Helmut Kohl war jeder Recht, wie er dem damaligen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière erklärte, nur nicht „dieser Traumtänzer“. Und damit meinte Kohl seinen Querdenker Biedenkopf.
Gegen Heiner Geißler, Biedenkopfs Nachfolger als CDU-Generalsekretär, hatte Kohl nichts, und die Sachsen-CDU hätten ihn liebend gern als Spitzenkandidat aufgestellt. Doch Geißler mochte nicht. Und so wurde Kurt Biedenkopf gefragt – von Lothar Späth, damals Ministerpräsident Baden-Württembergs, der sich ein wenig verantwortlich fühlte für die Gestaltung der politischen Zukunft in Sachsen.
Biedenkopf stimmte seinem politischen Karriere-Comeback zu – unter Bedingungen: Freie Hand beim Personal und keine Intrigen – gegen ihn, versteht sich. Ein Angebot, das Späth weder ablehnen konnte noch wollte. Und selbst Kohl überließ nun, wenn auch zähneknirschend, dem „Traumtänzer“ den Südosten der DDR, der alsbald der Freistaat Sachsen werden sollte. Biedenkopf notierte in sein Tagebuch: „Eine Genugtuung habe ich. Ich werde nun wohl doch Ministerpräsident werden, wenn auch nicht in NRW“.
Die CDU-Notlösung sollte sich für die Sachsen als Glücksfall erweisen. Sie bekamen einen Regierungschef, der ihnen zwar wirtschaftlich einiges zumutete aber nie ihre Selbstgewissheit anzweifelte oder auch nur kritisch in Frage stellte. Mit Biedenkopf bekamen sie in einer wirren Umbruchzeit genau den Mann, den sie brauchten; der sie darin bestärkte, dass nur das Joch des realexistierenden Sozialismus die Sachsen bisher daran hinderte, ein glückliches und prosperierendes Völkchen zu sein.
Wie die Mehrheit der Sachsen wollte auch Biedenkopf niemals reformieren, sondern restaurieren. Gemeinsames Ziel war die Wiederherstellung einer präsozialistischen Bürgerlichkeit. Dem Spätberufenen machte so das Regieren große Freude. Ganz anders als in Nordrhein-Westfalen himmelte die gesamte Partei Biedenkopf an, und in Sachsen wurde der spröde, selbstgewisse Professor sogar populär, ein richtiger Landesvater. „Eine Art höheres Wesen zum Anfassen“, schwärmte ein CDU-Landtagsabgeordneter der ersten Stunde.
Und für Biedenkopf wohl das Überraschendste von allem, er musste sich dafür nicht einmal ändern. „Erstmals in seinem Leben agiert Kurt Biedenkopf nun ohne Korrektiv. Kein Kanzler kann ihn hindern, kein Gegenspieler ausbremsen. Die Sachsen erleben Biedenkopf pur.“ So bewertete der Spiegel das erste Dresdner Regierungsjahr.
Biedenkopf pur – das hieß: Regieren im Stil des Oberseminars oder eines Vorstandskonzern-Meetings. Von seinen Ministern will er nichts von Problemen hören, sondern Lösungen präsentiert bekommen. Er liebt den Diskurs, solange am Ende alle seiner Meinung sind. Denn Biedenkopf weiß alles, oder zumindest alles besser.
Die Ressorts, die ihm besonders nahe sind, Finanzen, Wirtschaft besetzt er mit Männern seines Vertrauens aus dem Westen. Die anderen Ministerien leiten Ostdeutsche, CDU-Blockföten sind dabei und ehemalige DDR-Oppositionelle. Ihnen zur Seite stellt Biedenkopf Staatssekretäre aus dem Westen. In der Regel altgediente Ministerialbeamte aus den unionsregierten Südländern, Bayern und Baden-Württemberg, die Tricks und Fallstricke bundesrepublikanischer Bürokratie bestens kennen. Die Westbeamten sollen auch Acht darauf geben, dass ihre ostdeutschen Minister die Realitäten des neuen Deutschlands akzeptieren.
Biedenkopf genießt den Ruhm und ist dafür dankbar. Wohl auch deswegen ignoriert er erstmal, dass sich im Freistaat die ersten rechtsextremen Rollkommandos formieren.
Für Biedenkopf spielt das Kabinett ohnehin nur eine Nebenrolle. Die wichtigen Entscheidungen werden in der Küche getroffen – einer Regierungs-Wohngemeinschaft, die neben dem Ministerpräsidenten, seine Frau, alle Westminister, Staatssekretäre sowie Biedenkopfs Staatskanzlei-Entourage beherbergt. Informell und auf dem kurzen Dienstweg regiert das Küchenkabinett, stellt wirtschafts- und finanzpolitische Weichen, und lauscht dem Professor, wenn er wiedermal über die Lage Deutschlands und der Welt doziert.
Mit seiner Wahl zum sächsischen Ministerpräsidenten kehrt Biedenkopf auch auf die bundespolitische Bühne zurück. Der Beute-Sachse wird das Gesicht des Ostens in Bonn. Er handelt den Solidarpakt mit aus, der die finanzielle Unterstützung des Beitrittsgebiets über mehr als zwei Jahrzehnte sichern sollte. Er ist gefragt in Talkshows, wenn über die die Treuhandanstalt, Stasi, oder ostdeutsches Selbstgefühl geredet wird. Und selbst der Einheitskanzler muss sich nun wieder auf den besserwisserischen Professor einlassen. Denn im Gegensatz zu seine Pendants in den anderen Ostländern nimmt die politische Klasse in Bonn Biedenkopf ernst.
Biedenkopf genießt den Ruhm und ist dafür dankbar. Wohl auch deswegen ignoriert er erstmal, dass sich im Freistaat die ersten rechtsextremen Rollkommandos formieren, völkisches Gedankengut attraktiv und Rassismus normal wird.
Die Sieg-Heilrufe bei den jährlichen Neonazi-Aufmärschen in Dresden, verharmloste Biedenkopf als „einfaches Ganoventum“, nichts politisch Brisantes, lediglich „ Rechtswidrigkeiten von jungen Leuten, die entwurzelt sind“. In Kurts Welt erschien Neonazismus und Rassismus als ein politischer Faktor erst, als die rechtsextreme NPD und neofaschistische Kameradschaften bereits dabei waren, ganze Landstriche zu bestimmen und vor allem ausländische Investoren zu verschrecken.
Doch auch dann noch ließ er die Rechts-Blinker in den eigenen Reihen gewähren. Sein Justizminister sprach von einer angeblichen Überfremdung, und Biedenkopf schwieg. CDU-Landtagsabgeordnete mit DDR-Biographie gefielen sich darin, „stolz Deutsche zu sein“ und zelebrierten einem provinziellen Sachsen-Chauvinismus. Biedenkopf ließ sie gewähren.
Wie in der Tigerstaaaten des fernen Osten war auch in Biedenkopfs Sachsen Kritik eher unerwünscht.
Denn derart naive Geschichts- und Weltvergessenheit, wirkte zwar etwas schrullig und gestrig, doch es erschwerte Biedenkopfs Sachsen-Wiedergeburtshilfe nicht. Sachsen wieder groß zu machen und glänzen zu lassen, nur das zählte.
Und so entwickelte sich in der Biedenkopf-pur-Ära Sachsen zu einem recht eigenartigen Land. So ein bisschen Singapur nur ohne Stockhiebe. Wie in der Tigerstaaaten des fernen Osten war auch in Biedenkopfs Sachsen Kritik eher unerwünscht. Große Teile der Opposition, vor allem die Sozialdemokratie, ließen sich ohnehin und ganz freiwillig vom Sachsen-Wir-Gefühl einlullen.
Für Biedenkopf war parlamentarische und außerparlamentarische Opposition beim Aufbau Sachsens ohnehin eine zu vernachlässigende Größe, denn wie er selbst gerne alle wissen ließ, seine Opposition sei die Wirklichkeit. Und so wurde die CDU eine Staatspartei, die über Jahre das Gefühl vermittelte, wenn man sie und Biedenkopf nur ungehindert machen ließe, werde alles gut.
Und sie hatten ja durchaus Erfolge vorzuweisen: spektakuläre Firmenansiedlungen, wie VW bei Zwickau, BMW und Porsche in Leipzig und eine ganzes Cluster von HighTech-Betrieben in Dresden. Die Staatsfinanzen waren solide. Zu dem belegten Sachsens Schüler bei den Pisa-Test regelmäßig vordere Plätze in Mathematik und Naturwissenschaften. Sachsen wurde der Streber, der ostdeutsche Klassenprimus.
Das tat der Seele vieler Sachsen gut. Endlich wieder vorne, endlich nicht nur verlacht wegen des ulkigen Dialekts. Die Sachsen waren Biedenkopf dankbar, zweimal wurde er mit Adenauer-Ergebnissen wiedergewählt. Und sie akzeptierten bereitwillig jene Marotten, die sich bei Regierenden mitunter flugs ausprägen, wenn sie unangefochten herrschen dürfen: Den Missbrauch des Amtes, um Freunde und Verwandte den ein oder anderen Vorteil und das ein oder andere gute Geschäfts zu ermöglichen, selbst wenn der sächsische Steuerzahler dafür kräftig zahlen muss. Oder das Missverständnis, ein demokratisches Amt auf Zeit sei mit quasi monarchischen Privilegien verbunden.
In Sachsen blieb die vorherrschende Partizipationsform das Lamento, die Klage über die da oben.
In der Biedenkopf-Ära wurde vieles gefördert, nur eines nicht: der kritische, partizipationsfähige Bürger. Die Kultuspolitik vernachlässigte in den Schulen die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Kultur war dann förderwürdig, wenn sie als Imageträger für den Wirtschaftsstandort Sachsen taugte. Kritisches, bürgerschaftliches Engagement, etwa gegen Neonazis wurde kaum unterstützt, mitunter sogar kriminalisiert.
Biedenkopfs Muster-Bürger sollten wählen gehen, sich vielleicht ehrenamtlich in Vereinen engagieren, sich aktiv am Aufbau von Sachsens Wirtschaft beteiligen und sonst die Politik Biedenkopf und der CDU überlassen. Und wenn sie etwas zu kritisieren haben, sich vertrauensvoll an Ehefrau Ingrid wenden. Der Ministerpräsidenten-Gattin richtete die Landesregierung ein eigenes Bürgerbüro in der Staatskanzlei ein. Dort wurden Eingaben beantwortet, wie in der DDR von der SED-Bezirksleitung.
Und wie in DDR-Zeiten blieb denn auch im Sachsen des neue geeinten Deutschlands die vorherrschende Partizipationsform das Lamento, die Klage über die da oben, die ja ohnehin machen was sie wollen. Für Rechtspopulisten sollte das ein idealer Nährboden sein.
Der Beitrag erschien in veränderter Fassung im Sammelband „Unter Sachsen – zwischen Wut und Willkommen“, herausgegeben von Matthias Meisner und Heike Kleffner im Verlag Ch.Links.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.