Deutschland braucht eine neue Ostpolitik

Mehr Verant­wortung für Europa statt Nabel­schau und natio­naler Egoismus: Eine neue Ostpo­litik sollte die Verbün­deten und nicht den Kreml an die erste Stelle setzen, schreiben Edward Lucas vom Center for European Policy Analysis (CEPA) und Žygimantas Pavilionis, Mitglied des Auswär­tigen Ausschusses des litaui­schen Parla­ments. Ihr Text hält uns einen Spiegel vor, der nicht allen gefallen wird.

Sollte das mächtigste und wirtschaftlich stärkste Land Europas sich aktiv bemühen, die Probleme des Konti­nents zu lösen? Den Deutschen schaudert es bei diesem Gedanken. Das letzte Mal, als wir versuchten, die Führung zu übernehmen, endete das schrecklich, sagen sie mit der ihnen eigenen Mischung aus Selbst­ge­rech­tigkeit und Selbstgefälligkeit.

In den Nachkriegs­jahr­zenten bestand die Rolle der westdeut­schen Politik darin, Reue zu zeigen, großzügig, folgsam und geduldig zu sein. Gemeinsam mit Frank­reich gestaltete die Bundes­re­publik das westliche Europa. Aber von eigenen Wegen in der Außen­po­litik wurde abgeraten. Die große Ausnahme war die „Ostpo­litik“, die aus überaus vorsich­tigen Schritten bestand, mit deren Hilfe der sowje­tische Zugriff auf Osteuropa geschwächte werden sollte.

Heute verlangen überall auf dem Kontinent drängende Fragen nach Antworten der Entschei­dungs­träger in Berlin. Was die Führung in Europa angeht, ist Frank­reich zwar schwächer als Deutschland, aber wesentlich ambitio­nierter. Präsident Emmanuel Macron will die Eurozone in etwas wie ein Land verwandeln, das eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanz­po­litik verfolgt. Frank­reich würde dabei auch eine deutsche Führung akzep­tieren, solange Deutschland die Kosten trägt. Deutschland hat seit den Wahlen im September immer noch keine Regierung – und keine Antwort.

Die Deutschen schmähen die Adminis­tration von Donald Trump, sind aber unwillig, die entspre­chenden Konse­quenzen zu ziehen. Europa – stärker und reicher als die Verei­nigten Staaten – sollte beginnen, sich um seine eigene Vertei­digung zu kümmern. Aber zu welchen Kosten und unter wessen Führung?

Deutsche Politiker sind nicht bereit, ihren Wählern zu erklären, dass europäische Sicherheit in der Praxis bedeutet, sich mit der fremden­feind­lichen Klepto­kratie in Russland ausein­an­der­zu­setzen, die im Ausland Konflikte anzettelt, um von Stagnation und Versagen im Innern abzulenken. Die deutsche Öffent­lichkeit verab­scheut den Gedanken an eine Konfron­tation mit Kreml, obwohl reichlich Hinweise auf Attacken gegen unser politi­sches System vorliegen, einschließlich Bestechung, Cyber-Attacken, Spionage und Unter­wan­derung sowohl der extremen Linken als auch der extremen Rechten.

Ebenfalls auf der Liste drängender Fragen steht eine gemeinsame europäische Strategie zur Terro­rismus-Bekämpfung. Das bedeutet, heilige Kühe der Deutsche zu schlachten, wenn es um die Frage der Daten­über­mittlung und ‑speicherung geht. Zudem fehlt eine angemessene europäische Migra­ti­ons­po­litik. Auch schreckt Deutschland davor zurück, dem Autori­ta­rismus in Polen und Ungarn entge­gen­zu­treten. Und es ringt mit sich, eine klare Position zum Brexit einzunehmen.

Bisher ist der politische Still­stand in Berlin die Entschul­digung für diese Nicht-Politik. Die Koali­ti­ons­ge­spräche wurden im Januar neu aufge­nommen. Sie verdeut­lichen das Vakuum im Herzen Europas. Angela Merkel, einst unbesiegbar, ist ernsthaft geschwächt. Selbst wenn sie eine neue Regierung zustande bringt, wird sie eine Kanzlerin auf Abruf werden. In der Zwischenzeit schaut der Rest Europas zu und wartet auf Berlin.

Die politische Elite in Deutschland hat das Problem teilweise begriffen. Sigmar Gabriel, Außen­mi­nister und Schwer­ge­wicht der Sozial­de­mo­kratie, spricht gern darüber, wie Donald Trumps „America First“-Politik die Welt zu einem gefähr­li­cheren Ort werden lässt. Er und seine liberal gesinnten Kontra­henten übersehen aller­dings, dass sie keineswegs eine weniger selbst­be­züg­liche Politik verfolgen. Während der ameri­ka­nische Präsident seine Außen­po­litik in bombas­tische Phrasen hüllt, verfolgen die Politiker in Berlin ebenfalls eine „Germany First“-Politik, die sich  in Schein­hei­ligkeit kleidet. Wenn es um Russland, China oder den Iran geht, ist es deutscher Instinkt, das große Geschäft an erste Stelle zu setzen und die Verbün­deten an die zweite.

Ein eindrück­liches Beispiel ist die geplante Nord Stream 2‑Pipeline durch die Ostsee, die russi­sches Gas nach Deutschland bringen wird, wobei osteu­ro­päische Freunde und Verbündete wie die Ukraine und Polen umgangen werden. Das Projekt ist eindeutig ein politi­sches: das Ziel ist, Russlands Rolle als Haupt­en­er­gie­lie­ferant für Deutschland festzu­schreiben und die Transit­länder auszu­schalten. Dennoch bestehen deutsche Politiker darauf, dass das Projekt rein wirtschlichen Charakter habe. Kritikern werfen sie ungehalten vor, das angeblich neutrale Geschäft inter­na­tio­naler Gaslie­fe­rungen zu „politi­sieren“.

Mein Freund Jamie Kirchick machte kürzlich darauf aufmerksam, was Deutschland hier tut. Es verfolgt rücksichtslos seine natio­nalen Interesse – nämlich billiges Gas – , während die europäi­schen Überle­gungen für eine Diver­si­fi­zierung der Energie­ver­sorgung ignoriert werden. Das ist die Fortführung einer natio­na­lis­ti­schen, unila­te­ralen Politik, die in die Sprache von Zurück­haltung und Nicht­ein­mi­schung hübsch einge­packt wird.

Deutsche Nabel­schau gepaart mit der überwäl­ti­genden Wirtschafts­macht des Landes ist eine gefähr­liche Kombi­nation. Entschei­dungen zu vermeiden ist selbst schon eine Entscheidung – und kann die Dinge sehr schnell verschlimmern. Um es kurz zu machen, Europas mächtigstes Land expor­tiert Instabilität.

Die osteu­ro­päi­schen Länder sind zunehmend über die deutsche Unver­ant­wort­lichkeit besorgt. Kürzlich verbrachte ich mit einer litaui­schen Delegation eine Woche in Berlin, um die deutsche Öffent­lichkeit wachzu­rütteln. Unser effek­tivstes Argument war nicht die trans­at­lan­tische Solida­rität (die in der Trump-Ära nur schwer verkäuflich ist), sondern ein Appell an die deutsche histo­rische Verantwortung.

Ja, Deutschland fühlt sich schuldig gegenüber Russland wegen der Traumata des Zweiten Weltkriegs. Aber, so argumen­tierten wir, Deutschland sollte noch größere Verant­wortung gegenüber den Ländern in Ost- und Mittel­europa empfinden, die durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 dem großen Schlachten ausge­liefert wurden. Es waren diese Länder, nicht in erster Linie Russland, wo der Holocaust verübt wurde. Und es waren diese ehemals rechts­staatlich regierten, fried­lichen und unabhän­gigen Staaten, die auf diese Weise nach 1945 zu gefan­genen Nationen des Sowjet­im­pe­riums wurden. Es wäre abson­derlich, wenn Deutschland sich erneut auf Kosten dieser Zwischen­länder mit dem Kreml zusammen täte – umso mehr, da diese inzwi­schen in wirtschaft­licher Hinsicht erheblich wichtiger sind als Russland. Polen allein ist als Handels­partner doppelt so groß wie Russland.

Wir appel­lierten auch an das deutsche Eigen­in­teresse. Die östlichen Verbün­deten Deutsch­lands sollten nicht nur als Empfänger von Sicherheit angesehen werden, sondern auch als deren Liefe­ranten. Ukrai­nische Aktivis­ten­gruppen sind Spitze, wenn es darum geht, russische Desin­for­mation zu entlarven. Lettlands NATO-Zentrum, das sich mit strate­gi­scher Kommu­ni­kation befasst, hat Fähig­keiten, die sogar den Verei­nigten Staaten fehlen. Estlands Sicher­heits­kultur, insbe­sondere die Fähigkeit, Zivilisten in die natio­nalen Sicher­heits­struk­turen zu integrieren, wird weithin beneidet. Litauen bereitete den Weg für die Abkopplung vom korrupten, ausbeu­te­ri­schen Gas-Export­modell Russlands und baute ein schwim­mendes Terminal, um Flüssiggas (LNG) zu impor­tieren. Vieles davon war für unsere deutschen Gastgeber neu.

Ein Sinnes­wandel in diesen Fragen sollte möglich sein. Aller­dings besteht in der deutschen Linken ein großer blinder Fleck. Sie verur­teilt eifrig  den (westlichen) Imperia­lismus und andere Gemein­heiten, scheint aber nicht zu bemerken, dass ein echtes Imperium in der östlichen Nachbar­schaft eifrig den hegemo­nialen Zugriff auf die ehema­ligen Kolonien wieder­her­stellt. Sollte irgendein westliches Land seine einstigen kolonialen Subjekte in einer Weise behandeln, wie Russland dies mit der Ukraine tut – die deutsche fortschritt­liche Öffent­lichkeit wäre in Aufruhr. Man sollte auch erwarten, dass die deutsche liberale Öffent­lichkeit verab­scheut, wie das Putin-Regime in Russland wie außerhalb Schwu­lenhass, Sektie­rertum und ethno­na­tio­na­lis­tische Stimmungen schürt.

Eine neue Ostpo­litik, die Solida­rität und Verant­wortung gegenüber Freunden und Verbün­deten betont, ist dringend nötig. Aber für zu viele Deutsche scheint es wesentlich einfacher, die Übel in Trumps Amerika zu geißeln.

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